Amok-Alarm in Bremerhaven

Mehr unbestätigte Gerüchte gleich bei „Bild“

„There’s almost never a second shooter“ – „Es gibt fast nie einen zweiten Schützen“. So steht es auf einem Spickzettel zum Umgang mit Breaking News, veröffentlicht vom National Public Radio in den USA.

Screenshot: npr.org

Der Spickzettel richtet sich vor allem an Mediennutzer*innen und ist aus dem Jahr 2013. Auch in Deutschland gibt es eine ähnliche Anleitung, die speziell jüngeren User*innen helfen soll, in sogenannten Lagen den Überblick zu behalten: Was ist Fakt, was ist Gerücht, was sollte ich tun – und was lassen. Die entsprechenden Sharepics stammen von „#Use The News“, einem Gemeinschaftsprojekt, an dem unter anderem die dpa und Medienpartner wie ARD, ZDF, „Der Spiegel“, RTL und die Bundeszentrale für politische Bildung beteiligt sind. Den Springer-Verlag mit „Welt“ und „Bild“ sucht man dort, aber dazu kommen wir gleich noch, übrigens vergebens.

Die „#Use The News“-Sharepics sollen dabei helfen, „cool [zu] bleiben bei Katastrophen News“. Als heute in Bremerhaven am Lloyd-Gymnasium ein Amok-Alarm ausgelöst wurde, verbreitete „#Use The News“ seine Tipps für kritischen Medienkonsum in solchen Nachrichtensituationen. Auch hier findet sich der Hinweis auf Gerüchte, etwa zu Opfern oder „noch mehr Tätern“.

Screenshot: Twitter/@UseTheNews2024

Aus aktuellem Anlass

Man möchte meinen, der Amok-Alarm sei Anlass genug, diese hilfreichen Kacheln zu verbreiten. Ein Blick auf den Tweet von „#Use the News“ zeigt aber, dass es mindestens eine weitere Notwendigkeit dafür gibt.

Polizeieinsatz und eine verletzte Person nach Schüssen an einer Schule in #Bremerhaven: Ein Verdächtiger wurde laut Medien festgenommen, eine Zeitung sprach kurz einem zweiten Verdächtigen. 👉 Da helfen unsere Tipps für kritischen Medienkonsum in solchen Nachrichtensitutationen

Und jetzt raten sie mal, welche Zeitung das Gerücht eines zweiten Täters prominent in die eigene Berichterstattung aufgenommen hat?

Schon in der „Eilmeldung“ um 10:40 Uhr schreibt „Bild“ (und ich zitiere hier nun den vollständigen Artikel, hier archiviert)

EIN VERLETZTER
Schüsse an Schule in Bremerhaven

Am Lloyd-Gymnasium in Bremerhaven sind Schüsse gefallen. Das meldet die zuständige Polizei.

Ein Mensch wurde schwer verletzt. Die Polizei konnte einen mutmaßlichen Täter festnehmen, ein zweiter Täter befinde sich wohl mit Armbrust auf der Flucht.

Mehr gleich bei BILD.

Nach allem, das wir bisher wissen, hat es gar keinen zweiten Täter (wohl aber eine Armbrust) gegeben. Dass die Polizei das Gelände absucht, um genau das auszuschließen, ist, so bizarr das klingen mag, Routine. Eine solche Einordnung erfährt man sogar in einer Lautsprecherdurchsage an die Schüler*innen des Gyymnasiums, die auf dem Nachrichtenportal „Nord24.de“ der „Nordseezeitung“ bereits um 11:55 Uhr veröffentlicht wurde.

Es handelte sich also bei dem angeblichen zweiten Täter offenbar um ein reines Gerücht. Die Polizei geht von einem einzelnen Täter aus.

Rund 45 Minuten später findet sich das Gerücht im mittlerweile etwas längeren „Bild“-Artikel zunächst nicht mehr. Dafür dann aber wieder in den späteren Versionen in der merkwürdigen Formulierung:

Gerüchte, dass ein zweiter Täter flüchtig ist, bestätigten sich bisher nicht.

