„Tagesthemen“-Kommentar zum Bürgergeld

Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit einem wirklich vermeidbaren Fehler

Screenshot: ARD Mediathek

Das Ringen um das sogenannte Bürgergeld hat politisch ein vorläufiges Ende genommen: Die Parteien der Ampel-Regierung haben sich mit der Union auf einen Kompromiss verständigt. Den kann man, wenn man will, als einen Erfolg von CDU und CSU werten, selbst dann, wenn man den kompletten Verzicht einer „Vertrauenszeit“ für falsch hält – oder auch, dass das geplante Schonvermögen von 60.000 auf 40.000 Euro abgesenkt wird.

Was man aber nicht machen sollte: Auf der Grundlage einer falschen Rechnung behaupten, wie wichtig und richtig dieser Einsatz der Union gewesen sei. Vor allem nicht als Journalist. Und schon gar nicht in den „Tagesthemen“. Und erst recht nicht, wenn einem schon Tage vorher erklärt wurde, dass die Rechnung falsch ist.

Und damit zu Achim Wendler, Leiter der Redaktion Landespolitik beim Bayerischen Rundfunk (BR). Der hat gestern in den „Tagesthemen“ das Bürgergeld kommentiert. Über die ursprünglichen Pläne der Ampel sagte er:

„Das hätte zum Beispiel bedeutet: Wer mit knapp 900 Euro brutto monatlich nach Hause geht, finanziert mit seiner Einkommensteuer das Bürgergeld für Leute, die 60.000 Euro auf dem Konto haben. Diese Ungerechtigkeit bleibt uns nun erspart.“

Richtig: Dazu kommt es jetzt nicht. Dazu wäre es aber auch andernfalls nicht gekommen. Menschen, die „knapp 900 Euro brutto“ verdienen, hätten das Bürgergeld nicht mit ihrer Einkommensteuer mitfinanziert, weil sie in aller Regel gar keine Einkommensteuern zahlen.

Freibetrags-Grundlagenwissen für Profis

Wendler nimmt offenbar an, dass man mit „900 Euro brutto monatlich“ Einkommensteuer zahlt, weil, naja, zwölf mal 900 Euro halt 10.800 Euro sind und der Grundfreibetrag doch mit 10.347 Euro darunter liegt. Er igoriert dabei aber die absetzbaren Sozialversicherungsbeiträge und die Werbungskostenpauschale. Erst ab circa 15.000 Euro brutto im Jahr (Steuerklasse 1) zahlt man also Einkommensteuer.

Natürlich sollte man nicht darauf wetten (erst recht nicht mit dem Wetteinsatz, den Fabio De Masi anbietet), dass niemand, der für sich genommen 900 Euro verdient, Einkommensteuer zahlt. In Steuerklasse 5 wäre das der Fall – aber in der ist man ja nur, wenn man verheiratet ist mit jemandem, der in Steuerklasse 3 Einnahmen ebenfalls versteuert. Und Steuerklasse 6 für Nebeneinkünfte kann Wendlers Rechnung auch nicht retten, wenn er die einzigen Einkünfte meint, mit denen jemand „brutto monatlich nach Hause geht“.

Das hätte Wendler nicht nur wissen müssen oder recherchieren können, wenn er sich berufen fühlt, das Thema zu kommentieren – er wurde auch mehrfach und Tage vor der Sendung darauf hingewiesen. Denn am 18. November hatte der promovierte Politikwissenschaftler und Diplom-Journalist seine Behauptung schon einmal auf Twitter verbreitet …

und wurde vielfach auf den Fehler hingewiesen.

Aber hej, vox populi, vox Rindvieh, ab in die „Tagesthemen“, neue Runde, neues Glück, wieder gibt es etliche Hinweise.

Es ist schwer zu begreifen, wie ein solcher Fehler es tatsächlich in ein Flaggschiff der öffentlich-rechtlichen Informationsangebote schaffen konnte. Wir haben das einfach mal die Verantwortlichen von ARD-aktuell gefragt und wollten auch wissen, wie der redaktionelle Ablauf ist: Werden Meinungs-Beiträge für die „Tagesthemen“ von den „Tagesthemen“ geprüft? Die Antwort:

„Die inhaltliche redaktionelle Verantwortung für ‚Tagesthemen‘-Kommentare liegt bei den einzelnen Landesrundfunkanstalten, in diesem Fall dem BR.“

Erstaunlich, dass da bei den „Tagesthemen“ offenbar niemand selbst für einen Faktencheck zuständig sein soll.

