Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
Am vergangenen Donnerstagmittag hat Volker Thormählen, der Leiter des NDR-Landesfunkhauses Schleswig-Holstein, die Belegschaft kurzfristig zu einer Online-Besprechung geladen. Knapp 200 Menschen sehen live beim zweistündigen „Open Talk“ zu, aber Thormählen ahnt schon, dass das Publikum deutlich größer sein würde. „Wir sind uns bewusst, das ist keine interne Veranstaltung“, sagt er gleich zu Beginn. „Das hat, wenn ihr so wollt, den Charakter einer Pressekonferenz. Weil wir wissen, dass Dinge, die wir hier sagen, eine Stunde später online stehen können.“
Thormählen sagt auch: „Das ist kein schönes Gefühl heute, das ist ein Scheißtag.”
Sein Haus sieht sich heftigen Vorwürfen ausgesetzt, die am Abend vorher das Online-Magazin „Business Insider“ veröffentlicht hat. Kritische Berichte über CDU-Ministerpräsident Daniel Günther sollen abgeschwächt oder verhindert worden sein; mehrere Redakteure beschwerten sich im vergangenen Jahr gegenüber dem Redaktionsausschuss, es gebe einen „politischen Filter“ beim NDR in Kiel, und es herrsche ein „Klima der Angst“.
Volker Thormählen sagt: „Hier wird ein Bild gezeichnet, was aus meiner Sicht – und das kann ich auch sagen: aus Sicht sehr, sehr vieler Kolleginnen und Kollegen – nicht das wahre Bild des Landesfunkhauses im NDR ist.“
Es geht konkret vor allem um die Berichterstattung über Hans-Joachim Grote (CDU), der im April 2020 im Streit mit Daniel Günther von seinem Amt als Innenminister zurücktrat. Die Umstände sind dubios und strittig.
Ein damaliger NDR-Journalist – „Business Insider“ nennt ihn „Stefan Z.“ – wirft Politikchefin Julia Stein und Chefredakteur Norbert Lorentzen vor, ein Interview mit Grote verhindert zu haben. In einem Film zum Thema seien darüber hinaus Schrifttafeln mit besonders kritischen Aussagen Grotes gegenüber Daniel Günther entfernt worden.
Die Redaktionsleitung stellt das im Online-Meeting als alltäglichen redaktionellen Konflikt dar: Für das Interview sei es nicht der richtige Zeitpunkt gewesen; die Schrifttafel sei entfernt worden, weil der Beitrag ohnehin schon für einen Fernsehbericht zu viele Texttafeln enthalten habe. Der Autor sei anderer Meinung gewesen, über so etwas könne man immer streiten und über so etwas werde auch immer gestritten. Aber von einem politisch motivierten Eingriff, etwa um den Ministerpräsidenten zu schützen, könne keine Rede sein.
„Wir haben zu keinem Zeitpunkt Beiträge entschärft oder Berichterstattung entschärft“, sagt Julia Stein.
„Wir hatten die Causa Grothe/Günther über Wochen und Monate wirklich intensiv im Programm“, sagt Volker Thormählen, „facettenreich, vielfältig, auch kritisch. (…) Wir haben intensiv recherchiert und viel Kapazität in das Thema gesteckt.“
Doch Stefan Z. blieb damals nachhaltig unzufrieden und hatte das Gefühl, dass seine Argumente trotz zahlreicher Gespräche nicht gehört wurden. Nach einigen Monaten wandte er sich deshalb an den Redaktionsausschuss, der unter anderem für solche „Programmkonflikte“ zuständig ist. Der legte im September 2021 einen Bericht vor, den er im Dezember 2021 noch einmal ergänzte. Im konkreten Streit stellte er sich klar auf die Seite von Z.:
„Der Redaktionsausschuss ist nach wie vor der Meinung, dass das Interview mit dem ehemaligen Innenminister Hans-Joachim Grote hätte geführt werden müssen. Die von Julia Stein und Norbert Lorentzen angeführten Gründe – es nicht zu tun – überzeugen den Redaktionsausschuss nicht.“
Der Redaktionsausschuss schrieb einerseits, dass hier der Eindruck entstehe, dass der NDR voreingenommen sei, macht sich andererseits den Verdacht, „dass eine politische Motivation dahinterstehen könne“, „nicht zu eigen“. Es müssten dazu – auch innerhalb des Landesfunkhauses – unbedingt kritische Fragen gestellt werden. „Das ist allerdings aus unserer Sicht bislang nicht ausreichend geschehen.“
Der Redaktionsausschuss berichtete auch, dass Kolleginnen und Kollegen von großem internen Druck sprächen. Es sei auch gezielt versucht worden herauszufinden, wer sich an den Redaktionsausschuss gewandt hat. Dessen Verfahren sind vertraulich.
