Das Buch von Precht und Welzer ist fast so richtig wie die Bahn pünktlich
„Es ist eine durchaus bedeutende kulturelle Veränderung, wenn auf einmal jeder Trottel alles beurteilen können soll.“
Richard David Precht und Harald Welzer in: „Die Vierte Gewalt“
Frage: „Ist es nicht manchmal besser zu schweigen, wenn man wie Sie kein Experte ist?“
Richard David Precht: „Soll das heißen, man darf sich nur noch in der Öffentlichkeit äußern, wenn man ausgewiesener Experte ist, der über ein sicheres Zukunftswissen verfügt?“
„Stern“-Interview mit Richard David Precht und Harald Welzer über: „Die Vierte Gewalt“
Fehler? Nichts Gravierendes
Am Freitag habe ich auf der Frankfurter Buchmesse mit Richard David Precht und Harald Welzer über ihr Buch „Die Vierte Gewalt“ diskutiert. Ich habe dabei kritisiert, dass es so viele Fehler enthält und wirkt, als sei es gar nicht lektoriert worden – wenn wir bei Übermedien so schlampig arbeiten würden, wären wir längst bankrott.
Welzer sagte, er hätte „gar nicht den Anspruch, ein fehlerfreies Buch zu schreiben“, und verglich das mit der Bahn, die sich zum Ziel setzte, zu 80 Prozent pünktlich zu sein. „Da würde man sich wünschen, sie wären zu 100 Prozent pünktlich, aber sie wissen, dass es bestimmte Probleme in der Realisierung dieses Zieles gibt“. Bei den Büchern, die er geschrieben habe, habe er „bei größter Akribie und ganz doller Anstrengung hinterher immer wieder feststellen müssen, es gab da Fehler drin“.
Tatsächlich ist es eine besondere Ironie dieses Buches, dass die Autoren – zurecht – von den Qualitätsmedien mehr Qualität und dabei auch „mehr Sorgfalt“ fordern, selbst aber diese Sorgfalt vermissen lassen.
Einige Beispiele dafür haben wir hier schon behandelt. Es gibt falsche Unterstellungen und strategische Auslassungen. Es fehlen Hinweise auf Interessenskonflikte, wenn das Buch den konstruktiven Journalismus von „FuturZwei“ als beispielhaft erwähnt, ohne zu erwähnen, dass Welzer daran beteiligt ist. Und es gibt immer wieder scheinbare Belege für Prechts und Welzers Thesen, die sich bei genauerem Hinsehen als unpassend entpuppen.
Ein Beispiel dafür, wie ungenau (um nicht zu sagen: unredlich) beide vorgehen, lieferte Harald Welzer am Freitag auch auf der Bühne: Er warf unserem Kolumnisten Nils Minkmar vor, das „döfste Argument, was man sich überhaupt vorstellen kann“ benutzt zu haben: Er habe gesagt, man müsse Journalist sein, um ein kritisches Buch über Journalisten schreiben zu dürfen.
Lesen Sie hier das laut Harald Welzer „döfste Argument, was man sich überhaupt vorstellen kann“ – und schauen Sie, ob das, was Welzer behauptet, überhaupt das Argument von @nminkmar ist. (Spoiler: Nein.) 👇https://t.co/oOdkxS655w pic.twitter.com/mGhWBoEWxR
— Übermedien (@uebermedien) October 21, 2022
Tatsächlich hatte Minkmar nur kritisiert, dass sie nicht mal jemanden gefragt haben, der tatsächlich eine Redaktion von innen kennt, oder sich mal einfach selbst in eine Redaktionskonferenz gesetzt haben, Recherche, sowas.
Als Ergänzung zur kontroversen Podiumsdiskussion auf der Buchmesse will ich im Folgenden fünf, wie ich finde, ziemlich gravierende Fehler im Buch dokumentieren. Dann können Sie sich eine eigene Meinung bilden.
1. Aggressive Häme gegen Briefschreiber?
Der Umgang der Leitmedien mit dem Ukraine-Krieg ist das zentrale Thema des Buches, und als erstes markantes Beispiel schildern sie die Reaktionen auf einen Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, den 28 „Intellektuelle und KünstlerInnen“ am 29. April in „Emma“ veröffentlichten. Sie plädierten darin dafür, „weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine zu liefern“.
Zu den Unterzeichnern gehört übrigens auch Harald Welzer, was Harald Welzer in seinem Buch aber nicht erwähnt.
„Obwohl der Brief kurz und ziemlich harmlos war, zog er eine Welle der Empörung und des Hasses nach“, schreiben Welzer und Precht. „Denn während binnen kurzer Zeit weitere 300.000 Bürgerinnen und Bürger den Brief unterzeichneten, überzog die Qualitätspresse von ‚taz‘ bis ‚Welt‘ die Urheberinnen und Urheber mit Angriffen und Häme von bestürzender Aggressivität.“
Wirklich?
Ja, in den Sozialen Medien waren die Reaktionen heftig. Einer der Unterzeichner, der Politologe Wolfgang Merkel, sprach im „Tagesspiegel“ von „Hass, Verzerrung, Beleidigungen und vor allem Falschzitaten“, die „die erste Reaktionswelle auf Twitter“ ausmachten. Aber in der „Qualitätspresse von ‚taz‘ bis ‚Welt‘“?
Die „taz“ berichtete über den Brief und die Reaktionen darauf am 1. Mai in einer nüchternen Nachricht. Am selben Tag kommentierte „taz“-Redakteur Klaus Hillenbrandt, dass der Offene Brief von „fehlendem historischen Verständnis“ zeuge und „Empathie für die Ukrainer vermissen“ lasse. Er stellte aber auch ausdrücklich fest, dass der Brief „ein wichtiger Debattenbeitrag zum Krieg“ sei und „eine Debatte über den Krieg und die deutsche Solidarität mit den Angegriffenen dringend notwendig“ sei – „gerade in Zeiten, in denen Umweltschützer und andere eines Expertenwissens eher unverdächtige Personen zu Spezialisten über die Funktion von Haubitzen mutieren.“
Zwei Tage später gab die „taz“ Harald Welzer die Gelegenheit, seine Position als Unterzeichner des Briefes in einem ausführlichen Interview zu erläutern.
