Wochenschau (121)

Der Krieg ist kein Marvel-Film

Ich habe an dieser Stelle schon zweimal über Timothy Mortons Konzept des Hyper-Objekts geschrieben. Der amerikanische Hochschullehrer und Ökologie-Philosoph meint damit etwas, das so groß, umfassend und zeit- wie ortlos ist, dass wir es in seiner Gesamtheit nicht wahrnehmen können. Etwas, das über uns hinausgeht. Die Klimakrise ist so ein Hyper-Objekt, die Coronapandemie, der globale Finanzmarkt.

Analog dazu möchte ich Anton Jägers Idee einer Hyper-Politik vorstellen, die der Doktorand aus Cambridge in einem kürzlich erschienenen, lesenswerten Aufsatz vorgestellt hat. Seine Vorstellung von Hyper-Politik bedeutet im Wesentlichen, dass die Menschen im Vergleich zu den traditionellen Parteimitgliedschaften früherer Zeiten heute miteinander lockere Mitgliedschaften eingehen. Dadurch tritt ein Zustand permanenter Politisierung ein, in der alles Politik ist. Er beschreibt hierbei den Übergang von einem post-politischen Zeitalter, in dem wir annahmen, das Politische hinter uns gelassen zu haben und eine Entpolitisierung auch als Errungenschaft gefeiert wurde – wir erinnern uns an die spaßgesellschaftlichen Neunziger und die technokratischen und marktorientierten Zweitausender Jahre .

Es ist die Allgegenwart des Politischen, die sich in jeden Aspekt des Lebens einschleicht; „auf dem Fußballplatz […], in populären Netflix-Sendung und in der Selbstbeschreibung von Menschen in sozialen Medien“, und die mit einer Ästhetisierung der Politik einhergeht. Trotz dieser Übersättigung des Bewusstseins findet zugleich praktisch keine tatsächliche Politik statt.

Jäger erklärt:

Die ‚Hyper-Politik‘ zeichnet sich jedoch auch durch ihren spezifischen Fokus auf zwischenmenschliche und persönliche Gepflogenheiten aus. Das drückt sich vor allem in Moralismus aus und in der Unfähigkeit, die Dimensionen kollektiver Kämpfe zu durchdenken. Die ‚Hyper-Politik‘ tritt an die Stelle der ‘Post-Politik’, aber eben nicht in den Politik-Formen, die uns aus dem 20. Jahrhundert vertraut sind. Sie ist die Form, die der politische Konflikt annimmt, wenn es keine Massenpolitik mehr gibt. Die Frage, was die Menschen besitzen und kontrollieren, wird dabei zunehmend durch die Frage ersetzt, wer oder was die Menschen sind […].

Ich würde diesen Gedanken der Hyper-Politisierung des Alltags, insbesondere in sozialen Medien sichtbar, um einen Aspekt erweitern: dass die Entwicklung zum Post-Politischen auch mit dem Ablaufen eindeutiger Narrative einherging.

Die Digitalisierung, die Wirtschaftskrise – wir erleben ein postfaktisches Zeitalter in unserer Kommunikation wie in der Politik; die Klimakrise und die Pandemie haben den Globus in einen grundlegend veränderten Zustand der Unverortbarkeit der Krisen versetzt, in welcher die strukturellen Defizite besonders deutlich und gleichzeitig besonders fragmentarisch werden.

Narrativieren on demand

Die Wirklichkeit bietet keine konsistenten und/oder ikonischen Narrative. Der Kalte Krieg war in seiner Erzählung eindeutig, das narrative Angebot war wesentlich kleiner und durch die traditionellen Medien als Gatekeeper auf eine Weise reguliert, dass die Narrative eine gesamtgesellschaftliche Relevanz sowie Konsistenz und damit ein längeres Haltbarkeitsdatum hatten. Diese Konsistenz der Erzählungen erfolgte auch aus der Endlichkeit der Nachrichtenangebote: wenige Nachrichtensender, die im Allgemeinen sehr sorgfältig auswählen mussten, welche Geschichten sie verbreiteten, eine abgeschlossene Zeitung ein Mal pro Tag. Die daraus resultierende Selbstsicherheit gipfelte in Francis Fukuyamas (in seinem Allgültigkeitsanspruch grandios missverstandenen) Begriff vom „Ende der Geschichte“.

