Wochenschau (133)

Wenn Kopftücher zu Fahnen der Freiheit werden


Die Iraner:innen schreiben gerade Geschichte. Nach dem mutmaßlichen Mord an der 22-jährigen Kurdin Jina Amini (viele Medien verwenden ihren persischen Namen Mahsa) und ihrer Beerdigung brachen die Proteste aus. „Dies ist der George-Floyd-Moment im Iran“, verkündete der britisch-iranische Schauspieler Omid Djalili in einem Video. 

Seit dem Tod von Amini, die wegen eines verrutschen Hijabs von sogenannten Sittenpolizisten mitgenommen und misshandelt wurde und anschließend in behördlichem Gewahrsam starb, demonstrieren Menschen online und offline. Frauen verbrennen solidarisch ihre Kopftücher, als Zeichen des Widerstands gegen die autoritäre Regierung, als Akt der Befreiung und Selbstbestimmung gegen Jahrzehnte einer misogynen Unterdrückung.

In dieser Bilderflut aus Demonstrierenden und Kopftüchern, die wie Fahnen der Freiheit geschwenkt werden, zwischen Prügeleien, Elektroschockern, Rauch und Nebel, gibt es auch Videos und Bilder von Frauen, die sich wortlos mit Scheren die Haare schneiden.

 

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Unter einem Video mit über zwei Millionen Aufrufen ist zu lesen: „Heute vor genau zwei Jahren habe ich angefangen, Hijab zu tragen, heute habe ich meine Haare für #mahsaamini abgeschnitten.“ Videos von Frauen, die sich ohne Kopftuch im öffentlichen Raum bewegen, verbreiten sich. Sie ringen einem Bewunderung und Respekt ab, beispielsweise die unverhüllte Frau, die direkt neben zwei Polizisten sitzt, die verunsichert und verdutzt nicht wissen, was sie tun sollen. Diese junge Frau hier schneidet sich in Gegenwart der Ordnungskräfte ihre Haare ab.

@it.hanna #مهسا_امینی #mahsaamini #iraniangirl ♬ original sound – Hanna


Der aktuelle Proteststurm erscheint so groß, dass er in keinen Bildschirm passt. Am Mittwochmorgen gehörten zu den Top-Hashtags im Iran Beiträge über die Reaktion der Polizei auf die anhaltenden Proteste sowie ein weiterer, der im Wesentlichen so viel heißt wie: „Nein zur Islamischen Republik“.

Digitale Mobilisierung

In ihrem Buch „Twitter and Tear Gas: The Power and Fragility of Networked Protest“ (Twitter und Tränengas: Die Macht und Zerbrechlichkeit des vernetzten Protests) geht die interdisziplinäre Journalistin und Soziologin Zeynep Tüfekçi der Frage nach, welchen Einfluss digitale Mobilisierung auf soziale Bewegungen haben kann und inwiefern sie sich von der Bürgerrechtsbewegung in den USA im 20. Jahrhundert unterscheiden. Sie untersucht die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo 2011, die Gezi-Park-Proteste in Istanbul 2013, aber auch die Occupy-Bewegung, die 2011 begann. Hierfür hat Tüfekçi qualitative Interviews mit türkischen, libanesischen und ägyptischen Journalist:innen geführt und die Erkenntnisse mit ihren Datenanalysen über Netzwerkverhalten zusammengebracht.

Tüfekçi definiert „vernetzte“ Bewegungen, also Mobilisierungen, bei denen „die Rekonfiguration von Öffentlichkeiten durch die Aufnahme digitaler Technologien in ihr Gefüge“ erfolgt. Das heißt, im Gegensatz zum vordigitalen Zeitalter ist heutzutage „eine große, organisierte Demonstration oder ein Protest nicht als das Hauptergebnis“ einer Bewegung zu sehen; vielmehr sei heute die erste sichtbare Demonstration (also aktuell beispielsweise die brennenden Kopftücher oder Frauen, die ihre Haare abschneiden) nur „die erste Etappe einer möglicherweise langen Reise“. Die Proteste gegen Hijab-Zwang und Unterdrückung haben sich zu einer vernetzten Anti-Regierungs-Bewegung ausgeweitet, die von den Frauen im Iran in Gang gesetzt wurde.

Das hat auch die iranische Regierung begriffen, weshalb die Behörden nun den Zugang zu Instagram und WhatsApp blockieren. „Seit Mittwochabend ist es auch nicht mehr möglich, auf Instagram zuzugreifen, da dies von den Behörden angeordnet wurde. Auch der Zugang zu WhatsApp ist gestört“, berichtete die Nachrichtenagentur Fars News Agency, die unter Einfluss der iranischen Führung steht. Diese Maßnahme sei aufgrund „der über diese sozialen Netzwerke von Konterrevolutionären durchgeführten Aktionen gegen die nationale Sicherheit“ ergriffen worden, heißt es.

Der Autoritarismus des iranischen Regimes war schon lange auch im Digitalen aktiv, das zeigt sich besonders deutlich im Bereich der Informationstechnologien und der sozialen Medien. Tausende von „Cyberjuristen“ wurden eingestellt wurden, um soziale Medien zu überwachen und zu kontrollieren, aber auch um „die politische Opposition, die im Cyberspace agiert, zu ersticken“, wie Direktor des Iran-Programms am Middle East Institute in Washington D.C Alex Vatanka erklärt.