Zwei Wochen später plädierte „taz“-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann generell für das Schreiben Offener Briefe. Das klang ironisch, doch ihr Text betonte, dass sie das ernst meinte, und nahm die Unterzeichner vor dem Vorwurf in Schutz, dass ihnen die Qualifikation fehle:
„Wenn eine Bundesregierung angesichts eines Kriegs in Europa erklärt, wir seien ‚in einer anderen Welt aufgewacht‘ und nun müssten alle bei allem umdenken, dann ist es wirklich sinnvoll, darüber auch mit Leuten ohne Expertise-Hintergrund in Panzer-, Atombomben- oder Embargo-Dingen zu diskutieren.“
Angriffe und Häme von bestürzender Qualität?
Deutlich ablehnender als die „taz“ äußerte sich die „Welt“ zu dem Offenen Brief. Peter Huth sprach in einem Leitartikel von den Unterzeichnern als einer Gruppe, die „größtenteils aus Ü65-Veteranen des Unterwerfungs-Pazifismus“ bestehe. Susanne Gaschke schrieb in einer Kolumne, „die Haltung des offenen Briefes stößt ab“ und diagnostiziert eine „erstaunliche Abwesenheit von Empathie“ und „satte, selbstgefällige Dekadenz“.
Aber zwei Wochen später lobte „Welt“-Chefkorrespondent Jacques Schuster ausdrücklich, dass dieser Brief und der von der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentliche Debatten-Beitrag von Jürgen Habermas dazu beigetragen habe, dass sich nach einer „Stimmung der geistigen Mobilmachung“ die Atmosphäre gewandelt habe – „zum Glück für die offene Gesellschaft.“ In der Online-Version trägt sein Kommentar die Überschrift: „Die Gemütslage in Deutschland erinnert an den August 1914“ – ganz im Sinne der Unterzeichner des Briefes.
Auf den Seiten von „Emma“ ist übrigens bei den einzelnen Unterzeichnern dokumentiert, in welchen Medien sie ihre Positionen darstellen konnten, Welzer zum Beispiel noch in seiner Kolumne auf Radio Eins, im Interview im NDR und Deutschlandfunk, in einem Gastbeitrag im „Spiegel“ und bei „Anne Will“.
2. Verordneter Siegesglaube?
Precht und Welzer schreiben in ihrem Buch:
„Im Juni 2022 forderten die Kommentatoren in vielen Leitmedien Politiker dazu auf, den zu diesem Zeitpunkt bereits äußerst fragwürdigen Satz zu sagen: ‚Die Ukraine wird diesen Krieg gewinnen.‘ Man kann gar nicht genug darauf hinweisen, dass der Zwang zum Bekenntnis bestimmter Meinungen ein Element des Totalitarismus ist.“
Doch die Diskussion drehte sich nicht darum, ob Politiker einen Sieg der Ukraine vorhersagen sollen, sondern ob sie ihn sich wünschen oder als Ziel ausgeben sollen. Es war aufgefallen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz immer wieder nur davon gesprochen hatte, Russland dürfe den Krieg gegen die Ukraine „nicht gewinnen“ oder die Ukraine müsse ihn „bestehen“. Im Gegensatz dazu scheute zum Beispiel Außenministerin Annalena Baerbock in der Talkshow „Markus Lanz“ nicht vor der Formulierung zurück: „Die Ukraine muss gewinnen.“
Besonders empört Precht und Welzer, dass der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht dazu aufgefordert habe, von einem „Sieg“ der Ukraine zu sprechen:
„In einem völlig verdrehten Verhältnis zu seiner Aufgabe forderte der FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht dazu auf, im Hinblick auf die Ukraine das Wort ‚Sieg‘ über die Lippen zu bringen, obgleich das Kriegsgeschehen in der Ostukraine eine solche Vorstellung idiotisch erscheinen ließ. Doch wer nicht ‚Sieg‘ bellt, so insinuierte Kaube, sei offensichtlich eine unsichere Kantonistin und als Verteidigungsministerin nicht tragbar. Wann hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jemals solch eine mediale Nötigung zum (unsinnigen) Bekenntnis gegeben? Und wird Herr Kaube sich öffentlich bei Frau Lambrecht entschuldigen, wenn sich herausstellt, dass dieser kompromisslos geforderte Siegesglaube schon im Juni 2022 illusionär und sein Kommentar, der Lambrechts offensichtlich realistischere Einschätzung der Kriegslage moralisch für untragbar hielt, journalistische Anmaßung war, wie sie in totalitären Staaten Usus sein mag, aber nicht in liberalen?“
Die Unterstellung, Kaube habe einen „Siegesglauben“ gefordert, ist falsch. Kaube bezog sich auf ein denkwürdiges Interview mit Lamprecht im Deutschlandfunk, das so begann:
Moderator Christoph Heinemann: Frau Ministerin, soll die Ukraine diesen Krieg gewinnen?
Christine Lambrecht: Wir müssen dafür sorgen, dass die Ukraine so ausgestattet ist, dass sie in diesem Krieg bestehen kann (…) .
Heinemann: Mit dem Ziel, dass die Ukraine gewinnt?
Lambrecht: Ich glaube, es geht darum, die Ukraine jetzt so zu unterstützen, dass sie in diesem Kampf bestehen kann, und nicht um einzelne Worte. (…)
Heinemann: Wieso bekommen SPD-Politikerinnen und Politiker das Wort „gewinnen“ nicht über die Lippen?
Lambrecht: Es geht uns darum, zu unterstützen und nicht irgendwelche Worte zu veröffentlichen.
Heinemann spielt einen Ausschnitt von Baerbock aus der „Markus Lanz“-Sendung ein.
Heinemann: „Die Ukraine muss gewinnen!“ – Geht doch!
Lambrecht: Ja, die Ukraine muss sich verteidigen können gegen diesen brutalen Angriffskrieg.
Heinemann: Sie muss gewinnen!
Lambrecht: Sie muss sich gegen diesen brutalen Angriffskrieg verteidigen können.