Z. arbeitet inzwischen nicht mehr beim NDR in Kiel. In dem Online-Meeting am Donnerstag sagt er, er sei „geschockt“, dass die Unterlagen an die Öffentlichkeit gekommen seien.
Der Bericht kursiert allerdings schon seit Monaten unter Journalisten. Es gab offenbar auch immer wieder Anfragen dazu von Medien, die in der Sache recherchierten. Aber an die Öffentlichkeit kam er erst jetzt. Der „Business Insider“ stellt ihn in unmittelbaren Zusammenhang mit den Affären beim rbb, obwohl die Vorwürfe nichts miteinander gemein haben – außer dass es um angebliche oder tatsächliche Verfehlungen in einer ARD-Anstalt geht.
„Ich hatte mit dem Fall abgeschlossen“, sagt Z. im NDR-Online-Meeting. Das sei auch die Antwort gewesen, die mit der Pressestelle des NDR für die diversen Presseanfragen abgesprochen gewesen sei: „Dieser Fall ist aufgearbeitet und abgeschlossen.“ Es gebe am Ende dieser Aufarbeitung keinen Konsens, aber das sage dieser Satz auch nicht.
Dann musste er aber erfahren, dass die Pressestelle gegenüber „Business Insider“ diesem Statement noch Antworten hinzugefügt hat, die „fehlerhaft, meinem Eindruck nach sinnverzerrend, teilweise unwahr“ waren; „Punkte, die mit mir nicht abgesprochen waren, in deren Zusammenhang ich aber genannt wurde“. Der NDR korrigierte diese Punkte auf seine Intervention gegenüber „Business Insider“.*
Die Vorwürfe zum Arbeitsklima und dem angeblichen „politischen Filter“ wies der Sender gegenüber „Business Insider“ zurück, gab aber an, die Kritik ernst zu nehmen: „Der Austausch darüber dauert bis heute an.“
Am Freitag brachte der „Stern“ neue Vorwürfe: Es geht um eine Alkoholfahrt eines ehemaligen CDU-Abgeordneten und Vertrauen des Ministerpräsidenten, über die der NDR nicht berichtet habe. Das „bewerten wir rückblickend als Versäumnis“, erklärte der Sender gegenüber dem „Stern“.
Dieser Fall ist im Sender-Meeting am Donnerstag noch kein Thema, aber die ebenfalls erhobenen Vorwürfe, der Sender in Kiel sei zu regierungs- oder Günther-nah, werden diskutiert. Es geht um eine angeblich grundsätzliche Nähe zwischen Berichterstattern über Landespolitik und Landespolitikern.
„Ohne eine gewisse Nähe und vertrauliche Kontakte kriegt man keine Information“, sagt Julia Stein. „Das sagt jeder. Das ist auch so. Ein bestimmtes Maß an vertraulichen Informationen wollen wir. Weil wir Exklusivinformationen auch wollen. Nichtsdestotrotz gibt es bestimmte Grenzen, die dabei nicht überschritten werden können.“
Im Bericht des Redaktionsausschusses war auch die Rede davon gewesen, dass intern teilweise nicht vom Ministerpräsidenten Daniel Günther oder seinem Stellvertreter Heiner Garg (FDP) gesprochen werde, sondern von „Daniel“ oder „Heiner“. Chefredakteur Norbert Lorentzen und Funkhausleiter Volker Thormählen erklären aber eine mögliche persönliche Nähe für komplett irrelevant. „Ich finde es wirklich nicht entscheidend, ob sich Mitarbeiter unseres Hauses mit Regierungsvertretern oder Oppositionsführern oder Fraktionsvorsitzenden oder sonst wem duzen oder siezen“, sagt Lorentzen:
„Ich finde es überhaupt nicht entscheidend, ob man denen vielleicht sogar noch freundschaftlich verbunden ist. Für mich ist immer entscheidend: Was machen wir im Programm? (…)
Kann man aufgrund unseres Programms sagen, da ist etwas irgendwie weggefiltert worden, da ist Einfluss genommen worden?“