Das soziale Netzwerk Orkut war 2004 eine der am häufigsten genutzten Plattformen im Iran und hat den Kommunikationsfluss neu gestaltet. YouTube und Facebook waren ebenfalls beliebt, um Informationen zu erhalten und Videos von Protesten zu teilen. Nachdem diese blockiert waren, wurden WhatsApp und Instagram zu den beliebtesten und meistgenutzten Anwendungen im Iran. Das Land ist der siebtgrößte Markt der Fotoplattform.

Zusätzlich zu den Plattformblockaden filterten die Behörden nun den Zugang zum Internet oder schränkten ihn ein. Die Überwachungsorganisation „NetBlocks“ meldete auch einen „landesweiten Verlust der Konnektivität“ bei Irans Mail- und Mobiltelefonanbieter. Menschenrechtsexpert:innen der Vereinten Nationen urteilten, dass diese „Störungen in der Regel Teil der Bemühungen sind, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken und Demonstrationen einzuschränken“. 

Internetzugang für Iraner:innen ermöglichen

Die Twitter-Nutzerin Nonxens erklärt hier sehr verständlich, wie man Iraner:inner einen Zugang zum uneingeschränkten Internet ermöglichen kann. Das ist legal und läuft über eine Browser-Erweiterung namens „Snowflake“, wobei man im Grunde Menschen etwas Internetbandbreite zur Verfügung stellt.

Die Hacktivist:innen von „Anonymous“ haben  jetzt eine Aktion zur Unterstützung der iranischen Bevölkerung gegen die Online-Infrastruktur des Landes gestartet. Unter #OpIran (Operation Iran) hat die Gruppe eine Reihe wichtiger Regierungswebsites lahmgelegt und über 300 Sicherheitskameras in verschiedenen Teilen des Landes gehackt, zudem verbreiten sie unter dem Hashtag die Protestvideos aus dem Iran. Das Offline-Pendant dazu sind die Protestierenden, die im Vorbeigehen Beamten die Handys aus den Autos stehlen, damit die Polizei die widerständigen Menschen nicht mehr filmen und gegebenenfalls später sanktionieren kann.

Autoritäre Staaten verfeinern ihre Strategien der Oppression und missbrauchen Netzwerke und den Zugang als ein weiteres Unterdrückungsinstrument. Der iranische Geheimdienst schickt derzeit Nachrichten an die Bevölkerung, wonach sie bestraft werden, wenn sie an den Demonstrationen teilnehmen.

Aber nach der Empirie von Tüfekçis Analysen über vernetzte Bewegungen ist dieser Protest im besten Fall nur der Anfang. Die ARD-Journalistin Golineh Atai schreibt auf der letzten Seite ihres Buch „Iran – Die Freiheit ist weiblich“: „Die Kraft und Bewegung der Frauen wird niemand aufhalten.“ Sie schließt einem Gedicht der iranischen Dichterin Simin Behbahani:

Du willst mich auslöschen, ich aber werde nicht weichen von dieser Stätte

Ich werde weitertanzen, solange ich mich halten kann

(…)

Meine Stimme wird zu hören sein, solange ich lebe, in Wut, Getöse und Erhebung

Deine Steine und Felsen fürchte ich nicht, ich bin die Flut, du kannst meinen Fluss nicht bändigen

Indem die iranischen Frauen zu Naturgewalten wurden, erschütterten sie den Lauf einer patriarchalen Gegenwart. Das iranische Regime versucht dies mit digitalen Schleiern zu verbergen. Ich hoffe so sehr, dass sich ihre Flut nicht mehr bändigen lässt.

4 Kommentare

  1. Gelegentlich und in diesem Fall insbesondere sinkt der Informationswerk dieser Kolumne, wenn man im Vorhinein den Piratensender Powerplay gehört hat. Beinah alle Quellen, Takes, Hints in dieser Kolumne wurden bereits im Podcast besprochen, selbst aus dem Gesicht wurde vorgelesen. Gerade bei Inhalten hinter der Paywall ist’s – naja – ungünstig, wenn diese von der selben Autoren wo anders 4free zu bekommen sind.
    Ist das redaktionell bedacht/ relevant/eh ok?

  2. Vor Rührung steigen mir die Tränen in die Augen. Dieser Mut, diese Wut.
    Ich glaube, nicht viele Menschen, können ermessen, was für einen Mut das erfordert.

  3. Zurecht wird hervorgehoben, dass die iranischen Frauen bei den Protesten eine glanzvolle Rolle spielen. Daneben ist aber meiner Meinung nach sehr wichtig zu verstehen, dass hier die iranische Jugend – also Frauen wie Männer – mutig um ihre Freiheit und Zukunft kämpfen. Gott gebe, dass sie gewinnen!

  4. „wenn man im Vorhinein“

    und das macht jede/r?

    mir hat es was gebracht: jetzt läuft snowflake auf dem pc und orbot auf dem smartphone.

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