Kaube nannte das eine „Szene aus dem absurden Theater“: „Es wirkte wie ein Spiel, bei dem verliert, wer ‚gewinnen‘ sagt.“ Er stellte fest, dass der Satz „die Ukraine soll den Krieg gewinnen“ zum Unsagbaren der regierenden Sozialdemokraten geworden sei und fragte sich, warum: Lambrecht und Scholz „müssten ja nicht einmal etwas Peinliches zugeben oder etwa Riskantes sagen.“
An keiner Stelle forderte er Lambrecht zu irgendetwas auf, schon gar nicht dazu, an einen Sieg der Ukraine zu glauben oder ihn vorherzusagen. Er fragte sich, warum dieses Wort Tabu ist. Und das soll totalitär oder grotesk unjournalistisch sein?
Anmerkung/Korrektur: Auf der Buchmesse hatte ich behauptet, das Wort „Sieg“ komme in Kaubes Kolumne gar nicht vor. Das stimmt nur auf die Printversion bezogen. Online steht es im Vorspann – aber, wie gesagt, nicht in dem Sinne, den Precht und Welzer unterstellen.
3. Ein exemplarischer Olli-Schulz-Tweet?
Precht und Welzer befassen sich ausführlich damit, wie durch die Wirkung von Twitter öffentliche Debatten „immer hysterischer“ und immer personalisierter geführt würden: „Menschen rücken als ganze Person positiv wie negativ für einen bestimmten Zeitraum in die Mitte der Twitter-Öffentlichkeit“.
„Exemplarisch kann dafür ein Tweet des Musikers Olli Schulz stehen“, schreiben sie – und zeigen ihn sogar als Screenshot:
Nun sind Tweets bekanntlich auf 280 Zeichen Länge beschränkt. Deshalb ist das da auch kein Tweet. Es handelt um eine Story, die Olli Schulz auf Instagram gepostet hat.
Precht und Welzer machen die Mechanismen von Twitter exemplarisch an einer Instagram-Story fest. Und keinem der beiden Autoren, keinem Korrektor oder Lektor fällt der Fehler auf, der angesichts des Screenshots offenkundig ist?
Doch den Autoren geht es nicht nur um das, was auf Twitter passiert, sondern vor allem darum, dass „Twitter-Tweets“ (!) die Berichterstattung von Leitmedien beeinflussen. „Die sorgfältige Beobachtung dessen, was auf Twitter läuft, ist heute ein ganz selbstverständlicher Teil der journalistischen Praxis – und wenn da etwas ‚abgeht‘, kann das auch unmittelbar Anlass geben, darauf mit einem eigenen Artikel einzusteigen.“
Sie messen das im konkreten Fall so:
„Für den Fall, über den Olli Schulz twittert, findet man bei Google mit der simplen Eingabe ‚Kliemann Böhmermann‘ 56.700 Resultate – deutschsprachige Medienberichte von ‚Bild‘ bis ‚Spiegel‘ und ihrer jeweiligen Online-Portale. Mit anderen Worten: Twitter fungiert als ein Sensor für Angelegenheiten mit hohem Aufmerksamkeitswert – ist also ein Arbeitsmittel für Redaktionen und wird auch als solches benutzt.“
Das mag alles sein, aber der Fall des „Tweets“ von Olli Schulz ist dafür ein denkbar schlechtes Beispiel, und die Zählung durch bloßes Googeln eine völlig untaugliche Messmethode. Denn Auslöser der Berichterstattung waren die Enthüllungen von Böhmermann in seiner Sendung „ZDF Magazin Royale“ Anfang Mai. Die sorgen für massenhaft Treffer, wenn man nach „Kliemann Böhmermann“ googelt, nicht die eher nebensächliche Stellungnahme von Olli Schulz via Instagram mehrere Wochen später.
4. Die guten alten Zeiten der Debatten-Idylle
Precht und Welzer meinen, dass die Dynamik Sozialer Medien Debatten vergiftet, zum Beispiel dadurch, dass nicht über die Sache gestritten werde, sondern fast ausschließlich über die beteiligten Personen, die moralisch bewertet und übertrieben gelobt oder abgewertet würden.
Daran ist bestimmt einiges richtig, aber Precht und Welzer wollen es auch daran belegen, wie sachorientiert auch die heftigsten Debatten in der Prä-Social-Media-Zeit geführt worden seien.
Etwa der Historikerstreit 1986/1987. Man werde „keinen Text“ finden, in dem die Persönlichkeiten der Streitenden verhandelt würden, behaupten sie. Nicht? Peter Schneider 1986 stellte in der „Zeit“ amüsiert fest, dass sich Historiker „Schimpfwörter wie ‚Demagoge‘, ‚Regierungshistoriker‘, ‚konstitutioneller Nazi‘, ‚Himmlerapologet‘ um die Ohren“ geschlagen hätten.
Im gleichen Kontext steht diese überraschende historische Beobachtung Prechts und Welzers aus einer besseren Zeit:
„Und auch wenn der FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher den Schriftsteller Günter Grass 2006 und 2012 wegen dessen Outing als SS-Mitglied bzw. eines israelfeindlichen Gedichts scharf angriff und damit durchaus auch Interessen seiner Zeitung verfolgte, blieben Qualifizierungen der Person Grass weitgehend aus. Schirrmacher bezog sich auf dessen Aussagen bzw. das poetische Erzeugnis. Das wirkt im Rückblick geradezu idyllisch.“
Die Idylle endete 2006 damit, dass Grass der FAZ vorwarf, ihn „demontieren“ zu wollen und die journalistischen Sitten verhunze. Er werde dies künstlerisch jedoch überleben: „Wer kennt heute noch Menzel? Wird man später noch wissen, wer Schirrmacher war“, fragte er in Anspielung auf den im 19. Jahrhundert einflussreichen Goethe-Kritiker Wolfgang Menzel. Schirrmacher erwiderte, Grass wolle von sich ablenken und von der Tatsache, „dass er, der alle maßregelte, selber einer der großen Verschweiger war.“
2012 schrieb Schirrmacher rein sachlich über das Gedicht von Grass: „Es ist ein Machwerk des Ressentiments, es ist, wie Nietzsche über das Ressentiment sagte, ein Dokument der ‚imaginären Rache‘ einer sich moralisch lebenslang gekränkt fühlenden Generation. Gern hätte er, dass jetzt die Debatte entsteht, ob man als Deutscher Israel denn kritisieren dürfe. Die Debatte aber müsste darüber geführt werden, ob es gerechtfertigt ist, die ganze Welt zum Opfer Israels zu machen, nur damit ein fünfundachtzigjähriger Mann seinen Frieden mit der eigenen Biographie machen kann.“
Geradezu idyllisch und wirklich fast gar nicht auf die Person bezogen.
