Narrative Kriegsführung

Warum wir das Klima falsch erzählen

Eine starke Geschichte kann die Welt verändern, Wahlen entscheiden, Menschenleben retten. Aber sie kann auch Kriege auslösen und Ungerechtigkeit zementieren. In ihrem gerade erschienenen Buch „Erzählende Affen“ verfolgen Samira El Ouassil und Friedemann Karig diese ambivalente Wirkungsmacht anhand wichtiger Narrative von der Antike bis zur Gegenwart. Sie zeigen, welche Erzählungen uns heute gefährden und warum wir neue benötigen.

Mit freundlicher Genehmigung der beiden veröffentlichen wir einen Auszug aus dem Kapitel, das sich mit den Narrativen – auch und gerade im Journalismus – beschäftigt, die verhindern, dass wir auf die Klimakrise angemessen reagieren.


Alles, was wir über die Welt erfahren, sortieren wir in bestehende Erzählungen ein. Informationen, die wir erhalten, werden mithilfe narrativer Schablonen in unsere mentale Rohrpost eingeordnet.

Hier ein Beispiel dieser selektiven Wahrnehmung: Studien ergeben, dass unser Empfinden von Wetter und Temperaturen davon abhängt, ob wir an die Klimakrise glauben oder nicht. Menschen, die nicht daran glauben, berichten von niedrigeren Temperaturen als solche, die das tun. Bauern in Illinois, die man zu ihren jüngsten Erfahrungen mit dem Wetter befragte, betonten Extremwetterereignisse oder spielten diese herunter – je nachdem, ob sie die Klimakrise akzeptierten oder nicht. Und wenn unsere Ingroup um uns herum nicht daran glaubt, wieso sollten wir es dann tun?

Dan Kahan, Professor für Rechtswissenschaften, konstatiert in Bezug auf die Klimakrisenkommunikation: „Die Fähigkeit demokratischer Gesellschaften, das Wohlergehen ihrer Bürger zu schützen, hängt davon ab, einen Weg zu finden, diesem Kulturkampf mit empirischen Daten entgegenzuwirken.“ Er erklärt, wie die narrativen Schablonen sowie ihre wiederkehrenden Elemente, also „die Identität der Helden und Bösewichte, die Art ihrer dramatischen Kämpfe und der moralische Einsatz ihrer Auseinandersetzungen auf erkennbare und wiederkehrende Weise in verschiedenen kulturellen Gruppen [variieren].“

Dementsprechend sollten Risikokommunikatoren ihre Botschaften so gestalten, dass diese den narrativen Vorlagen der unterschiedlichen Gruppen entsprechen. Denn erst wenn die Form ihnen kulturell entgegenkommt, werden die Inhalte innerhalb der Gruppen Beachtung finden. Jede Gruppe pflegt dabei eigene, verführerisch plausibel klingende Narrative, welche die eigene Sicht bestätigen – oft mit Hilfe eingeübter Archetypen und Masterplots:

1. Die Rivalität zwischen Ökologie und Ökonomie

Fälschlicherweise werden Ökologie und Ökonomie gerne gegeneinander ausgespielt. Erstens, weil der Masterplot der Rivalität einen Konflikt intuitiver macht, zweitens, weil wir uns kognitiv schwer damit tun, Kosten-Nutzen-Rechnungen anzustellen, die sich für uns auf langfristige Sicht rentieren. Die kurzfristigen Verluste, welche Teile der fossilgetriebenen Wirtschaft, beispielsweise die Automobil- oder Ölbranche, verzeichnen würden, werden als so furchteinflößend dargestellt, dass sie die Zukunft, die wir durch die Rettung der Welt erwirtschaften können, seltsam verzwergen. Die Veränderung des Status quo fordert uns zu stark heraus, als dass uns der Vorteil durch einen positiven Wandel auf abstrakter Ebene attraktiv erschiene. Das simpelste Argument – wenn es keine lebensfähige Erde mehr gibt, wird es auch keine Wirtschaft mehr geben, die man noch schützen kann – verfängt nicht.

Ein Grund hierfür ist die von Daniel Kahneman erforschte sogenannte Verlustaversion, die bedingt, dass Menschen in Entscheidungssituationen viel empfindlicher auf Verluste als auf Gewinne reagieren. Die Verlustaversion wird durch die behauptete Rivalität zwischen Ökologie und Ökonomie besonders gefördert. Menschen glauben, dass sie sich für eines von beiden entscheiden müssen, und schlagen sich deshalb auf die Seite der Ökonomie, weil ihnen das im Rahmen ihres persönlichen Vorteils plausibler erscheint. Die Klimakrise in ihrer Abstraktheit ist insofern das perfekte Beispiel einer Verlustaversion: Jetzige Defizite und Einschränkungen für zukünftige Gewinne schmerzen ganz konkret, wohingegen Zukunft immer per se unsicher ist – die Gegenwart will also unbedingt ausgekostet werden.

