78 von 450 angefragten Unternehmen sagen, dass Wasserstoff für sie bis 2032 eine Rolle als Energieträger spiele, wobei die meisten nicht geantwortet haben.
Oder wie der Hessische Rundfunk (hr) titelt:
Man muss nicht allzu genau hinsehen, um zu erkennen, dass zwischen beiden Aussagen eine nicht unerhebliche Differenz liegt. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil der Artikel, der auf hessenschau.de zu dem Thema erschienen ist, auf einer Befragung basiert, die der Sender selbst durchgeführt hat.
Dazu kommt: Die Formulierung, die der hr später im Artikel nennt, fragt nicht danach, was sich Unternehmen „vorstellen“ können, sondern was sie konkret planen („Planen Sie Wasserstoff in Zukunft zu nutzen?“).
Der Blick in die konkrete Umfrage zeigt dann sogar, dass die eigentliche Fragestellung nochmal viel konkreter war, als es sowohl Überschrift als auch Artikel behaupten:
„Spielt Wasserstoff als Energieträger für die Zukunftsplanungen Ihres Unternehmens in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Rolle?“
Es geht also nicht um eine generelle Verwendung von Wasserstoff und das auch nicht in einem beliebigen Zeitrahmen. Doch das ist im Artikel nicht sichtbar, sondern nur in der Fragestellung, die der hr Übermedien zur Verfügung gestellt hat. Besonders die Einschränkung der Einsatzszenarien ist bemerkenswert, weil damit viele Dinge gar nicht berücksichtigt werden, die Unternehmen mit Wasserstoff anfangen könnten, zum Beispiel in der chemischen Industrie.
Hätte man stutzig werden können
Das ist nicht das gravierendste Problem mit der Befragung und der Berichterstattung des hr, aber es ist der Aspekt, an dem die Verantwortlichen hätten aufhorchen können: Jedes zweite Unternehmen soll den Einsatz von Wasserstoff als Energieträger bis spätestens 2032 planen? Also egal, ob Bäckerei, Friseursalon oder Industriebetrieb, die Hälfte will nun also Wasserstoff einsetzen?
Wie kommt man beim hr darauf? Von den 450 befragten Unternehmen hat weniger als die Hälfte geantwortet: 48 Prozent oder 216 der befragten Unternehmen. Darauf weist der Artikel auch deutlich hin. Was aber nur im Kleingedruckten steht: Auf die Frage, ob Wasserstoff als Energieträger für sie in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Rolle spiele, haben nur 145 von 216 geantwortet. Von den befragten Unternehmen hat also nur etwas weniger als ein Drittel auf die Frage reagiert, die den hr zur reißerischen Überschrift verleitete. Von diesen 145 haben laut hr 78 mit „Ja“ geantwortet.
Große Unternehmen, vielleicht
Vielleicht hilft dabei ein Blick darauf, wer die Unternehmen sind. Die 450 Unternehmen wurden, man kann es kaum anders sagen, einigermaßen willkürlich ausgewählt. Befragt habe man „große“ Unternehmen, heißt es in der methodischen Beschreibung im Artikel, wobei nicht näher definiert ist, was „groß“ bedeutet. Auf Nachfrage erklärt der hr, es seien nicht ausschließlich große Unternehmen, sondern „z.B. auch zahlreiche Mittelständler“ darunter. Davon ist aber im Artikel keine Rede. Wie viele Unternehmen im Mittelstand sind und ob eventuell auch kleine Unternehmen dabei sein könnten, kann der hr nicht so genau sagen. Klar ist, dass nicht nur große Unternehmen dabei sind, obwohl die Beschreibung des methodischen Vorgehens einen anderen Eindruck erweckt.
Der Autor
Frederic Servatius hat Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation studiert. Er arbeitet als Content-Stratege für den Public Sector bei einer Digitalagentur in Köln. Nebenbei schreibt er als freier Autor für verschiedene Medien – und sehr unregelmäßig in seinem Blog.