Heute haben wir dank sozialer Medien gewissermaßen ein beschleunigtes Narrativieren on demand. Im Rahmen einer digitalen Öffentlichkeit haben wir zudem eine inflationäre Fülle an Identifikations- und Affektangeboten einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft, die global vernetzt ist und die ihr Geschichtenerzählen und -verbreiten im Rahmen einer digitalen Öffentlichkeit für viele sichtbar präsentiert.

Narrative sind hierbei zu einer Währung geworden, und der Grund, warum es wichtig ist, „Narrativ“ und nicht einfach „Nachrichten“ zu sagen, ist, dass all diese neuen Informationen aus Fakten, Meinungen und reiner Fiktion, sowohl bemerkt als auch nicht, bestehen.

Die Marvelisierung des Krieges

Ein Effekt dieser Hyper-Politisierung einerseits, der Sehnsucht nach Narrativierbarkeit andererseits, führt vielleicht zu dem, was Autor Max Read in seinem Newsletter als „Marvelisierung des Krieges“ weiterdachte  – ein Begriff den er von „Wired“-Autorin Kate Knibbs zitierte, die die Verpopkulturisierung des Krieges mithilfe der Referenzen auf Comic-Helden beanstandete. Auch von „Telegraph“-Autorin Poppie Platt wird diese „Marvelisierung“ heftig kritisiert:

Fanboys haben einen blutigen, realen Konflikt in Memes und TikTok-Videos verwandelt. Es ist eine beängstigende Entwicklung im Propagandakrieg.
(Übersetzung von uns)

Die hermeneutische Verfügbarkeit macht diese cineastischen Referenzen verführerisch, auch ich hatte in einem Interview  den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj tatsächlich mit „Hawkeye“ verglichen, dem bogenschießenden Helden aus dem Marvel-Kosmos, gespielt von Jeremy Renner.

In der losen Ähnlichkeit mit dem Schauspieler und mit dem kognitiven Reflex, diesen Krieg als asymmetrischen Kampf mit klar verteilten Rollen wahrzunehmen, funktionierte die innerliche Parallelisierung des ukrainischen Präsidenten mit einem Bogenschützen in Funktionskleidung, der grimmig blickend gegen eine der größten Atommächte der Welt aufbegehrt, zu gut. Aber natürlich ist die popkulturelle Trivialisierung dieses Krieges zugleich ein unterkomplexes Anbiedern an ein meme-affines Publikum und auch die (nachvollziehbare) Heldenverehrung des sich sehr effektiv inszenierenden Selenskyj eine für die aktuellen Kriegshandlung problematische. Kate Knibbs von der Zeitschrift „The Wire“ schreibt:

Zu glauben, dass die russische Invasion in der Ukraine eine Gräueltat ist und dass Selenskyj sich mutig verhält, bedeutet nicht, dass es klug ist, die glotzäugige Logik des Fandoms auf seine Handlungen anzuwenden. In der Tat ist es ausgesprochen unklug. Selenskyj wie einen Superhelden zu behandeln – nennen wir es Marvelisierung – spiegelt einen geopolitischen Konflikt wider, in dem reale Menschen zu Unterhaltung, zu Inhalt werden. Als Russland Kiew bombardierte, veröffentlichte die New York Post einen Artikel darüber, wer Selenskyj in der unvermeidlichen Verfilmung des Konflikts spielen könnte. (Der Konsens: Avengers-Darsteller Jeremy Renner.)
(Übersetzung von uns)

Screenshot der New York Post mit einem Aufmacherbild von Selesnkyj und Schauspieler Jeremy Renner
Screenshot: nypost.com

Insgesamt findet man überdurchschnittlich viele Memes, die die Kriegsprotagonisten Selenskyj und Putin als AvengersFiguren übersetzen, so als sei der Konflikt etwas, das ein Achtjähriger gerade in seinem Kinderzimmer mit Actionfiguren ausficht. Wenn Selenskyj nicht „Hawkeye“ ist, dann gerne als Captain Ukraine, der gegen Vladimir Thanos antritt.

Selenskyj und Putin als Marvel-Figuren
Screenshots: reddit/gerald9090x, twitter/@posh_k; Collage von Übermedien

Als eine Erklärung für die Memefizierung nennt der Economist die schiere Verfügbarkeit von Bildern, die nun mit dem Krieg assoziiert werden können, während es „in der Vergangenheit einem kleinen Wunder gleichkam, einen Moment wie den des Mannes auf dem Tian’anmen, der 1989 versuchte, einen Panzer durch die Kameras von CNN zu stoppen, unsterblich zu machen“.

