NDR-Justiziar ließ NDR-Artikel über NDR löschen
Gestern Vormittag hat das neue, unabhängige Investigativteam des NDR, das sich gerade gegründet hat, um im eigenen Haus und der ARD zu recherchieren, einen ersten Artikel auf tagesschau.de veröffentlicht. Gestern Abend ließ ihn der Justiziar des Senders vorübergehend löschen.
Es geht in dem Stück um die Leiterin des Hamburger NDR-Landesfunkhauses. Sabine Rossbach soll sich von der Redaktion des Regionalmagazins „Hamburg Journal“ häufiger Beiträge über Veranstaltungen und Themen gewünscht haben, die Kunden der PR-Agentur ihrer Tochter betreffen. Nach Recherchen des NDR-Investigativteams kannte die Geschäftsleitung des NDR diese Vorwürfe schon seit fünf Jahren. Sie sei dem Verdacht, dass es Verstöße gegen Compliance-Regeln gegeben haben könnte, aber damals nicht nachgegangen.
Der Artikel des Investigativteams war von einem Mitarbeiter des NDR-Justiziariats abgenommen worden – das ist üblich bei heiklen Recherchen und Veröffentlichungen. Auf Wunsch von Chefjustiziar Michael Kühn ist nach Informationen von Übermedien eine Aufgabenteilung vereinbart worden: Einer seiner Mitarbeiter soll für die Betreuung solcher journalistischen Recherchen zuständig sein. Kühn selbst hingegen soll die Interessen des Hauses nach außen vertreten – so der Plan, der Rollenkonflikte vermeiden sollte, wenn der NDR über den NDR berichtet.
Doch Kühn ließ den Artikel nach Informationen von Übermedien am späten Dienstagabend auf tagesschau.de löschen, weil darin ein Fehler enthalten sei. Es geht um den Satz:
„Den möglichen Interessenkonflikt hat die Landesfunkhauschefin nach Recherchen der NDR-Investigativeinheit aber nie gegenüber ihren Mitarbeitern ausdrücklich offengelegt oder transparent gemacht.“
Das ist wegen des kategorischen „nie“ eine schwer zu beweisende und möglicherweise nicht zutreffende Behauptung. Gegenüber dem „Business Insider“, der zuerst über Vorwürfe gegen Rossbach berichtet hatte, hatte eine NDR-Sprecherin gesagt, der Redaktion sei bekannt gewesen, „dass die Tochter der Landesfunkhaus-Direktorin eine PR-Agentur betreibt“. Das NDR-Investigativteam formulierte, es sei ein „offenes Geheimnis“ gewesen.
Selbst wenn die konkrete Formulierung angreifbar sein sollte, ist die vollständige Löschung des Artikels eine drastische und unverständliche Maßnahme. Sie zeigt, wie heikel es ist, wenn der NDR hier in doppelter Rolle agiert: als Enthüller und als durch die Enthüllungen angegriffenes Unternehmen.
Kühn scheint sich an die versuchte interne Rollenteilung jedenfalls nicht zu halten. Das offenbar mit den Rechercheuren unabgesprochene Vorgehen stellt auch die Arbeit und Unabhängigkeit des Investigativteams in Frage.
(Nachtrag, 9. September: Kühn weist darauf hin, dass er juristisch die Letztverantwortung für alle NDR-Beiträge hat, die er insofern auch nicht delegieren kann.)
Seit heute Nachmittag ist der Artikel nach rund 16 Stunden wieder online, mit einer redaktionellen Anmerkung: „Die erste Version dieses Beitrags wurde aus juristischen Gründen geändert.“ Der problematische Satz wurde verändert zu:
„Den möglichen Interessenkonflikt hat die Landesfunkhauschefin nach Recherchen der NDR-Investigativeinheit aber gegenüber den Mitarbeitern des NDR Hamburg Journals offenbar nicht ausdrücklich offengelegt oder transparent gemacht.“
(Hervorhebung von uns)
Nachtrag, 16:50 Uhr. Juliane Leopold, die Chefredakteurin Digitales ARD-aktuell, erklärt dazu auf unsere Nachfrage:
„Im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen die Landesfunkhausdirektorin des NDR in Hamburg haben Autorinnen und Autoren des NDR am 6. September einen Artikel auf tagesschau.de veröffentlicht. Am späteren Abend gab es juristische Hinweise aus dem NDR zu dem Artikel. Diese Hinweise wollte ich prüfen. Um das zu machen und mich der Rechtssicherheit zu vergewissern, habe ich die programmliche Entscheidung getroffen, den Artikel kurze Zeit offline zu stellen. Solch ein Vorgehen kommt sehr selten vor, ist aber im Rahmen programmlicher Entscheidungen möglich. Der Artikel ist nun nach Prüfung mit einer leichten Überarbeitung wie geplant wieder online und mit einem Disclaimer der Redaktion von tagesschau.de versehen.“
Übersehen wurde bei dem ganzen Hin und Her übrigens offenbar eine andere Version des inkriminierten Artikels auf den Seiten von NDR info. Die war und ist unverändert in ihrer Ursprungsversion online.
Ist denn Eure Überschrift noch korrekt, wenn die Aussage im „Nachtrag“ stimmt?
Moin. Ist Eure Überschrift dann noch richtig, wenn Juliane Leopold sagt, sie hätte den Artikel offline genommen?
Naja, sie hat den Artikel offline genommen, nachdem der Justiziar sagte, der Artikel müsse offline genommen werden. Ich sehe da gar keinen Widerspruch. (Oder stehe ich da auf der Leitung?)
Sie sagt, SIE habe die Entscheidung getroffen und das sei eine programmliche Entscheidung gewesen. Für suggeriert die Überschrift, der Justiziar habe hier irgendwas entschieden, was demnach aber nicht so war.
Wenn eine Formulierung in einem Satz in einem Absatz nicht ganz lupenrein formuliert ist, und man sich verständlicherweise völlig frei von Angriffspunkten halten will, UND wenn das die Entscheidung der Redaktion wäre – würde die Redaktion nicht einfach den Satz oder Absatz löschen, statt des ganzen Artikels?