Portrait über Ex-Minister

Wie das Nachtretenmagazin „Spiegel“ verzweifelt in Peter Altmaiers Privatleben wühlt

„Wenn ich Peter Altmaier treffe, isst er sehr viel und sehr schnell. Viel Eis, viel Pasta, viel Kuchen. Er wirkt auch danach noch hungrig.“

Ich würde lieber darauf verzichten, Sätze wie diesen zu zitieren, muss es jedoch tun. Sie stehen in einem Portrait des „Spiegel“ über Peter Altmaier. „Wie der Politpensionär Peter Altmaier verzweifelt nach einer neuen Rolle sucht“, steht über der Online-Version des von Miguel Helm geschriebenen Portraits. Das Textversprechen:

„Er war jahrzehntelang einer der mächtigsten Politiker des Landes und enger Merkel-Vertrauter. Nun kämpft Altmaier gegen einen leeren Terminkalender und die Schnecken in seinem Garten. Wie geht es ihm?“

Dieses Versprechen wird nicht eingelöst. Darum, wie es Altmaier geht, geht es im „Spiegel“-Artikel wenig. Man könnte sogar sagen: Der „Spiegel“ ignoriert, wie es Peter Altmaier nach der Lektüre dieses Textes gehen könnte.

Denn anstatt sich mit Altmaier als Figur der Zeitgeschichte kritisch zu befassen, soll der frühere Bundesminister (CDU) in diesem Text allem Anschein nach lächerlich gemacht werden. Es ist eine empathielose Zurschaustellung. Eine, die zeigt, wie der „Spiegel“-Autor und Journalistenschüler Miguel Helm sich selbst findet, vielleicht auch sich selbstfindet, während er beobachtet und aufschreibt, womit man Altmaier verletzen könnte. Was dabei herausgekommen ist: ein Nachtreten unter der Gürtellinie.

Portrait über Peter Altmaier im gedruckten "Spiegel"
Andere Überschrift, viel Raum: Sechs Seiten umfasst das Portrait im gedruckten „Spiegel“. Ausriss: „Der Spiegel“

Der gesamte Text lässt keinen Raum für positive Lesarten, weil alles, das Altmaier tut oder nicht tut, sagt oder nicht sagt, so aufgeschrieben wird, dass es negativ wirkt. Etwa:

„Er sitzt breitbeinig im Fahrersessel, eine Hand am Steuer, die andere auf dem Schoß. Er stiert auf die Straße und erwartet meine Fragen.“

Man muss davon ausgehen, dass es auch dem Journalisten Helm recht sein dürfte, dass Altmaier auf die Straße „stiert“, während er mit ihm gemeinsam „738 Kilometer durch das Land“ fährt, „das er vor Kurzem noch mit der Kanzlerin regierte“. Ein Großteil des Portraits zehrt jedenfalls von dieser Fahrt. Der „Spiegel“-Reporter hangelt sich an den Autobahn-Kilometern entlang durch seinen Text.

Gute Protagonistenwahl, schlechter Stil

Es gibt gute Gründe, sich mehr als ein Jahr nach Ende seiner 27 Jahre im Bundestag ausführlich mit Peter Altmaier zu beschäftigen. Man könnte sich trefflich, auch mit ihm gemeinsam, mit seinem Wirken in der Vergangenheit und dessen Auswirkungen auf die Gegenwart auseinandersetzen. Mit seiner Verantwortung, energiepolitisch etwa, wegen seines Engagements für Nord Stream 2. Schließlich war er eine der wichtigsten Personen in Angela Merkels Amtszeit. Seine Posten: Bundesumweltminister, Kanzleramtschef, übergangsweise Finanzminister, zuletzt Bundeswirtschaftsminister.