Die aus Sicht des hr relevanten Kriterien zur Bestimmung der Unternehmensgröße, Umsatz und Mitarbeitendenzahlen, seien vorab nicht zu erheben gewesen. Deshalb hat man sie mit abgefragt. Diese nachträgliche Abfrage ist aber nicht sonderlich zielführend, wenn man als Grundgesamtheit der Befragung die Unternehmen zu Rate zieht, die man vorher ohne fixe Kriterien ausgewählt hat. Dazu kommt: Es ist auch im Nachhinein nicht exakt zu sagen, wie viele der Antwortenden jetzt kleine, mittlere oder große Unternehmen sind. Erst recht nicht, wenn man selbst keine exakte Definition dafür gesetzt hat.
Wie willkürlich die Bezeichnung „groß“ aber nun sein mag, eines ist klar: Eine Aussage für alle Unternehmen zu treffen, wie es der hr in dem Artikel wiederholt tut, ist in jedem Fall Unfug, weil offenkundig mehrheitlich große Unternehmen ausgewählt und befragt wurden (was nun immer groß bedeuten mag). Laut statistischem Bundesamt waren im Jahr 2020 99,4 Prozent aller Unternehmen in Deutschland kleine und mittelständische Unternehmen (KMU). Auch wenn die Definitionen unterschiedlich sein mögen und die wenigen großen Unternehmen 55 Prozent aller Menschen beschäftigen, gilt dennoch: Die überwiegende Mehrheit der Unternehmen wird von dieser Befragung nicht angemessen repräsentiert.
Das gilt erst recht, wenn man auf eine Fragestellung schaut, die in dem Artikel nicht sichtbar ist, die aber in den Daten enthalten ist, die uns der hr auf Anfrage zur Verfügung gestellt hat. Dort wird erkennbar: Nur 18 Unternehmen, die die entsprechende Frage beantwortet haben, geben einen Umsatz von weniger als 50 Millionen Euro an und erfüllen also eines von zwei zwingenden Kriterien für ein KMU nach Definition der KfW.
Industrie, keine Landwirtschaft
Immerhin: Branchenseitig habe man „bewusst einen Querschnitt durch alle Branchen“ vorgenommen. Auch mit dieser Formulierung erweckt der hr den Eindruck einer Repräsentativität, die es nicht gibt. Der Sender teilt dazu mit: „Wir machen an mehreren Stellen in dem Artikel deutlich, dass die Umfrage nicht repräsentativ ist.“ Zugegeben: Der Artikel erwähnt das. Kleingedruckt unter den Visualisierungen der Befragung und ganz am Ende in der methodischen Beschreibung. Nachdem an unterschiedlichen Stellen Formulierungen gewählt werden, die eben doch auf Repräsentativität schließen lassen.
Aus welchen Branchen die antwortenden Unternehmen stammen, lässt der hr in seinem Artikel offen. Geantwortet haben, das zeigt der Blick in die Daten, die der hr uns zur Verfügung gestellt hat, fünf Unternehmen aus dem Energiesektor und zwei aus dem Handwerk, aber dafür 47 Unternehmen aus der Industrie. Unternehmen aus der Landwirtschaft sind hingegen gar nicht darunter. Von dem bewussten Querschnitt durch die Branchen bleibt also in der Realität nicht allzu viel übrig. Die Leser*innen erfahren davon aber nichts.
Fragen werden nicht veröffentlicht
Nun könnte man denken, dass es gerade bei einer selbst durchgeführten Befragung helfen würde, zumindest die kompletten Ergebnisse und Fragestellungen zur Verfügung zu stellen. Das würde es Leser*innen zumindest ermöglichen, die Ergebnisse zu prüfen und selbst zu interpretieren. So ließe sich zumindest ein Eindruck gewinnen, inwiefern die starken Aussagen, die in dem Artikel getroffen werden, der Realität standhalten. Doch der hr gibt die entsprechenden Daten nicht heraus:
„Eine Veröffentlichung der Umfrage in Gänze ist nicht möglich, weil aus den Antworten Rückschlüsse auf einzelne Unternehmen geschlossen werden könnten. Den Unternehmen wurde aber ausdrücklich Anonymität zugesagt. Einzelne Firmen haben sogar extra noch einmal bei uns nachgefragt, ob diese Anonymität tatsächlich gewährleistet sei. Das haben wir ihnen zugesagt.“
Klingt erstmal nachvollziehbar. Doch gleichzeitig hat uns der hr eben eine Liste von Fragestellungen sowie Auswertungen ohne Freitextantworten zur Verfügung gestellt. Darüber einzelne Unternehmen zu identifizieren, ist nicht möglich. Doch auch diese Infos veröffentlicht der hr für die Leser*innen nicht.