5. Alle Impfpflicht-Freunde außer eine?
Precht hat den Begriff „Cursor-Journalismus“ erfunden: Journalisten orientierten sich ängstlich und peinlich genau am „zappeligen Cursor des Zeitgeistes“ – und grenzten alles aus, was sie davon zu weit entferne. „Wichtig ist, dass man dort steht, wo die Mehrheit der Kollegen steht.“ Dabei wechsle dieser „Cursor“ sogar immer wieder seine Position.
Precht und Welzer zeigen die Wirkung am Beispiel einer Talkshow:
„So sah sich die Philosophin Svenja Flaßpöhler im November 2021 in der „Hart aber Fair“ mit gleich vier Gegenspielern konfrontiert, die sich allesamt für eine allgemeine Impfpflicht ins Zeug legten, einschließlich des ebenso meinungsfreudigen Moderators Frank Plasberg. Die Leitmedien fielen anschließend fast geschlossen über die Philosophin her, ließen jeden Anstand vermissen und griffen sie persönlich an. Dabei hatte sich Flaßpöhler sehr wohl für das Impfen ausgesprochen, nicht aber für die pauschale undifferenzierte Verunglimpfung aller Ungeimpften und nicht für einen allgemeinen Impfzwang – eine Position, die der geltenden deutschen Rechtslage entsprach. Wenige Monate später wechselten auch die leitmedialen Impfplicht-Freunde wieder ins Lager der Skeptiker und Gegner über.“
Ich würde die „Hart aber fair“-Sendung tatsächlich als furchtbar misslungen bezeichnen, was nicht zuletzt daran lag, dass der Moderator einen ernsthaften Austausch von Argumenten immer wieder unterband. Es entstand unbestreitbar – und sogar in der Sendung thematisiert – auch eine ungute Alle-gegen-eine-Dynamik. Aber es war keineswegs so, wie Precht und Welzer es darstellen und möglicherweise aus dem Gedächtnis erinnerten: Keiner der vier Gegenspieler legte sich „für eine allgemeine Impfpflicht ins Zeug“. Im Gegenteil: Alle formulierten unterschiedlich starke Bedenken gegen eine solche Impfpflicht, teilweise auch gegen eine Impfpflicht für Pflegepersonal.
Die Diskussion drehte sich darum, durch welche Maßnahmen erreicht werden könnte, dass sich mehr Menschen impfen lassen – ohne eine Impfpflicht einführen zu müssen. Der Publizist Georg Mascolo sagte in der Runde: „Es ist eine der schrecklichsten Ideen, Impfpflichten zu verhängen.“
Der Dissens zu Flaßpöhler entstand dadurch, dass alle anderen sich für unterschiedliche Arten aussprachen, Druck auf Ungeimpfte auszuüben oder sogar drastisch zu verschärfen, was sie prinzipiell ablehnte und dafür plädierte, mündige Bürger nicht wie Kinder zu behandeln und ihnen Selbstverantwortung zuzugestehen.
Die Sendung taugt tatsächlich als Negativ-Beispiel dafür, wie wichtige gesellschaftliche Diskussionen nicht geführt werden sollten und welche Ausgrenzungs-Dynamiken in dieser Phase der Pandemie entstanden. Aber wenn man das kritisiert, muss man sich schon mit dem tatsächlichen Verlauf der Sendung befassen und kann nicht falsch behaupten, es hätten sich alle bis auf eine, dem imaginären „Cursor“ folgend, für eine Impfpflicht ausgesprochen, nur um kurz darauf auf unerklärliche Weise alle das Gegenteil zu wollen.
Aber so genau wollten sich Precht und Welzer wohl nicht damit befassen.
Sie kritisieren – zurecht – dass Medien Themen „verzweiseitigen“, das heißt: auf eine von zwei Extrempositionen, schwarz oder weiß, reduzieren. „Dass in der Migrationsfrage, der Frage der Coronamaßnahmen oder der Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine viele Menschen in Deutschland keine eindeutige, sondern eine unentschiedene Meinung vertreten, kommt leitmedial praktisch kaum vor.“
Precht und Welzer selbst tun aber regelmäßig in ihrem Buch genau das und reduzieren etwa die Frage, ob Talkshows richtig besetzt sind, auf die Zahl der Vertreter, die sie vorher in genau solche binären Positionen einsortiert haben – auch wenn das deren tatsächlicher komplexer Meinung oder dem Diskussionsverlauf nicht wirklich entspricht.
Gefühlte Wahrheiten
Es gab bei der Podiumsdiskussion in Frankfurt eine Situation, die ich besonders entlarvend fand. Es ging um die Rezeption des Buches in den großen Medien. Precht beklagte eine „Küchenpsychologie“, bei der Menschen im öffentlichen Raum „unlautere Motive“ unterstellt würden. „Und diese Form der Psychologisierung hat sich jetzt im Medienecho auf das Buch wieder aufgefunden.“
Das war für mich ein bisschen überraschend, weil Precht mir im Vorgespräch erzählt hatte, ich dürfe ihn auf keinen konkreten Artikel ansprechen, denn er hätte die alle nicht gelesen: Er sei ja kein Masochist.
Auf der Bühne sagte er: „Und da stellt man sich die Frage, wenn wir doch in dem Buch genau erklären, hört mal, Mädels und Jungs, macht das nicht, unterstellt nicht Leuten, die Positionen vertreten, die nicht eure sind, deswegen unlautere Motive.“ Und dann passiere in den Besprechungen genau das wieder! In der Art, wie sie das Buch rezipiert haben, hätten „bestimmte Journalisten natürlich ihrem Medium geschadet“.