Altmaier sagt auf Helms Frage, mit wem er in diesem Sommer am meisten Zeit verbracht habe: „Unter anderem mit Ihnen.“ Über längere Zeit unterwegs sein mit einem ehemaligen Mitglied der Regierung, das kennt man vom „Spiegel“. Angela Merkel war kürzlich ebenfalls Gegenstand eines „Spiegel“-Portraits. Der Text von Alexander Osang ist aber das Gegenteil des Altmaier-Portraits: Es ist eine in offenbar tiefsinnigen Gesprächen entstandene, vielleicht sogar auf verklärende Art positive Verhandlung von Merkels Erbe, ihrer Verantwortung für Gegenwärtiges, ihrer Aussicht auf die Zukunft. All das muss Helm bei der Lektüre übersehen haben. Ihn interessiert:

„Was Angela Merkel macht, wissen wir. Sie schaut ‚The Crown‘. Sie hört ‚Macbeth‘ beim Spazierengehen. Sie geht mit Barack Obama ins Museum. Was die Menschen machen, die sich jahrelang um sie scharten, ihre Vertrauten, wissen wenige. Ihr Absturz ist in ge­wisser Weise brutaler, weil sie auch nach dem Abschied aus der Politik hinter ihrer Chefin verschwinden, hinter ei­ner übergroßen Figur der Zeitgeschichte. Wie lebt es sich da im Schatten?“

Ein eher zaghafter „Kampf“

Die Passage illustriert nicht nur Helms Fixierung auf Privates und Nebensächlichkeiten, sondern auch die Kernthese des Altmaier-Portraits: Er ertrage es nicht, nichts mehr zu sein. Einer solchen These zu folgen, ist legitim, auch wenn der Protagonist anderes von sich behauptet:

„Altmaier sagt auf unserer Autofahrt, er mache sich keine Gedanken, was von ihm bleiben wird. An bedeutende Kanzler wie Angela Merkel werde man sich erinnern, sagt er. Minister wie ihn werde man vergessen.“

Journalistisch unsauber ist es allerdings, mit keiner Silbe im Text zu erwähnen: dass Altmaier mit 63 Jahren selbstbestimmt und nach eigener Aussage bei „Bild“-TV mit „befreiender Wirkung“ aus dem Bundestag ausgeschieden ist. Nach der Bundestagswahl 2021 hatten er und Annegret Kramp-Karrenbauer mit dem Ziel, „einen Generationenwechsel herbeizuführen“, auf ihre Mandate verzichtet. Der „Spiegel“-Text würdigt diese Tatsache nicht. Er ignoriert sie vollkommen. Stattdessen wird dort so getan, als sei Altmaier überrumpelt zum „Politpensionär“ geworden.

Dass Altmaier mit dem Ende seiner politischen Laufbahn nicht klarkäme, macht der „Spiegel“ unter anderem an ein paar Terminen fest. Altmaier habe in einer Mail an Helm geschrieben, dass er auf „öffentlichkeitswirk­same Aussagen und Gesten“ mit „Ausnahmen“ verzichten wolle. Helm glaubt ihm das offenbar nicht. Er schreibt: „Peter Altmaier kämpft gegen einen leeren Terminkalender“. Und listet auf:

„Am 13. April äußerte er sich in der ‚Bild‘-Zeitung, am 9. Juni in der Sendung ‚Markus Lanz‘, am 25. Juni im SPIEGEL, am 11. Juli im ‚Handelsblatt‘, am 13. Juli in einem Podcast des ‚Hamburger Abendblatts‘, am 15. August bei der ‚Tagesschau‘. Am 22. Juli erschien ein Gastbeitrag von ihm in der ‚Wirtschaftswoche‘, am 5. August ein großes Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.“

Acht Interviews in vier Monaten. Altmaier scheint seinen rastlosen Kampf gegen einen leeren Terminkalender nur sehr zaghaft zu führen. Da wirkt eine weitere Textpassage mutwillig konstruiert, wenn Helm über Altmaier schreibt:

„Er dränge nicht in die Öffentlichkeit. Dieser Text sei meine Idee gewesen, nicht seine.“

Ein Autor, der das „Ich“ in seinem Text sehr stark nutzt, seine eigene Rolle verhandelt, sich aber an dieser Stelle zurücknimmt, anstatt Fakten zu schaffen? Wird mit der indirekten Reden insinuiert, es könnte auch anders gewesen sein? Bemerkenswert, dass solche Passagen ein Redigat überstehen.