Wie klimaschonend ist Wasserstoff?
Bemerkenswert ist an der Umfrage noch ein Punkt: Der Artikel sagt, Wasserstoff sei ein „klimaschonender Energieträger“. Das ist insofern bemerkenswert, weil die Mehrheit der weltweiten Wasserstoffproduktion aktuell so genannter grauer Wasserstoff aus Erdgas ist. Der ist gerade nicht klimaschonend, weil bei der Produktion große Mengen CO2 freigesetzt werden. Welchen Wasserstoff Unternehmen einsetzen oder in Zukunft einsetzen wollen, hat der hr aber gar nicht abgefragt. Nur 41,1 Prozent der Antwortenden haben gesagt, dass CO2-Reduktion für sie ein Faktor für die Wasserstoff-Nutzung sei. Gut möglich also, dass viele Unternehmen auch mit grauen Wasserstoff arbeiten wollen – wenn man den Zahlen der Umfrage glauben darf. Der Sender teilt auf Nachfrage mit: „Welche Form des Wasserstoffes zum Einsatz kommt, ist dabei aus unserer Sicht nicht zentral.“
Dabei ist den Autoren der Befragung der Unterschied zwischen unterschiedlichen Wasserstoffarten durchaus bewusst. Im hr-info-Podcast, der auf der Artikel-Seite eingebaut ist und von zwei der drei Autoren stammt, geht es unter anderem darum. Im Podcast ist die Befragung übrigens kein Thema. Für das Format Podcast sei die Umfrage nicht relevant gewesen, so der Sender.
Dem kann man nur zustimmen. Für einen Artikel auf hessenschau.de war sie es aber in der Form auch nicht.
Die Frage nach grauem oder grünen Wasserstoff ist etwas, was das konkrete Unternehmen nicht unbedingt in der Hand hätte; aber bei der Art, wie die Antworten hochgerechnet werden, ist das ja fast egal.
@Mycroft
Dass die Unternehmen das begrenzt in der Hand haben, ist richtig. Aber ob sie Wasserstoff verwenden wollen, könnten sie ja durchaus davon abhängig machen, ob es perspektivisch ausreichend grünen Wasserstoff gibt oder weiter mehrheitlich grauer erzeugt wird.
Zu sagen, dass die Frage nach grün oder grau nicht zentral ist, wie es der hr tut ist aber in jedem Fall zu kurz gesprungen.
Jaaa, aber dann blockieren sich Anbieter und Abnehmer gegenseitig – wenn die potantiellen Abnehmer erst warten wollen, bis H2 90% grün sind, um ihre Anlagen umzustellen, und potentielle H2-Produzenten warten, bis es „genug“ Abnehmer gibt, dauert es ewig.
Aber ok, die Frage wäre prinzipiell schon interessant.
Die Frage nach grauem oder grünen Wasserstoff ist etwas, was das konkrete Unternehmen nicht unbedingt in der Hand hätte; aber bei der Art, wie die Antworten hochgerechnet werden, ist das ja fast egal.
@Mycroft
Dass die Unternehmen das begrenzt in der Hand haben, ist richtig. Aber ob sie Wasserstoff verwenden wollen, könnten sie ja durchaus davon abhängig machen, ob es perspektivisch ausreichend grünen Wasserstoff gibt oder weiter mehrheitlich grauer erzeugt wird.
Zu sagen, dass die Frage nach grün oder grau nicht zentral ist, wie es der hr tut ist aber in jedem Fall zu kurz gesprungen.
Jaaa, aber dann blockieren sich Anbieter und Abnehmer gegenseitig – wenn die potantiellen Abnehmer erst warten wollen, bis H2 90% grün sind, um ihre Anlagen umzustellen, und potentielle H2-Produzenten warten, bis es „genug“ Abnehmer gibt, dauert es ewig.
Aber ok, die Frage wäre prinzipiell schon interessant.