Ich erwiderte, dass beide „eine riesige Bühne für dieses Buch bekommen“ hätten: viele Interviews in großen Leitmedien. Und abgesehen von einer Kritik, die meiner Meinung nach wirklich unterirdisch war – ich meinte diesen Artikel im „Tagesspiegel“ – habe man bei vielen gemerkt, „sie haben sich damit auseinandergesetzt. Keiner war so richtig begeistert von dem Buch, aber viele haben geschrieben, naja, aber doch eben ganz gute Punkte. Ich habe diese große Welle von Häme nicht mitbekommen.“
Darauf schlug Welzer vor, vor Ort „eine Publikumsbefragung“ zu machen. „Dann wäre ich mal interessiert, wie viele aus dem Publikum der Auffassung sind, es habe ein relativ einheitliches Bashing über dieses Buch gegeben, in den Medien. Und wie viele der Auffassung sind, dass Herr Niggemeier total recht hat, dass die Einlassungen durchaus kritisch waren, aber sich doch ernsthaft damit auseinandergesetzt haben.“
Er wollte seine gefühlte Wahrheit dadurch bestätigen, dass er das Publikum fragt, ob es ähnlich fühlt. Das macht eine Diskussion mühsam, um es vorsichtig zu formulieren.
Vor Ort sagte ich: „Sie sagen, die Medien machen das und das. Wenn ich dem erwidere: ‚Ich habe mir die Medien angeguckt und nach meinem Eindruck war das so‘, dann sagen Sie nicht: „Lassen Sie uns die Medien angucken‘, sondern: ‚Lassen Sie uns das Publikum fragen.‘“
Darauf Welzer: „Aber nach Ihrem Eindruck ist doch kein Argument. Sie sind doch Teil des Mediensystems.“
Okay. Dann gehen wir die Sachen mal zusammen durch.
Precht und Welzer konnten ihre Thesen aus dem Buch in drei langen Interviews in gedruckten Leitmedien vorstellen: In „Stern“, „Zeit“ und „Berliner Zeitung“. Außerdem unter anderem in einer monothematischen „Markus Lanz“-Sendung.
In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien am 24. September 2022 eine Rezension von Cornelius Pollmer:
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„(…) die Analysen und Ableitungen von Richard David Precht und Harald Welzer sind weder neu noch sind sie arg falsch. (…)
Immer wieder kommen Precht und Welzer bei ihren Betrachtungen auf das Argument zurück, das sich so paraphrasieren lässt: Die in deutschen Medien dargestellte Öffentlichkeit unterliege starken Verengungstendenzen und weiche zu stark ab von Realitäten und tatsächlichen Meinungsbildern im Land. Dies aber sei als gesamtgesellschaftliches Problem nicht zu unterschätzen, weil eine funktionstüchtige Demokratie funktionstüchtige Medien brauche, denen – logische Gelingensbedingung – vom Publikum hinreichend vertraut werde.
So weit, so richtig, und es gibt allemal Gründe für solche Kritik, zumal selbst in Qualitätsmedien sowohl der politische Belehrungs- wie auch in anderen Sparten der stumpfe Ratgeber-, Emo- und Wohlfühljournalismus zuweilen aufs Grässlichste expandieren. (…)
Die von Richard David Precht und Harald Welzer immer wieder auch mal zu Recht geschilderten Probleme sind lange bekannt, über ihr Ausmaß ließ und lässt sich gerne weiterhin streiten – und es bleibt der Befund dennoch richtig, dass speziell deutsche Medien in den vergangenen Jahren zwar tendenziell offener, kritikfähiger und problembewusster geworden sind bezüglich der eigenen Arbeit; dass sie sich aber gerne weiterhin der Frage stellen sollten, ob sie ihr Publikum wahlweise erziehen oder verblöden wollen oder es auch in seinen intellektuellen Ansprüchen ernst nehmen. (…)
Doch wäre es grundfalsch, die Kritik von Welzer und Precht nun zügig abzutun, nur weil sie nicht die ersten Kritisierenden sind oder weil sie manche Sachzwänge praktischer journalistischer Arbeit nicht fair einpreisen oder weil man die Autoren für eitle Ichlinge hält, deren Nasen jedes Mal ein kaum merklich kleines Stück länger werden in der Sekunde, in der sie sagen, um uns geht’s doch hier gar nicht, wir sind nur in Sorge und wollen helfen. Richtig wäre zum Beispiel, anlässlich auch dieser Kritik die in deutschen Medienhäusern nach wie vor bedauernswert unterentwickelte Transparenz und Fehlerkultur zu stärken oder, wichtiger noch, in den großzügigen Grenzen von Anstand, Respekt sowie der freiheitlich demokratischen Grundordnung ein verlässliches Forum zu sein, für alle, die sprechen und gehört werden wollen.
Im „Tagesspiegel“ rezensierte Gerhard Vowe am 28. September 2022 das Buch:
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„Man könnte das Buch also als Bewältigung einer Kränkung abtun, aber das wird ihm nicht gerecht. Denn die Autoren stellen elementare Fragen. Sie bemühen sich um eine breite Fundierung über den Ukrainekrieg hinaus, und sie haben die Fakten durch den Journalistikprofessor Michael Haller prüfen lassen. (…)
Das Ansinnen, die bitteren Erfahrungen zu sublimieren und die Mechanismen der öffentlichen Meinungsbildung in Frage zu stellen, ist legitim. Aber muss das so flüchtig und so wenig gründlich sein? Müssen Journalismus und Demokratie noch vor dem Winter gerettet werden? Ausgerechnet diejenigen, die den Medien Atemlosigkeit vorwerfen und der Politik Besonnenheit anraten, lassen sich zu einem Schnellschuss hinreißen. Das könnte als das Precht-Welzer-Paradox in die Geschichte der Publizistik eingehen.