Worum es bei den acht aufgelisteten Interviews im Einzelnen ging, ob es nicht auch die moralische Verpflichtung eines ehemaligen Bundesministers und etwa direkten Amtsvorgängers von Robert Habeck dazu gibt, Rede und Antwort zu stehen – das scheint Helm und dem „Spiegel“ egal zu sein. Jedenfalls wird es nicht ausgeführt in einem Text, der sich für vieles sehr viel Raum nimmt, selbst wenn es nichts zu erzählen gibt.

Ausgerechnet der „Spiegel“

Etwa, weil Altmaier nicht über Dinge sprechen möchte, die seine Privatsphäre berühren. Zum Beispiel seine Sexualität:

„Und er sagt: ‚Sie schreiben ja keinen Artikel über meine sexuelle Identität.‘ Er habe vor zehn Jahren alles dazu gesagt. Seither gebe es nichts Neues. Doch wenn ich ihm eine Frage zu seinem Privatleben stelle, sagt er nicht, das geht Sie nichts an, hören Sie auf, ich beende jetzt das Gespräch. Er erzählt mir von kuscheligen Erdmännchen und von einsamen Wölfen. Auch um Sex geht es, ganz allgemein, ich darf wenig davon zitieren, das untersagt er mir später.“

Ja, warum wohl? Weil es die Öffentlichkeit nichts angeht.

Altmaier hat aktuell weder der Öffentlichkeit noch dem „Spiegel“ Anlass dazu gegeben, sich mit seinem Privatleben zu beschäftigen. Es wieder und wieder im Text und offenbar auch in Helms Gesprächen mit Altmaier hervorzuholen, ist unanständig.

Man sollte meinen, der „Spiegel“ habe sich an just diesem Thema die Hände schon einmal verbrannt. Aber auch diesen Umstand macht Helm sich zueigen.

„Altmaier war immer ledig, er hat keine Kinder. Weihnachten verbrachte er die vergangenen Jahre immer allein in seiner Berliner Wohnung. ‚Ich hatte eigentlich nie ein Privatleben‘, sagte er einmal dem SPIEGEL. Es klang, als hätte er ein Zölibat für die Politik abgelegt. Die Öffentlichkeit, sagt ein Weggefährte, sei seine Ersatzpartnerin: Sie habe ihm die Aufmerksamkeit und Zuwendung geschenkt, die er brauchte.“

Der hier angesprochene „Spiegel“-Artikel aus dem Jahr 2012 von Markus Feldenkirchen ist in Helms Portrait verlinkt. Auch der ließ es sich damals nicht nehmen, den angeblichen Essgewohnheiten Altmaiers, seinem Äußeren und seinem Privatleben inklusive Rundgang durch die Wohnung des damaligen Ministers ganze Passagen zu widmen. Feldenkirchen floskelte damals: „Altmaiers Geliebte wurde die Politik” und schrieb Dinge wie: „Man sitzt ihm gegenüber und fragt sich nun, woher all das kommt, die vielen Schnitzel, die riesige Wohnung, diese Maßlosigkeit?”

In einem Leserbrief zu Feldenkirchens Text aus dem Jahr 2012 kritisiert eine Leserin, er stelle Altmaier als einen „gefräßigen, harmoniesüchtigen Freak“ dar und würde dessen „private Details und persönliche Verhaltensweisen derartig ausufend und grotesk vorführen“. Ein anderer Leser schreibt:

„Mehr als beschämt fühle ich mich jedoch über die Anmaßung Ihres Autors, eine vermeintliche Deutungshoheit über persönliche Lebensmodelle zu ergreifen und das Modell von Altmaier derart respektlos bloßzustellen und damit zu bewerten.“

Das könnte auch unter Helms Text stehen.

Besondere Transparenz

Altmaier, so wirkt es, genießt nicht den Schutz, den etwa Osang Merkel gewährte. Im Gegenteil: Das gesamte Portrait wirkt, als wolle man beim „Spiegel“ noch einmal nachlegen, nachtreten. Altmaier wird dargestellt, wie es kaum einer politischen Figur im „Spiegel“ jemals ergangen sein dürfte.

Doch wieso lässt Altmaier den „Spiegel“ nach seiner Erfahrung mit Feldenkirchen wieder in seine Wohnung, warum gibt er am Ende überhaupt so viele Zitate frei? Was das betrifft: Der Text behandelt in unüblicher Weise den Autorisierungsprozess.