Wer jetzt glaubt, die „Bild“ folge hier vermutlich einem Fehler einer Presse-Agentur, etwa der dpa, der irrt.

Weder in der dpa-Meldung von 10:49 Uhr, um 11:04 noch in der um 11:38 noch in späteren Updates und Zusammenfassungen steht etwas von einem möglichen zweiten Täter.

Täter schießt an Schule in Bremerhaven – eine verletzte Person
Bremerhaven (dpa) – An einer Schule in Bremerhaven ist am Donnerstag geschossen worden. Ein Mensch sei verletzt worden, sagte eine Polizeisprecherin. Ob es sich dabei um ein Kind oder eine erwachsene Person handelte, war zunächst unklar.

dpa um 10:49 Uhr

Wäre es zu viel verlangt, dass nun mal jemand bei Springer auf die Idee kommt, dieses Gerücht, solange es sich nicht mit Fakten untermauern lässt, aus der Berichterstattung herauszulassen?

Offenbar. Als hätte es nie vorher vergleichbare Situationen gegeben. Als würde die Meldung von einem angeblich frei herumlaufenden, weiteren Täter Eltern und deren Kinder, die nach einer Gewalttat in einer Schule ausharren müssen, nicht in Angst und Schrecken versetzen können, spielt man bei „Bild“ Journalismus, nur halt ohne das nötige Handwerkszeug.

4 Kommentare

  1. spielt man bei „Bild“ Journalismus, nur halt ohne das nötige Handwerkszeug.

    Das klingt ein bisschen so, als wollten sie schon, können aber einfach nicht. Und wenn es – wie es ja kurz zuvor sogar steht – „nie vorher vergleichbare Situationen gegeben“ hätte könnte ich das vielleicht sogar glauben.
    Da sich „Bild“ aber immer so benimmt, vorhersehbar und mit Anlauf, bin ich mir ziemlich sicher, dass die genau wissen, was sie tun und welche Wirkung das hat. Es ist ihnen schlichtweg scheißegal, weil es ihr Geschäftsmodell ist und für sie funktioniert.

  2. Ich bin leider Zyniker: Die Bild macht sowas nicht obwohl, sondern *weil* es vorher vergleichbare Situationen gab.
    Letztlich geht man da ganz nach der Analytik. Und die zeigt, dass die Klicks explodieren, wenn man als einziger den vermeintlichen „Scoop“ hat.

    Ich würde mir ja wünschen, dass es mangelnde Sorgfalt ist, aber beim Springerverlag ist es traditionell einfach nur Skrupellosigkeit und Gier.

  3. „(…) spielt man bei „Bild“ Journalismus, nur halt ohne das nötige Handwerkszeug.“

    Das ganze Elend in einem Halbsatz.
    Wer spielt nutzt kein Handwerks-, sondern Spielzeug.
    Wer spielt, sieht seine Beschäftigung nicht als Handwerk, sondern als Zeitvertreib.
    Wer spielt, kann doch nicht in böser Absicht handeln. Right?
    *insert Episode 2 Meme*

    „Wäre es zu viel verlangt, dass nun mal jemand bei Springer auf die Idee kommt, dieses Gerücht, solange es sich nicht mit Fakten untermauern lässt, aus der Berichterstattung herauszulassen?“
    Nach 17 Jahren bildblog habe ich den Eindruck, dass es sich bei Kommentar #2 nicht um Zynismus sondern um evidenzbasierte Wissenschaft handelt.

  4. Hier passt irgendwie immer noch, was Günter Wallraff schon vor 40 Jahren geschrieben hat – wenn auch seine Interpretation natürlich keine Faktenaussage ist, sondern eine nicht überprüfbare Spekulation über die Motive der BILD:

    „Monster, menschenfressende Möwen, ein Killer-Bussard, gräßliche Vogelspinnen, unbemannte Flugkörper, eine explodierende Sonne – BILD hat für seine Leser immer den schrecklichsten Schrecken parat. Wer Angst hat, ist manipulierbar. Wem Angst gemacht wird, der kommt nicht zum Denken. Aufklärung – das ist für BILD der Volksfeind Nr. 1.“ („Zeugen der Anklage“, S. 65)

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