Also haben wir beim offenbar alleine verantwortlichen BR nachgefragt, und bekamen von dort ein Statement von Achim Wendler selbst:

„Richtig ist, dass ab dem ersten Euro über dem Grundfreibetrag Steuern fällig werden. Dies war Grundlage meiner Argumentation. Leider war das konkrete Beispiel ungeeignet, weil in der Praxis aufgrund von Abzügen und Sozialabgaben kaum jemand mit diesem Einkommen tatsächlich Steuern zahlt. Das bedauere ich. An meiner Kritik halte ich aber fest: Laut den ursprünglichen Ampel-Plänen hätten Menschen mit einem sehr geringen Einkommen mit ihren Steuern Empfänger von Bürgergeld mit 60.000 Euro Kontoguthaben unterstützt. Das hielt ich für ungerecht und begrüße deshalb in meinem Kommentar die Korrektur der Bürgergeld-Pläne.

Wie üblich, wurde dieser Kommentar im BR nach dem Vier-Augen-Prinzip geprüft. Dabei wurde auch das Lohnbeispiel kritisch diskutiert. Ich habe bewusst daran festgehalten: Mir ging es darum, eine systematische Ungerechtigkeit aufzuzeigen, die mittels der Freibetragsgrenze definiert wird.“

Wendler hat also bewusst an seinem Beispiel festgehalten. Und auch die „Tagesthemen“ taten sich schwer, mit dem Fehler umzugehen. Zunächst wurde die Sendung vom Dienstagabend kommentarlos offline genommen. Auf unsere Nachfrage hieß es am Nachmittag aus der Redaktion:

„Mögliche Änderungen werden von der ARD-aktuell Redaktion transparent kommuniziert und gekennzeichnet.“

Am späten Nachmittag erschien die Sendung dann wieder in der Mediathek – ohne Wendlers Kommentar, dafür mit einem schwammigen Hinweis am Ende des Info-Textes:

„Die Sendung wurde nachträglich redaktionell korrigiert. Die Meinung führte aufgrund einer inhaltlichen Ungenauigkeit zu Missverständnissen.“

„Transparent kommuniziert“ heißt also nicht, den Fehler zu korrigieren und zu erklären, wie es denn nun wirklich aussieht – sondern eine „inhaltliche Ungenauigkeit“ daraus zu machen, die, klar, zu „Missverständnissen“ geführt habe. Auf dem tagesschau.de-Blog, in dem Korrekturen sonst verschwinden erscheinen: nichts.

Auf Twitter, wo die „Tagesthemen“-Redaktion ihren einzigen originären Social-Media-Account zu betreuen hat, steht nach wie vor keine Einordnung unter dem Tweet mit Wendlers Kommentar. Gelöscht wurde er auch nicht, Reaktionen auf die vielstimmige Kritik ebenfalls nicht. Stattdessen wurde nur ein Tweet von Achim Wendler geteilt. Der hat inzwischen seinen Fehler eingestanden eine Nonpology geliefert:

Fehler passieren, aber manche sind wirklich außerordentlich vermeidbar – auch, was den Umgang mit ihnen angeht. Immerhin bleibt von alldem als Andenken dieses (inzwischen gänzlich herausgeschnittene) Video-Schmuckstück aus der Mediathek:

8 Kommentare

  1. „Du ich hab da so ’ne steile These, was meinste?“
    „Ja nu, da haben dich ja Leute schon auf Twitter drauf hingewiesen dass es Quatsch ist …“
    „Aber es liest sich so gut und die CDU loben müssen wir ja auch mal wegen Fairness und so.“
    „Solange das nicht totaler Quark ist und im Nachhinein kassiert wird …“
    „Neeeeiiin, Quatsch! Im Grunde stimmt das alles schon“
    „Ja komm, hau raus“
    *Seinfeld Outro Music*

  2. Was mich bei all den Bürgergeld-Milchmädchenrechnungen noch viel mehr interessiert: Von wieviel Prozent Sozialhilfeempfänger:innen, die 60.000 € auf der hohen Kante haben – oder 150.000 €, Familie mit zwei Kindern, wird ja auch gern genommen – sprechen wir eigentlich?

  3. @Florian Blechschmied:
    Falls Sie mit Ihrem Kommentar sowas ausdrücken wollten wie „gut, der Betrag ist jetzt nicht ganz korrekt, aber stimmt doch fast“, visualisiere ich mal den Unterschied zwischen 900€ und 1250 €:
    000000000
    000000000000o
    Oder anders: Das ist ein um über ein Drittel höherer Betrag.

  4. @Florian Blechschmid:
    Der Gedanke, dass man mit „nichtmal vierstellig“ das Bürgergeld querfinanziert, sollte vermutlich den Gerechtigkeitssinn ganz besonders triggern.
    Und da finde ich, dass gerade der Gerechtigkeitssinn doch bitte nur von den tatsächlichen Umständen getriggert werden sollte – die man selbstverständlich auch ungerecht finden darf – nicht von schlechter Recherche.

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