In der „Welt“ hat Christian Meier am 3. Oktober 2022 viele einzelne Thesen überprüft:
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„Einzelne Befunde wie eben jene, dass Medien auch mit der Emotionalisierung, Zuspitzung und Empörung Aufmerksamkeit erzeugen, sind weder falsch noch neu. Gleichwohl bleibt die Grundthese, dass Medien gezielt eine ‚Mehrheitsmeinung machen‘, obwohl es diese Mehrheitsmeinung gar nicht gibt, höchst problematisch. Sie wird im Buch auch nicht nachgewiesen, auch wenn das im Titel behauptet wird. (…)
So bleibt der Eindruck, dass Precht und Welzer aufgrund ihrer eigenen Erfahrung eine Medienkritik betreiben, die reflexhaft motiviert ist – und sich in Ermangelung von Zeit auf vorhandene Befunde konzentriert, die ‚passend gemacht‘ werden mussten, damit die zugespitzte These, die in der Überschrift des Buches steckt, belegbar wirkt.“
In der NZZ erschien am 4. Oktober 2022 eine Rezension von Lucien Scherrer:
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„[…] die Autoren orten eine allgemeine Meinungsverengung und Ansätze einer demokratiegefährdenden ‚Mediokratie‘.
Diese Klage ist nicht neu, aber in einigen Punkten bedenkenswert. So lässt sich kaum bestreiten, dass Leitmedien anonyme Pöbeleien auf Twitter aufwerten, indem sie diese zitieren und als Meinung einer bedeutenden Minderheit oder gar Mehrheit erscheinen lassen. Auch haben die Autoren recht, wenn sie die ‚Suche nach Feindbildern‘ kritisieren, etwa in der Corona-Pandemie, als der Bundesligaspieler Joshua Kimmich und andere Ungeimpfte als Pandemietreiber, Blinddarm der Gesellschaft, Geiselnehmer und Schlimmeres tituliert wurden. (…)Letztlich offenbaren die Autoren ein autoritäres Demokratie- und Medienverständnis: Wenn Geistesgrössen wie sie sprechen, soll man gefälligst zuhören, wie Andri Melnik bei ‚Anne Will‘. Kritisieren und einmischen sollen sich die Journalisten durchaus, aber eben nur da, wo es passt.“
Für „Berliner Zeitung“ rezensierte Harry Nutt das Buch am 29. September 2022:
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„Tatsächlich aber geht ihr schnell geschriebenes Werk aus einem Anliegen der Sorge hervor. Angesichts der Debatten über den Ukraine-Krieg konstatieren sie eine publizistische Zeitenwende, mit der sie den Qualitätsjournalismus in Aktivismus abdriften sehen, der sich politisch geriert, sich ihrer Ansicht nach aber in erschreckendem Maße entpolitisiert. (…)
Trotz vieler erhellender Eindrücke besteht das Manko des Buches darin, dass Welzer und Precht sich nicht zu entscheiden vermögen zwischen soziologischer Beschreibung medialer Öffentlichkeiten und ihrer Lust an polemischer Intervention. (…)
Überzeugend führen die Autoren aus, wie sehr der ökomische [sic!] Druck, der auf der Branche lastet, auch das journalistische Selbstverständnis beeinträchtigt. Hinzu kommen selbstreferenzielle Bequemlichkeiten. (…)
Aus journalistischer Binnenperspektive ist man geneigt, den Autoren in vielem zu widersprechen und in manchem zuzustimmen. Tatsächlich aber stellt sich die Frage, ob das, was sie am wankenden System des Qualitätsjournalismus bemängeln, nicht hinsichtlich der gesellschaftlichen Kommunikation insgesamt untersucht werden müsste. Eine von Angstlust angetriebene Bereitschaft zur Polarisierung sowie ein von rechthaberischen Partikularismen befeuerter Argwohn gegenüber öffentlichem und veröffentlichtem Sprechen deuten auf einen gesellschaftlichen Wandel hin, der sich immer weiter vom Ideal einer deliberativen Demokratie entfernt, die auf den Prinzipien des Beratschlagens und Aushandelns basiert.“
Ist das ein „relativ einheitliches Bashing“, wie Welzer meint?
Tatsächlich findet sich in vielen Kritiken das Motiv, das Precht kritisiert: dass beiden vorgeworfen wird, das Buch aus einer persönlichen Kränkung heraus geschrieben zu haben. Gleichzeitig betonen die meisten Kritiker, dass die Autoren wichtige Fragen aufwerfen und ihre Sorge nicht unberechtigt ist – und diskutieren das inhaltlich.
Was bleibt
Precht und Welzer haben recht: Die Medien müssen besser werden. Sie müssen es insbesondere in so umwälzenden Zeiten besser schaffen, als Vermittler zwischen Politik und Gesellschaft zu funktionieren. Dazu gehört auch, sich selbst kritisch zu hinterfragen.
Der große Erfolg des Buches „Die Vierte Gewalt“ beruht sicher zum Teil auf der Prominenz der Autoren und der großen Aufmerksamkeit durch die Medien. Aber, auch das habe ich in Frankfurt gespürt: Er beruht auch auf einem ausgeprägten Misstrauen und Unbehagen vieler Menschen gegenüber der Berichterstattung der etablierten Medien, das sich nicht einfach wegdiskutieren lässt und gerade beim Thema Ukraine-Krieg wieder Nahrung findet.
Aber nicht nur die Medien müssen Qualitätsmaßstäben genügen. Medienkritik muss es auch.
Precht und Welzer plädieren unter anderem dafür, dass Medien ihr eigenes Tun stärker hinterfragen. Es wäre „eine lohnende Aufgabe, die reflexive Dimension des Journalismus – also die Berichterstattung über das, was man selber tut – viel stärker als Teil des politischen Journalismus zu verstehen, als das bislang geschieht.“ Dem stimme ich sehr zu.
Ich bekomme nur diesen Anfang des „Stern“-Gesprächs mit Precht nicht aus dem Kopf:
Frage: „Herr Precht, wie oft haben Sie sich in den vergangenen Tagen gefragt, ob Sie in Bezug auf den Krieg in der Ukraine Unsinn geredet haben?“
Richard David Precht: „Nicht einmal. Wieso sollte ich?“
Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
Welzer betonte ja immer wieder: Das Buch müsse nicht fehlerfrei sein, es ginge beiden nur darum, eine breite Debatte loszutreten.