Über den heißt es in den nach dem Relotius-Skandal neu erarbeiteten „Spiegel“-Standards allgemein: „Autorisierungsabsprachen sind einzuhalten“. Und:

„Es gehört zu redlichem Verhalten gegenüber Gesprächspartnern, den Umgang mit ihren Zitaten im Voraus zu klären und uns an Vereinbarungen zu halten.“

Wenn Helm im konkreten Fall auf den offenbar schwierigen Prozess der Freigabe von Altmaiers Zitaten eingeht, kann man, bei aller Vorsicht, Aufschlussreiches darin lesen:

„An einem Mittwochabend im November ist Peter Altmaier aufgebracht. Ich habe ihm ein paar Stunden zuvor seine Zitate geschickt, die ich im Text veröffentlichen will. Manche sind okay. Viele will er aber gar nicht oder anders.“

Könnte das womöglich daran liegen, dass Altmaier eben doch viel mehr über Politisches reden wollte oder gar geredet hat, während der „Spiegel“-Reporter sich halt nur für Boulevardeskes interessierte? Dass Uneinigkeit über die Vereinbarungen herrschte? Helms selbstbewusster Schlussatz lautet jedenfalls mutmaßlich zutreffend:

„Wir telefonieren insgesamt noch dreimal wegen der Zitate. Viele Stunden. Am liebsten wäre es ihm jetzt, so wirkt es, dieses Porträt erschiene gar nicht.“

Griff in die Trickkiste?

Es wirkt so, als haben sich da zwei zum Ende ihrer gemeinsamen Reise persönlich nicht sonderlich gut verstanden. Helm, der in der Machtposition des urteilenden Journalisten aufgeht, lässt daran wenig Zweifel. Es findet sich mühelos ein Dutzend Passagen im Text, die das Verhältnis der beiden aus Helms Perspektive beschreiben. Er selbst wirkt dabei mitunter persönlich beleidigt.

Altmaier kommt nicht gut dabei weg, wenn er zum deutlich jüngeren Gegenüber Dinge sagt wie „Geben Sie zu: Sie wussten gar nicht, was das ist!“, während die beiden auf ein Nagetier in einem antiquarischen Buch aus Altmaiers Sammlung schauen. (Ich kannte den Taguan übrigens auch nicht.)

Helm hinterfragt auch Altmaiers Motive für die Gespräche. Das ist ein normaler Vorgang für einen Journalisten. Und natürlich kann man das auch mal in einem Text transparent machen, zumal in einem Portrait. Nur klingt das bei Helm maximal raunend: „Ich fragte mich: Warum bietet er mir das [Treffen] an? Vielleicht will der Ex-Minister etwas loswerden. Aber kennt er nicht haufenweise Journalisten, die ihn seit Jahrzehnten begleiten?“

Und steht das „er bietet mir das an“ nicht im Widerspruch zu dieser Passage?

„Ich sagte ihm, dass ich Journalistenschüler bin. Einige Wochen später mailten und telefonierten wir wieder. Ich fragte ihn, ob ich ihn für ein Porträt in seinem ersten Sommer im Ruhestand begleiten dürfte.“

An wieder anderer Stelle wirkt es so, als sei das alles Altmaiers Idee, der sich als generöser Oberlehrer aufspiele: „Er sagt, er wolle als Pensionär etwas zurückgeben. ‚Ich will meine Erfahrungen mit jungen Journalisten und Politikern, die am Anfang einer Karriere sind, teilen.‘ Ausführlich erklärt er mir, was guter Journalismus sei und was nicht. Altmaiers Journalistenschule. Er sieht diesen Text als Chance für mich.“

Ich frage mich beim Lesen solcher Stellen auch immer wieder, wie frei sich der „Spiegel“-Reporter von eigenen Empfindlichkeiten gemacht hat, wenn er Dinge schreibt wie:

„Altmaier schloss die Augen und begann zu erzählen. Er brauchte keine Fragen. Ich hätte aufstehen und das Eiscafé verlassen können, er hätte es womöglich nicht gemerkt.“

Oder:

„Hier und da fragt er mich etwas, aber meine Antwort interessiert ihn nicht wirklich. Altmaier redet und redet und redet. Immer wieder unterbricht er sich selbst und sagt: ‚Das ist jetzt aber nicht zum Zitieren.‘ Nur, um dann sofort weiterzureden.“

Oder:

„Nach neun Stunden im Auto mit Peter Altmaier ist man erschöpft. Er selbst wirkt nicht müde. Er wirkt, als würde er die gleiche Strecke noch heute zurückfahren können, erzählend, singend und dichtend.“

Vielleicht erklärt Helms Erschöpfung auch, warum das Portrait im „Spiegel“ ab etwa der zweiten Hälfte der langen Autofahrt nur noch wie ein Protokoll im Staccato heruntergeschrieben ist.

An einer Stelle greift Helm mutmaßlich tief in die Trickkiste. Er schreibt:

„Er schlägt mir neue Treffen vor, gibt mir eine Liste mit seinen Terminen in den nächsten Wochen, eine volle DIN-A4-Seite. Und eine Liste mit 19 Menschen, die mir etwas über ihn erzählen könnten.“

Das mag genauso passiert sein. So, wie Helm es aufgeschrieben hat, klingt es aber so, als wolle Altmaier die Berichterstattung eines unerfahrenen Journalistenschülers geschickt manipulieren, in dem er ihm 19 Kontakte unterschiebt, die mutmaßlich überwiegend Positives zu ihm zu sagen haben. Hat er ja schließlich selbst zusammengestellt. Nur schreibt der „Spiegel“ weder davon, ob Helm die Kontakte tatsächlich genutzt hat, noch …

… dass es Usus ist, einen Portraitierten nach einer solchen Liste zu fragen.

Ehemalige Büroleiter:innen oder Staatssekretär:innen kriegt man eben nicht so leicht ans Telefon und dazu, über den ehemaligen Chef zu sprechen. Deswegen fragt man nach Telefonnummern. Und weiß dann auch, mit wem man da spricht, genauso wie man sich von politischen Konkurrent:innen, die mutmaßlich nicht auf solchen Listen landen, Einschätzungen holen und diese gegebenfalls auch zitieren darf.

Das Portrait lässt aber völlig offen, ob Helm Altmaier vorher um eine solche Liste gebeten hat.

Konkrete Fragen, vage Antworten

Also fragen wir beim „Spiegel“ nach, bekommen aber auch Nachfrage dazu keine Antwort. Wir hatten fünf Fragen geschickt:

  • In dem Artikel finden sich diverse Beobachtungen und Beschreibungen, die die Privat- und Intimsphäre des Portraitierten berühren. Allen voran die Körperlichkeit Altmaiers betreffend, sein angebliches Essverhalten, die Frage nach seiner sexuellen Orientierung. Was beabsichtigt der „Spiegel“ damit?
  • Zu Beginn des Textes machen Sie die vereinbarten Regeln zwischen Herrn Helm und Herrn Altmaier transparent: „Keine Homestory!“ Wieso finden sich dennoch Beschreibungen wie „(…) Peter Altmaier verschüttet seinen Kaffee. Die Untertasse läuft voll. Er trinkt aus der Untertasse“ und „Er will mir seine Wohnung zeigen. Sie sieht aus wie ein Museum, Gemälde, roter Teppich im Flur, links eine weiße Tür, darauf klebt eine bedruckte DIN-A4-Seite: WC. Alles sehr aufgeräumt. Gestern war die Putzfrau da“ im Text, wenn das doch sehr offensichtlich der Vereinbarung widerspricht?
  • An einer anderen Stelle heißt es: „Er schlägt mir neue Treffen vor, gibt mir eine Liste mit seinen Terminen in den nächsten Wochen, eine volle DIN-A4-Seite. Und eine Liste mit 19 Menschen, die mir etwas über ihn erzählen könnten.“ Hat Herr Helm vorab, wie durchaus üblich, um eine entsprechende Liste gebeten?
  • Altmaier ist freiwillig aus dem Bundestag ausgeschieden. Meinen Sie nicht, dass diese Information von Bedeutung für die Leser:innen gewesen wäre? Wieso findet sich kein Hinweis darauf im Text?
  • Die Beschreibung des Autorisierungs-Prozesses spielt entgegen der Gewohnheit bei ähnlichen Formaten im „Spiegel“ eine wichtige Rolle im Text. Was beabsichtigt der „Spiegel“ damit?