David gegen Goliath

Genau wie in der kognitiven Verfügbarkeit unserer inneren mentalen Referenzschubladen, die uns visuelle Parallelen herausholen und zur Einordnung verwenden lassen, bedingt auch das unendliche Archiv des Internets einen permanenten Remix und das assoziative Verkleben von Wirklichkeit und Kultur, von Realitätsbildern und Comic-Motiven. Es geht um diese Verfügbarkeiten, weil uns das Verständnis und ein anderes visuelles Vokabular fehlt, die Abstraktion eines Krieges für uns und andere zu übersetzen.

Und das führt mich zurück zu der Fragmentierung der Narrative nach dem Kalten Krieg und der Hyper-Politisierung. Welchen Referenzrahmen sollten junge Menschen nutzen, wenn sie in ein posthistorisches Zeitalter geboren sind, das sich eben genau durch popkulturelle, hedonistisch apolitische Erzählungen und Einordnungen auszeichnet, die dann in den 2000er Jahren in den Deutungsrahmen aus technokratischem Plattformästhetiken und Finanzmarktlogiken überging? Die Konsequenz ist ein Verständnis von Informationsvermittlung und Konsum in der Logik einer Aufmerksamkeitsökonomie und ein kulturelles und hyperpolitisches Ernstnehmen beispielsweise eines Disney-Franchises, das die Lücke für historische Referenzen recht pragmatisch schließt. Anders als etwa die Babyboomer-Generation werden Jüngere nicht die dankbare Eindeutigkeit eines Kalten Krieges als intertextuelle Erzählung heranziehen können oder wollen.

Dabei ist das marveleske Kinofilm-Narrativ ja nicht mal neu, sondern eine über die Jahrhunderte konsistente und universelle Deutungsschablone, wir kennen es schon aus der Bibel: David gegen Goliath. Früher hätte man also die Angegriffenen vielleicht nicht mit Pfeil und Bogen oder Schild inszeniert, sondern mit einer Steinschleuder. Die narrative Reduktion wäre gleich geblieben.

David gegen Goliath

Das Problem an diese Parallelisierung, schon immer und dank der verbreitbaren Memefizierung besonders: Das Betrachten der Memes ist eine reine Dechiffrierung, eine Verständigung darüber, dass man denselben Deutungsrahmen benutzt und sich als Teil eines Publikums begreift, das diese Referenzen teilt. Ein Meme erfordert jedoch keine Auseinandersetzung oder Reflektion des Dargestellten, im Gegenteil: Der Trick ist (sobald man dechiffriert hat, wer mit wem gleichgesetzt wird) die angenehme, die entlastende Eindeutigkeit. Wie Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt zu sagen pflegt: „Man schaut nur, aber man sieht nicht“.

Memes, unterhaltsame Onlinebilder und Videohäppchen sind dazu da, konsumiert zu werden. Und wenn sie nachvollziehbarerweise genutzt werden um den Krieg zu übersetzen, führt das unwillentlich dazu, dass der Krieg zu etwas gemacht wird, das online konsumiert wird. Content für Internetnutzende, ein Spektakel im Smartphoneformat. Nachdem wir den angebotenen Bissen geschluckt haben, scrollen wir weiter zum nächsten ästhetisierten, hyperpolitisierten Affektangebot, um beständig wahrzunehmen, aber nicht für wahr zu nehmen. Diese Dynamik wird zwar durch die Form der Plattformen verstärkt, ist aber nicht neu.

Der Medienphilosoph Jean Baudrillard beschrieb dies bereits 1991 in „La Guerre du Golfe n’a pas eu lieu (Der Golfkrieg hat nicht stattgefunden)“ und erklärte, wie der Golfkrieg zu einem hyperrealen Simulakrum wurde: mit dauerhaft verfügbaren Bildern, Kriegsberichterstattung auf 24 Stunden-Kanälen, von anderen visuellen Inhalten nicht mehr zu unterscheiden:

Die ‚Echtzeit‘-Information verliert sich in einem völlig unwirklichen Raum und liefert schließlich die Bilder des reinen, nutzlosen, augenblicklichen Fernsehens, in das seine ursprüngliche Funktion einbricht, nämlich ein Vakuum zu füllen und das Loch auf dem Bildschirm zu stopfen, durch das die Substanz der Ereignisse entweicht.