Daraus ergibt sich ein journalistisches Abbildungsproblem: Lange Zeit (und stellenweise noch heute) kam in der Berichterstattung über die menschengemachte Klimakrise auf jede Aussage eines Klimaforschers ein Vertreter der Öllobby oder ein reaktionärer Politiker zu Wort. Der eine vertrat die Zukunft, der andere die Gegenwart. Beide Seiten und ihre Argumente wurden somit als faktisch gleichwertig präsentiert.

Diese dichotome Darstellung des Themas, bei der Erkenntnisse der Wissenschaft und Ansichten aus der Wirtschaft einander gegenübergestellt wurden, während es zwischen beiden so gut wie keinen Konsens gab, sorgte lange dafür, dass der Klimadiskurs wie ein meinungsbasiertes Gespräch wirkte, bei dem verschiedene Sichtweisen gleichmäßig verteilt waren. Im englischsprachigen Raum bezeichnet man diese falsche Ausgewogenheit als false balance. Sie entsteht aus der Hoffnung, eine rigorose Ausgeglichenheit könnte Vorurteile aufbrechen und die Realität am wahrhaftigsten und fairsten abbilden. Letztlich führt sie aber zu einer verzerrten Darstellung des Sachverhalts: Die Wissenschaftlerinnen warnen forschungsgestützt vor einer zerstörten Zukunft, die andere Seite will in der Gegenwart weiter Geld verdienen.

Doch schon eine Ebene tiefer, rein naturwissenschaftlich betrachtet, ist der Gedanke vom Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie falsch. Ohne halbwegs intakte Ökologie keine Chance auf florierende Ökonomie. Ein Kurs voller Kompromisse, der das Klima nur ein bisschen schützen will, um nicht zu viel ökonomische Veränderung einfordern zu müssen, löst eine sich exponentiell verschlimmernde Krise nicht. Im Gegenteil: Allein die Existenz der sogenannten Kipppunkte mit ihren irreversiblen Verwerfungen des Weltklimas, beispielsweise dem Abreißen des Golfstroms, disqualifiziert die Erzählung von einer maßvollen Mitte als klügstem Weg. Ein solcher Ausgleich wäre wie ein Auto, das aus Angst vor Extremen konsequent in der Mitte der Straße fährt.

Patient Kyahi, der Rektor der Grundschule in Sake in der Demokratischen Republik Kongo, steht in einem Klassenraum. Schwere Regenfälle und Sturm ließen den Mutahyo-Fluss über die Ufer treten. Der Schlamm stand bis zu einen Meter hoch in dem Gebäude. Foto: sibylle desjardins / Climate Visuals Countdown

2. Wir werden verzichten müssen und Dinge werden verboten – der Ikarus‐Plot

Verzicht! Verbote! Verzweiflung! Das Verzichtsnarrativ bespielt ausschließlich die Angst vor einer ungerechten Entmündigung, die zur Bewältigung der Krise angeblich nötig sei. Den Menschen soll wie Ikarus das göttliche Feuer wieder weggenommen werden, sprich: all der Wohlstand, den sie sich doch so hart verdient haben.

Bei diesem Narrativ handelt es sich um eine Gruselgeschichte, die rationale Regulierungsansätze, wie sie in allen Politikfeldern ständig wirken, als dogmatisch übertriebene Gängelung anprangert. Tragödien, Abstiegsgeschichten oder Erzählungen ohne Happy End dienen zur Abschreckung. Wenn vermeintliche Verbote und Einschränkungen heraufbeschworen werden, werden der Staat, grüne Politikerinnen oder Aktivisten antagonisiert. Dass sie wie Räuber in der Nacht, oder schlimmer noch, allzu gestrenge Eltern kommen und der Gesellschaft alles Schöne, Behagliche und Luxuriöse wegnehmen, sodass man zu einem freudlosen Eremitendasein gezwungen wird, entspricht der Angst vor dem Absturz, nachdem wir dank Technologie und Fortschritt den höchsten Punkt von Wohlstand und Fortschritt erreicht haben. Und nun sollen wir nicht mehr so hoch steigen dürfen mit unseren selbst gebauten Flügeln, weil angeblich die Sonne zu heiß sein soll?

Natürlich dreht dieses Narrativ die Antagonistenrollen um, indem es Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen, Aktivistinnen und Forscherinnen als Angreifer auf unsere Lebensstile und unseren Wohlstand hinstellt und nicht diejenigen, die sich maßlos an den natürlichen Ressourcen bedienen. Ausgerechnet die Gandalfs und Hobbits werden damit zum bedrohlichen Sauron unseres kleinen modernen Auenlandes.

