Bahn-Streik in Großbritannien

Wie der britische Weselsky zum Social-Media-Star wurde

In Großbritannien streiken die Bahn-Mitarbeiter:innen – Zugpersonal, Bahnhofspersonal, Stellwerk-Mitarbeiter:innen, Gleisbauer:innen und so weiter. Und wie man das von Streiks im Öffentlichen Personenverkehr so kennt, ist die mediale Aufregung groß. Denn das spüren alle. Im Gegensatz zu anderen Streiks, die nicht auffallen: In Uni-Kliniken in Nordrhein-Westfalen hat das Personal aus verschiedensten Fachbereichen seit acht Wochen die Arbeit niedergelegt – und kaum jemand interessiere sich dafür, bemängeln nun sogar auch verschiedene Medien.

In Deutschland hat der Vorsitzende der Gewerkschaft der Lokführer (GdL), Claus Weselsky, die zweifelhafte Ehre, personifizierter Buhmann vieler Medien zu sein, wenn er mal wieder alle Züge stehenlässt. Sogar Satireformate wie „extra 3“ teilen hier gerne aus, denn Weselsky merke nicht, „wie sehr der Streik an unseren Nerven sägt“.

Der Weselsky des Vereinigten Königreichs heißt Mick Lynch. Der Generalsekretär der „National Union of Rail, Maritime and Transport Workers“ ist in der vergangenen Woche zu einem Social-Media-Superstar mutiert. Was an Interviews wie diesem liegt:


Hier suggeriert Sky-Moderatorin Kay Burley, Urgestein des britischen Fernseh-Nachrichtenjournalismus, mehrfach, es könne an den Streikposten („Picket Lines“) zu Gewalt kommen. Sie referiert dabei auf den berüchtigten „Miners’ Strike“ zu Zeiten Magret Thatchters, bei dem es Anfang der 1980er Jahre zum Teil zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen gekommen war. Eine aufgrund der vorgegebenen harten Linie der Regierung völlig entgrenzte Polizeigewalt hatte allerdings erheblichen Anteil daran. Die Auseinandersetzungen forderten mehrere Tote und Tausende Verletzte und Verhaftete.

Mick Lynch jedoch lässt sich davon nicht beeindrucken und erklärt der zusehends entnervten Moderatorin ein ums andere Mal, dass man Streikbrecher an den Posten anspreche und darum bitten werde, nicht zur Arbeit zu gehen – und sonst nichts.

Dass die Moderatorin das Interview auch noch mit der Behauptung posted, Lynch sei „flustered“ gewesen (übersetzt: „aus der Fassung geraten“ ), sorgte bei vielen Kommentatoren in den Sozialen Medien für Belustigung: So schreibt der Journalist James Greig auf Twitter, dieses Framing sei zum Schreien, er habe selten jemanden gefasster gesehen als Mick Lynch in diesem Interview. Und tatsächlich ist es vor allem die Moderatorin, die zusehends die Nerven verliert.

„Machen Sie sich mit einem Erzschurken gemein?“

„TalkTV“-Moderator und Trump-Freund Piers Morgan (über den wir auch an anderer Stelle berichtet haben) versuchte sich an einer kleinen Schmutzkampagne, in dem er Mick Lynch statt zum Streik zu dessen privatem Facebook-Profil befragte. Der „Vorwurf“: Dieses zeige den fiktionalen Kriminellen und Terroristen „The Hood” aus der Marionetten-Serie „Thunderbirds“ aus den 1960er Jahren, der Lynch äußerlich ähnelt. Lynch bezeichnete das Bild schlicht und ergreifend als Scherz. Morgan scheiterte kläglich, mit dem Versuch, Lynch in die Nähe eines terroristischen Agitators zu rücken. Stattdessen fragte Lynch, „ob das das Niveau sei, auf dem sich Journalismus dieser Tage bewege“.


Bemerkenswert ist, dass auch Morgan ähnlich wie Burley offenbar glaubt, er käme dabei als tougher Journalist gut weg und das Interview stolz verbreitet.