Aber die beiden haben erkennbar gar kein Interesse an dieser Debatte. Würden sie auf die Kritik eingehen und ihre zugespitzten Thesen entschärfen, dann würden sie genau das Publikum vergrätzen, das in Frankfurt so dankbar nach jeder Wortmeldung der beiden applaudiert hat.
Die 52 Minuten waren für mich nur schwer auszuhalten. Stefan Niggemeiers Blick auf Precht und Welzer am Ende der Veranstaltung spricht Bände.
Das Buch ist schludrig geschrieben und in Eile zusammengehauen – natürlich um maximalen Vertriebserfolg zu erzielen, solange das Thema noch kocht und die Frankfurter Buchmesse bevorsteht, ja? Außerdem war die Arroganz und Kritikunfähigkeit der beiden Autoren im Gespräch absolut unerträglich, ja? Und wenn Welzer auch nur ein einziges weiteres Mal einen Satz mit seinem belehrenden »ja?« abgeschlossen hätte, hätte ich meine Tastatur mit einem Pfeifenreiniger vom Erbrochenen befreien müssen, ja?
Das Precht das Publikums befragen wollte, beschreibt es sehr gut: Es wird ein halbgares Buch über gefühlte Wahrheiten geschrieben, an dem die Autoren auch kein Interesse an wirklicher Debatte haben.
Die Frage die ich mir schon die ganze Zeit bei diesem Thema stelle: Sollte man diesem Buch und Protagonisten überhaupt so viel Reichweite geben? Schadet man damit nicht dem „eigentlichen Ziel“: Einen besseren Journalismus.
Auf andere Themen übertragen: Wenn es ein Buch über Migration oder Klima gewesen wäre, man wüsste wohl was drin steht. Wäre es sinnvoll darüber mit Autoren zu diskutieren, die nicht debattieren wollen und zudem nur Ihre „eigene“ gefühlte Wahrheit haben?
Bei aller Kritik an dem Buch – die offenbar dem Buch entnommene Formulierung „die Verunglimpfung aller Ungeimpften“ mag ich dann aber doch sehr. Haben das Precht und Welzer erfunden?
Ich habe die Podiumsdiskussion gesehen und muss sagen: Precht und Welzer sind schon extrem geschickt darin, gegen sie vorgebrachte Kritik abzuschmettern oder zu verharmlosen, ohne auch nur mit einem Wort darauf einzugehen.
…und dann Journalisten mangelnde Selbstreflexion vorwerfen…
Danke für den „mutigen“ Auftritt (auch wenn das anwesende Publikum davon scheinbar weniger beeindruckt war als von der nackten Eloquenz von W&P)!
Ich habe mir die monothematische Lanz-Sendung angetan und dann schon schlotternd die Buchmesse-Diskussion. Die beiden haben brillant vorgeführt, wie mit zuspitzender polarisierender Haudrauf Methode Gewinn zu machen ist, wenn man einfach eine steile Thesen erzeugt und dann auf ihnen surft. Wir sind auf eine Verkaufsmasche zweier prototypischer Cis-Männer reingefallen, denen es um nichts anderes geht als mit ihrem Buch Gewinn zu machen und ganz ganz wichtig zu sein.
Ich sehe Vieles, wie es bereits beschrieben wurde. Bekommt dieses Buchprojekt nicht zu viel Aufmerksamkeit? Mich haben Precht und Welzer schon in der Haltung zu den kritischen Fragen nicht überzeugt. Schade eigentlich! Mit diesem Abwinken verpassen Sie ja auch eine Chance! Ich bin sehr dankbar für Niggemeiers Position, mir gefiel auch die Art und Weise des Vortragens!
Gute Analyse und Artikel. Vielen Dank. Ich las damals Welzer im Spiegel in Verteidigung seiner Unterschrift. Hat mich nicht überzeugt, ganz schlecht begründet. Ab da konnte ich ihn nicht mehr ernst nehmen. Die Kritikunfähigkeit beider ist atemberaubend und deutet eben genau darauf hin: es geht ihnen nicht um Debatte sondern nur um sich und dass sie Recht haben. Schade. Schade.
Wirklich ein wunderbarer Artikel. Die Aufbereitung, die Analyse und die Begründung der einzelnen Punkte ist m. E. vorbildlich. Ich wünschte mir mehr Artikel dieser Qualität, vor allem auch in anderen Medienprodukten, zu lesen. Vielleicht ist es aber auch zu anspruchsvoll: für Schreiner und für Leser.
Weiter so! Ich bin begeistert.
Über den Text des Buches, sowie die sich darauf beziehenden faktischen Auseinandersetzungen, vermag ich mir keine Meinung zu bilden, da ich ihn nicht las.
Dem Text von Herrn Niggemeier stimme ich insofern zu, das ich, sofern ich Kommentare oder Diskussionen von Herrn Precht und Herrn Welzer mitbekam, den Eindruck hatte, das beide nicht ernsthaft an einer inhaltlichen Auseindersetzung interresiert waren. Womit ich nicht ausdrücken will, das ich bei den anderen „Punkten“ einer anderer Auffassung bin – Ich habe mir noch kein Urteil zu ihnen gebildet.
> Das war für mich ein bisschen überraschend, weil Precht mir im
> Vorgespräch erzählt hatte, ich dürfe ihn auf keinen konkreten
> Artikel ansprechen, denn er hätte die alle nicht gelesen: Er sei ja
> kein Masochist.
Sollte man da jetzt lachen oder nur noch weinen?
Danke, Stefan (wieso hat der Precht eigentlich direkt geduzt?), für den Auftritt. Für die beiden Intellektuellen und Vordenker ein ziemliches Armutszeugnis. Keinerlei Kritikfähigkeit, keine Selbstreflexion, keine Selbstkritik. Keiner der genannten Punkte wurde konkret angesprochen.
Ich bin gespannt, wann wir die wissenschaftliche Evaluation zum Thema sehen.
Hoffentlich findet keiner der Beiden die Langzeitstudie Medienvertrauen der Uni Mainz. Wobei, denen würde ich sogar zutrauen, die zu kennen, aber Sie einfach zu ignorieren.