Er könne da in keiner Form eine Filterung erkennen. Und die internen Abläufe und Prozesse, bei denen gemeinsam über Vorschläge und ihre Umsetzung entschieden werden, verhinderten jede Schlagseite durch persönliche Befangenheit: „Eine Filterung von Information, eine Ausrichtung von Programm, womöglich auch noch politisch, das geht in dieser Verfasstheit, in der wir sind, überhaupt nicht mehr.“
Volker Thormählen formuliert das ganz ähnlich und sagt: „Zum Thema politischer Filter kann ich sagen: Das gibt es nicht. Das gibt es nicht!“ Er weist auch Forderungen zurück, die Parteimitgliedschaft von leitenden Sendermitarbeitern offenzulegen: „Das ist Privatsache. Wo fangen wir an und wo hören wir auf? Das ist ein Bürgerrecht, dass man sich demokratisch engagieren kann und einer Partei beitreten kann. Ich finde uns im NDR sehr plural. Was ist damit geholfen, wenn wir Parteimitgliedschaften offen legen? Ich finde das nicht sinnvoll.“
Politikchefin Julia Stein dagegen sagt: „Ich schließe es für die Rolle der Politikchefin aus, dass man Parteimitglied sein kann. Ich bin nicht Parteimitglied. (…) Ich glaube, dass man sonst in der Leitung auch in einen Konflikt kommt, weil man einen Anschein erweckt, und diesen Anschein muss man ja nicht erwecken.“
Für Volker Thormählen, dem ebenso wie Norbert Lorentzen eine CDU-Mitgliedschaft zugeschrieben wird, gilt dagegen: „Die Ausgewogenheit von Programm kann nur am Programm diskutiert werden – durch Inaugenscheinnahme des Programms.“ Tatsächlich finden aber auch in dieser NDR-internen Runde nicht alle den Befund eindeutig. Eine Mitarbeiterin kritisiert: „Wir denken häufig die Opposition in der Berichterstattung nicht so mit, wie wir es müssten, und auf Nachfragen heißt es dann: Das machen wir dann später.“
Thormählen beschließt die Runde dennoch mit dem apodiktischen Satz: „Wäre unsere Berichterstattung nicht ausgewogen, wäre uns das längst um die Ohren geflogen.“
Gerade sieht es allerdings so aus, als gerate da einiges ins Fliegen.
Nachtrag, 15:20 Uhr. Wir hatten hier zunächst ungenau formuliert, worüber genau sich Z. beschwert hat und haben die Darstellung korrigiert.
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
Gibt es einen solchen „Redaktionsausschuss“, oder eine vergleichbare Institution (zB einen Ombudsmann) eigentlich auch in anderen Landesfunkanstalten? Das wäre doch mal ein Thema für einen eigenen ÜM-Artikel.
Mal unabhängig von den Inhalten der Kontroversen im Einzelnen – es spricht für den NDR, dass es einen solchen Redaktionsausschuss gibt.
Etwas Vergleichbares wünschte man sich für auch für andere Medien. Spontan fällt mir der Springer-Konzern ein, BILD hätte so etwas dringend nötig. Da sollte sich der „Business Insider“ mal dahinterklemmen.
@#2 Martin Keiper
„….. fällt mir der Springer-Konzern ein, BILD hätte so etwas dringend nötig. Da sollte sich der „Business Insider“ mal dahinterklemmen… “
eher nicht. Der Business Insider gehört auch zum Axel Springer Verlag
@#3 Jothaka: Sie haben den Witz nicht verstanden!
Klar. Der Filter existiert aber in den Köpfen und selbstverständlich nicht als NDR-„Dienstanweisung“. Kleines lokales Beispiel: Unser Bürgerbegehren gegen lokalen Schulumzugs-Irrsinn in Brunsbüttel wurde monatelang vom Heider-NDR-Studio komplett ignoriert. Aber gleich an dem Tag, als wir es zurückgezogen haben, weil Stadt (CDU), Kreis (CDU) und Land (CDU) es trickreich, zeitlich verzögert und damit verhindert haben, meldete es der NDR-Rundfunk sofort…. wörtlich: „…damit ist das vom Tisch.“ Auf meine Beschwerde hat der NDR auch nach 8 Wochen nicht sachlich reagiert.