Und so oder so ähnlich geht es seit Tagen: Mal wird Lynch gefragt, ob er Marxist sei, mal überführt er einen Kontrahenten der Lüge und mal antwortet er auf die Frage einer BBC-Journalistin, ob er sich bei einem konservativen Politiker entschuldigen möchte mit: „Nein Jonathan sollte sich für all den Unsinn entschuldigen, den er redet.“ Es folgt eine Aufzählung von Fakten, die der Politiker anschließend wenig entgegensetzen kann.


Medien das 1×1 der Gewerkschaften erklären

Der Comedian Chris Kehoe fasst zusammen:

„Alles, was Lynch machen musste, war in einfachen zu erklären, was die Grundprinzipien von Gewerkschaftsarbeit sind. Es ist, als sähe man ihm dabei zu, wie er einer nach dem anderen erklärt, dass 2+2=4 sind, während sie ihn unterbrechen und danach fragen, was Zahlen sind und ob er Suppe mag.“

Und in der Tat ist es ein unglaubliches Vergnügen, Lynch dabei zuzusehen, wie er denkfaulen, im eigenen Saft schwimmenden Journalismus und konservative Politiker, für die dasselbe zu gelten scheint, live on air zerlegt. Oder wie ein weiterer Twitter-Kommentar meint: „Es ist wie die Szene aus Terminator, in der er von Raum zu Raum geht und die ganze Polizei-Station auslöscht.“

Dies gelingt unter anderem deswegen, weil Lynch etwas tut, das eigentlich journalistische Aufgabe wäre: speaking truth to power – den Mächtigen mit der Wahrheit entgegnen. Wenn die Regierung und die Geschäftsführer der Bahn-Gesellschaften Lohnkürzungen fordern, weil die Inflation ohnehin galoppiere, antwortet Lynch wie aus der Pistole geschossen mit deren Jahresgehältern. Er beklagt kenntnisreich, aber präzise, dass die arbeitende Bevölkerung gerade angesichts der Inflation immer ärmer wird, während ein kleiner Teil Top-Verdiener:innen und Superreiche immer mehr Vermögen anhäufen. Und er benennt Fakten, die medial kaum eine Rolle spielen.

Klassenkampf mit Social Media

All das hat ihn und den Streik mittlerweile im Gegensatz zur medialen Perzeption außerordentlich populär gemacht, es gibt eine ganze Reihe Memes und Remixes seiner Interviews.


Dieser Erfolg existiert offensichtlich nicht nur auf Social Media: Laut einer Umfrage des renommierten, zum British Polling Council gehörenden Meinungsforschungsinstituts „Savanta ComRes“ halten trotz des medialen Sperrfeuers 58 Prozent der Befragten den Streik für gerechtfertigt – in den jüngeren Altersgruppen und bei Labour-Wähler:innen sind es rund drei Viertel der Befragten. Der britische Gewerkschafts-Dachverband „Trades Union Congress“ gibt an, die Zugriffe auf das „Trete einer Gewerkschaft bei“-Online-Angebot seien um 800 Prozent gestiegen.

Es ist also sehr fragwürdig, wenn Kay Burley meint, ihre Art suggestiver, streik- und gewerkschaftsfeindlicher Interviews geschehe „im Namen und zum Wohle der britischen Öffentlichkeit“ – ebenso wie es fraglich ist, ob wirklich eine Mehrheit der Deutschen von der GdL und Claus Weselsky (der übrigens vor wenigen Tagen mit 97 Prozent im Amt bestätigt wurde) „genervt“ sind, wenn diese streiken. Journalist:innen, deren Zug nicht kommt, sind dafür kein Maßstab.

2 Kommentare

  1. „Postete“, nicht „posted“.

    Wenn jemand Inflation als Argument für Lohn_kürzungen_ nennt, sind Streiks kein Wunder.
    Oder anders ausgedrückt, wenn die Bahner dann nicht streiken, wann sonst? Bei Einführung der Leibeigenschaft?

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