Die Antwort der Unternehmenssprecherin fällt karg aus:

„Peter Altmaier hat über Jahrzehnte zu den wichtigsten und bekanntesten Politikern des Landes gehört. Im Zuge der Recherchen hat Herr Altmaier sowohl unserem Autor als auch unserem Fotografen, wie dem Text zu entnehmen ist, bewusst Einblicke gewährt. Über die Umstände der Recherche gibt der Text transparent Auskunft.“

Die sehr konkrete Frage nach der Liste wird auch auf Nachfrage an den „Spiegel“ nicht beantwortet.

Altmaier hält sich zurück

Natürlich steckt in der Antwort des „Spiegel“ ein gutes Argument: Altmaier kann noch so sehr betonen, er möchte keine „Homestory“ – einen Journalisten und einen Fotografen sollte er dann aber auch nicht in seine Wohnung lassen. Egal, ob das nun eine Gefälligkeitsgeste gegenüber einem Journalistenschüler gewesen sein mag oder nicht. Es ist, einen reichen Erfahrungsschatz im Umgang mit der Presse vorausgesetzt, unklug und inkonsequent von Altmaier. Rechtfertigt aber längst nicht, ihn mit Beschreibungen wie dieser der Lächerlichkeit preiszugeben:

„Wir setzen uns, und Peter Altmaier verschüttet seinen Kaffee. Die Untertasse läuft voll. Er trinkt aus der Untertasse.“

Doch der „Spiegel“-Voyeurismus siegt.

Die Antwort der Pressestelle ist aber auch entlarvend. So wird die Relevanz von Altmaiers Privats- und Intimsphäre gerade im Hinblick auf seine Tätigkeit als Politiker eben nicht klar. Die „transparente Auskunft“ über die Umstände der Recherche im Text zeigt uns sogar, dass es genügend Anlass gab, die Berichterstattung vor Veröffentlichung zu überdenken.

Helm zitiert an einer Stelle im Text den einstigen „Spiegel“-Journalisten Jürgen Leinemann. Der habe „einmal geschrieben, dass Spitzenpolitiker sich gegen Verletzungen wappnen müssen“. Doch da missversteht er etwas.

Das bedeutet nämlich nicht, dass man mit seinem Protagonisten umspringen kann, wie man möchte.

Altmaier selbst hält sich zurück. Er sagt auf Übermedien-Anfrage:

„Ich äußere mich dazu ganz grundsätzlich nicht. Ich bin ja der Gegenstand der Diskussion und ich denke, der Respekt vor der Pressefreiheit gebietet es auch, da nicht dazwischenzufunken.“

Man wünschte sich, auch der „Spiegel” würde Altmaier das gebotene Maß an Respekt erweisen.

12 Kommentare

  1. Wenn der Satz mit dem verschütteten Kaffee so er Lächerlichkeit preisgebend ist, sollte man ihn vielleicht nicht unbedingt zwei mal kurz nacheinander zitieren? Nur so ein Gedanke.

    Ansonsten vielen Dank für diesen sehr interessanten Beitrag!

  2. Danke für diese tiefsinnige Kommentierung eines über weite Passagen nur schwer erträglichen und in den übrigen schlicht überflüssigen Textes!

  3. Eine ganz unpolitische Homestory über einen so hohen Bundespolitiker ist schon suspekt. Altmaier hat die Energiewende gebremst und maßgeblichen Anteil daran, dass der Ausbau von Wind und Solar in Deutschland stockt, und gerade nach seinem Ausstieg aus der Bundespolitik wäre doch eine Gelegenheit, ihn sich möglicherweise freier erklären zu lassen. Aber ihn dann noch so boulevardesk zum Opfer zu machen… Ich will kein Mitleid mit ihm haben.