Der ehemalige Wrestler und Schauspieler John Cena, der gerade den Antihelden „Peacemaker“ an der Seite von „Superman“ und „Aquaman“ in der DC-Welt spielt, twitterte Ende Febraur:

Wenn ich irgendwie die Kräfte eines echten #Peacemaker heraufbeschwören könnte, wäre dies ein großartiger Zeitpunkt, dies zu tun.

Wird alles hyperpolitisert, dann ist es natürlich auch ein Comicfilm, der im Internet mit einem Angriffskrieg geremixt wird. Dabei sollte man aber nie vergessen: Krieg darf nicht zu unserem neuen Kino werden.

8 Kommentare

  1. In dem Zitat des Economist über Tianmen Square scheint in der Übersetzung die Satzstruktur etwas durcheinandergekommen zu sein.

  2. Verdammt nochmal, liebe Samira, deine Kolumn ist ja immer lesenswert, aber ich habe lange nichts mehr gelesen was ich auf so knappen Zeilen so durchgehend klug, ~insightful~ und augenöffnend fand. Ich möchte jeden Satz unterstreichen und „Ja!“ danebensetzen. Danke!

  3. Ja, das ist eben das Problem mit Narrativen.
    „David gegen Goliath“ war eine Deutungsschablone, die Leute ermutigen soll, weiterzukämpfen, wenn der Gegner schon in die Eisenzeit vorgerückt ist.
    Der Unterschied heutzutage ist, dass das hübsche Bilder in den sozialen Medien sind. Der alte Wein in alten Schläuchen, aber neue bunte Etiketten.

  4. Das Finden und das Bedienen eines Narrativs ist eines, es gegen ein anderes zu verteidigen nochmal eine ganz andere Geschichte. Kann man schön auf der vermeintlichen Fun Plattform 9gag beobachten, die in den letzten Jahren gefühlt eher nach rechts gedriftet ist und zu einem kruden Propaganda Sumpf für toxische Maskulinität, Trumpismus, Russentrolls und Incels geworden ist. Man könnte vermuten dass hier das FOX Newssche Putinsche Narrativ vorherrscht, aber wenn man sich die Up- und Downvotes sowie die collapsed comments so anschaut, bleibt von der oben genannten Klientel ein Zehntel übrig. Der Marvelisierung des Pro Ukraine Lagers haben sie nichts entgegen zu setzen. Sie wirken hysterisch und hilflos. Hätte ich so nicht erwartet.

  5. Okeee.
    Also, ich sehe Thanos-Putin einfach als Witz, um mit dem Ernst der Lage klarzukommen. Keine politische Aussage, außer über sich selbst, weil das so überzogen unrealistisch ist.

  6. Anders: Gehen wir mal zurück zu 9gag. Eigentlich als eine Meme-Plattform angelegt und in Hongkong beheimatet unterliegt sie nicht Putins Zensur. De facto ist es also eine valide Möglichkeit, um die infotechnisch isolierten Russen zu erreichen. Schwarzenegger hat für sein Video mit dem Aufruf an das russische Volk alle Kanäle genutzt, die ihm zur Verfügung standen, auch 9gag. Somit kann man diesen Channel getrost als ein Kampfgebiet um das Narrativ des Ukraine-Krieges sehen. Und da es immer noch in erster Linie eine Meme- und Witzeplattform ist, ist die Memifizierung des Krieges hier quasi fast schon Pflicht, um erfolgreich zu sein. Und erfolgreich ist man, wenn es immer noch Krieg heißt und nicht „militärische Operation“. Eines der dort gezeigten Memes zeigt die Umbenennung verschiedener Dinge und Personen in Russland, da man ja nicht mehr „War“ sagen darf ohne ins Gefängnis zu kommen. Aus Andy WARhol wird dann Andy MILITARY-OPERATION-hol, aus den leckeren und beliebten WAReniki dann MILITARY-OPERATION-niki, etc. Die Message ist klar: Eure Euphemistischen Umdeutungen sind lächerlich. Krieg ist Krieg.

  7. „Er beschreibt hierbei den Übergang von einem post-politischen Zeitalter, […]“
    Habe den Abschnitt jetzt mehrfach gelesen, aber: Fehlt da das „zu“ (Übergang von … zu …)?

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