Ich kannt den Namen Precht von bunten Buchdeckeln mit oh the irony.. küchenpsychologischen Titeln. Ach ja, und weil meine Mutter findet, er sei wahnsinnig gutaussehend. In einem Streitgespräch mit Martin Butterwegge zum Thema „Grundeinkommen“ das erste Mal in seinem Wirken wirklich wahrgenommen und nur gedacht: „Hoppla! Da hatte ich doch etwas mehr erwartet..“
Das eloquente, aber platte Ignorieren konkreter Kritik in dem von Herrn Niggemeier verlinkten Gesprächsvideo (in Kombination mit diesem herumzaubernden Zeigefingergestus) erweitert mein Bild von ihm und seiner zugehörigen Buchveröffentlichung leider nicht.
.. was herzlich egal wäre, wenn nicht Themen des Buches ultra-relevant und spannend sind und gerne von einer breiterer Öffentlichkeit differenzierter betrachtet gehörten.
Zugegeben, für das Aufbrechen von Binär-Mentalitäten vieler Bürger*innen in vielen Themen, mich eingeschlossen, braucht es griffige, wenn nicht plakative Aufhängungspunkte/Beispiele/Gedanken.
Diese sollten aber ein nur Ausgangspunkt sein, sozusagen als ein Köder, der Lust darauf macht, seine eigenen Schnellerkenntnisse mal beiseite zu legen und sich tiefer in konkrete Materie und ihre Vielschichtigkeit einzuarbeiten. Mich deucht, über einen kommerziellen Selbstzweck hinaus besteht bei Precht+1 jedoch kein Interesse.
Jeder DLF-Hintergrund, jede Folge Piratensender Powerplay liefert da einfach mehr. Sorry, Mama.
Frage zu # 6: Hat die Erwähnung/ Einordnung in die Gruppe „ prototypischer Cis-Männer“ Relevanz bzw. woran erkennt man diese. Nur um es mal nachzuvollziehen.
Zu#13
Diese Männer werden auch unter dem Begriff „Alte Weiße Männer“ subsumiert. Beides sind natürlich überspitzte Erkennungsmarker, um nicht immer wieder die gleichen Merkmale aufzählen zu müssen.
In letzter Zeit fielen besonders die beiden Erwähnten sowie Jacob Augstein auf. Die Themen sind dabei austauschbar, vielmehr fallen sie durch ähnliche Verhaltensweisen gegenüber ihren Dialogpartner:innen auf:
– mangelnde oder fehlende Bereitschaft, sich mit anderen als ihren eigenen Argumenten auseinanderzusetzen
– die Dialogpartner:innen werden ad personam angegangen statt auf Inhalte einzugehen
– mangelnde oder fehlende Einsicht in eigenes Fehlverhalten bzw. in argumentative Fehler
– ausgeprägt überhöhte Selbsteinschätzung, die die Resistenz, eigene Fehler zu sehen bzw. anzuerkennen, zur Folge hat
– mangelnder oder fehlender Respekt den Dialogpartner:innen gegenüber, der bis zur verbalen Übergriffigkeit gehen kann
– starke Tendenz zu belehren, resultierend aus der Verabsolutierung der eigenen Meinung
– Unterschätzung oder Missachtung der Kompetenz der Dialogpartner:innen, was Monologisierungstendenzen zur Folge hat
– Kritik wird als Angriff auf die eigene Person missverstanden, taktisch stellt sich der Kritisierte als Opfer dieses Angriffs dar und begründet damit seine Berechtigung, beleidigend „zurückzuschlagen“, so wie es ihm vermeintlich geschehen ist.
Von den öffentlichen Auftritten bleiben bei mir kaum die Inhalte des Buches hängen, sondern eher die Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit von P&W.
Aber vielleicht geht es den Autoren auch eigentlich viel mehr um sie selbst, als um die Frage nach der Vierten Gewalt.
Kleine Stilkritik: Das Einfügen von Hyperlinks im Fließtext sollte eindeutiger geschehen als im 1. Absatz nach den einleitenden Zitaten: Dort sind zwei Hyperlinks im Text, wobei der eine (auf den Beitrag in der ARD-Mediathek) den anderen (auf die Website des Fischer Verlags) quasi umschließt, ohne dass die Formatierung diese beiden Hyperlinks klar voneinander abgrenzt. (Auch wenn der Cursor den entsprechenden Text hervorhebt und die verlinkte URL zeigt.) Sprich: Nach einem Hyperlink sollte zunächst unformatierter Text folgen, ehe ein zweiter Hyperlink beginnt.
(Drücke ich mich klar aus?)
@Christoph: Ja, das sollte natürlich nicht so. Ich hab es jetzt mal anders (hoffentlich besser) gemacht.
Was mir bei jeder Wortmeldung von Precht und Welzer in der Diskussion auf der Buchmesse entgegenschlägt, ist eine unerträgliche Arroganz. Arroganz ist ein Zeichen von Unsicherheit. Die wissen beide ganz genau, was sie da für einen Quatsch produziert haben und sind genervt, dass sie so vorgeführt werden.
Dialog im Vorfeld der Podiumsdiskussion:
Welzer:
„Du Richard, ich wäre wohl ein Superheld und meine Supermacht wäre, dass ich immer Recht habe.“
Precht:
„Hmm, das ist ja eigentlich meine Superfertigkeit. Wie schon mein Name sagt.“
Welzer:
„Ach so… Ich habe eine Idee: wir sind Superhelden mit DER GLEICHEN Supermacht. Und wenn wir zusammen auftreten, ist unsere Rechthabermacht so megastark, dass sich ein leuchtendes Energiefeld um uns bildet.“
Precht:
„Ja, das ist gut. Und dieses Energiefeld würde uns wohl auch vor anderen (falschen) Meinungen schützen und direkt abfertigende Reaktionen für uns produzieren. Wenn z.B. jemand etwas sagt wie: ‚Ich finde, Ihr solltet bei diesem wichtigen Thema genauer arbeiten‘, dann könnte das Energiefeld uns zu einem späteren Zeitpunkt die Worte ‚… wir nehmen es jetzt ja ganz genau‘ oder so in den Mund legen.“
Welzer:
„Ein Anti-Selbstreflektionsfeld – klingt super und passt genau zu unserer Supermacht. Dann wollen wir mal!“