  4. Direkt „Mitleid“ habe ich nicht, aber irgendwie ist mir Altmaier jetzt schon sympathisch.

    Die Untertasse ist sowas wie die Löcher in Habecks Socken:
    „Schaut mich an, liebe Leserschaft, ich bin so nah am Politiker, dass ich sogar solche Dinge sehe!“
    Oder, mit Heinz Sielmanns Stimme: „Es halt lange gebraucht, bis es sich an das Surren der Kamera gewöhnt hat.“

    Das mit der Liste finde ich am dreistesten – selbst, wenn der Journalistenschüler nicht fragt, rechnet Altemaier bestimmt mit der Frage und hat die Liste natürlich schon parat. Und gibt sie dem Berufsanfänger, selbst wenn der vergisst zu fragen…

  5. Deiner Meinung (erwizk).
    Guter und scharfsinniger Artikel, dafür mag ich Übermedien.
    Aber:
    Der Mann war für mich immer das hässliche Gesicht der Wirtschaft (nicht wegen seiner Narbe), hinterlässt einen bürokratischen Trümmerhaufen im Umweltbereich und hat es nicht verdient, vergessen zu werden. Auch wenn die „Spiegel-Homestory“ ihn schlecht aussehen lässt. No mercy. Vielleicht hat der Autor auch eine innere Abscheu (wie ich) aufgrund der politischen Leistungen Altmaiers, die heute vieles so schwierig machen. Er hat keine Kinder, da kann es ihm Wurst(sic!) sein. Und er ist nicht gezwungen worden, den Spiegel mit ins Auto zu nehmen.
    Sorry für meinen Gefühlsausbruch, ist eigentlich nicht meine Art.

  6. Der Text von Herrn Helm ist nicht einfach nur misslungen, sondern er zeigt, dass es dem Autor an grundlegenden ethischen Maßstäben fehlt. Auf diese Art und Weise zieht man einen Menschen nicht durch den Dreck. Die (vermeintliche) Pointe rechtfertigt nicht alles.
    Versagt aber hat auch jemand in der Chefredaktion des Spiegel, denn einen Text dieser Art dürfte man nicht durchgehen lassen.

  7. Ich habe den Spiegel Artikel nicht auf diese Weise wahr genommen, und auch die Zitate finde ich größtenteils harmlos. Ich empfinde eher Respekt für den jungen Autor, dass er auch nach stundenlanger Rücksprache mit den viel erfahrenerem Politker bei seiner Version des Artikels bleibt. Pech für Altmeier, damit muss man als Person den öffentlichen Lebens eben klarkommen. Alles andere wäre PR und kein Journalismus

  8. Ich durfte Peter Altmeier auch mal ganz kurz persönlich interviewen – also konnte ich ihn empathisch erleben. Da lese ich dieses Portrait schon mal ganz anders. Gewiss kein großer Erkenntnisgewinn, gerade weil auch so viel Zeit in diesen Text investiert wurde. Dennoch lesenswert. Bei aller berechtigten Kritik an Altmeier, er bleibt nahbar, sonst hätte er dieses Portrait nicht zugelassen. Er gibt den Blick frei auf die menschlichen, manchmal banalen Wirklichkeiten hinter dem gnadenlosen Poltikbetrieb. Also danke für das Portrait aber auch danke für die gute, konstruktive Kritik daran. Beides ist sinn- und wertvoll.

  9. Danke. Es ist ein scheußliches Portrait über einen Mann, der das nicht verdient hat. Und das sage ich, obwohl ich kein Fan von Peter Altmaier bin oder war.

  10. Verstörende Passagen, die mich nicht anregen, den ganzen Text zu lesen. Die Kritik muss sich aber an die Redaktion richten, die das in dieser Form hat durchgehen lassen – oder den jungen Kollegen womöglich noch in dieser Arbeitsweise bestärkt hat. Zu dickes Lob am Anfang der Karriere, wie es bei kress zu lesen war, kann jedenfalls kontraproduktiv sein:

    „Miguel Helm, 26, Freier Autor, Schüler (Henri-Nannen-Schule) @miguelhelm

    Er ist noch in der Ausbildung, aber schon jetzt zählt ihn ein Mentor „mit seinem weitgehend deskriptiven Schreibstil zu den besten Reportern seiner Generation“. Sein bevorzugtes Genre sind Kriminalfälle. Es geht um Habgier, um Rache, um Mord.“

    https://kress.de/news/detail/beitrag/149700-die-top-talente-des-jahres-2022-im-deutschen-journalismus.html

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