Die Ein-Wort-Geschichten „Verzicht“ und „Verbot“ werden also inflationär verwendet – sowohl in der politischen als auch in der journalistischen Kommunikation –, um erfolgreich die narrative Deutungshoheit zu behalten, während die Sachlage eigentlich eindeutig das Gegenteil erzählt. Aufmerksamkeitsökonomisch sind das wirksame Begriffe, und die Boulevardpresse zeigt immer wieder Beispiele dafür, wie sich mit angeblichen Verboten tagelang erfolgreich Stimmung machen lässt. Es ist bemerkenswert, wie sehr eine behauptete Einschränkung Menschen auf die Barrikaden locken und politische Energie kanalisieren kann. (Plädieren Sie im Netz zum Beispiel für ein Tempolimit. Sie werden überrascht sein, wie sehr sich besonders deutsche Männer über die Freiheit, auf Autobahnen zu rasen, definieren. Die Entfesselung auf der Autobahn scheint das wichtigste Elixier ihrer Heldenreise zu sein.)

Regulierungen von Aspekten unseres Lebensstils, die identitätsstiftend sein können – meine Mobilität, meine Essgewohnheiten, meine Konsumvorlieben –, werden als Angriff auf die eigene Freiheit und somit als Angriff auf das Selbst empfunden. Das tribalistische Momentum greift, und wir nehmen Einschränkungen persönlich.

Diese Erzählung zeigt aber auch sehr gut den narrativen Hebel, den man nutzen könnte, um Menschen von der Wichtigkeit klimapolitischen Handelns zu überzeugen: das Persönlichnehmen. Dazu muss man eine Erzählung finden, die uns die Klimakrise mindestens genau so persönlich nehmen lässt wie vermeintlich unfaire Einschränkungen. Wir müssen von den Einschränkungen für alle von uns erzählen, die eine Klimakatastrophe mit sich bringt. Wir müssen die wahren Antagonisten – raffgierige Konzerne, verantwortungslose Politikerinnen, gekaufte Wissenschaftler – klar benennen und auch ihr Vergehen: Raubbau an unserem gemeinsamen wertvollsten Gut – der Erde. Wir müssen eine mächtige Ingroup schaffen all derjenigen, die die Klimamärchen nicht mehr glauben und stattdessen handfesten Schutz unserer Lebensgrundlagen wollen.

Jedes abgeschaltete Kohlekraftwerk, jedes neu gebaute Windrad muss zu einem gefeierten Meilenstein auf der Heldenreise der Vernünftigen werden. Schon der Begriff „Vernunft“ muss zurückerobert werden von den Politikern, die faule Kompromisse als vernünftig verkaufen, die das Auto also in der Mitte der Straße steuern. Gegen diesen destruktiven Nichtangriffspakt zwischen den Antagonisten müssen wir anerzählen mit einer positiven Geschichte von gemeinsamer, friedlicher Veränderung.

Erst diese protagonistisch-protestierende Haltung vieler schafft ein mobilisierendes Gefühl von politischer Betroffenheit wie Selbstwirksamkeit – nicht zuletzt, weil man sich dank ihr als Widerständler inszenieren kann. Die Masterplots der Rettung, der Underdogs, der Metamorphose – sie erlauben uns die Erzählung einer fruchtbaren Rebellion: einmal Frodo sein und Held der eigenen Geschichte bleiben.

Einwohner von Ghoramara, 150 Kilometer südlich von Kalkutta, reparieren einen Damm gegen die Erosion des Bodens. Die Insel verschwindet rapide durch den Anstieg des Meeresspiegels. Foto: Debsuddha Banerjee / Climate Visuals Countdown

3. Hedonismus ist gleich Freiheit – die Aschenputtel‐Geschichte

Wohingegen das Märchen einer rebellischen Selbstbehauptung noch schöner wird, wenn man den eigenen zerstörerischen Lebensstil heroisiert. Erst durch Selbstentfaltung, so erzählt es diese Geschichte, erlangt der mündige Bürger die Freiheit, die ihm zusteht. Hedonismus wird damit der David-Kampf des kleinen Mannes gegen einen Goliath aus monströsen Klimafakten.

Im Grunde haben wir es hier mit einer Umkehrung des Verzichtsdiskurses zu tun. Anhänger dieses Narrativs glauben, dass sie sich ihr Dasein irgendwie verdient haben, zum Beispiel durch Arbeit und Fleiß, weshalb das Leben, das sie gegenwärtig führen, nicht falsch sein kann. Es ist eine verkappte (Selbst-)Gerechtigkeitserzählung, die unser Gefühl, uns stünden Ressourcen und Umwelt schlicht zu, auf eine Weise narrativiert, die uns im Destruktiven, im Verschwenderischen Held sein lässt. Um diese narrative Position einnehmen zu können, muss man die klima- tischen Entwicklungen allerdings massiv verdrängen – und besonders die eigene Rolle dabei.

Der US-amerikanische Psychologe Peter Kahn benutzt den Begriff der „environmental, generational amnesia“, also der „Umwelt-Amnesie der Generationen“. Danach betrachtet jede Generation den Zustand der Umwelt, mit welcher sie aufgewachsen ist, als den Normalzustand, unabhängig davon, wie verschmutzt sie ist. Die Definition von „der Natur“ ist somit relativ und von Generation zu Generation unterschiedlich: „Es gibt eine sich ändernde Grundlinie dessen, was wir als die Umwelt betrachten, und da diese Grundlinie verarmt, sehen wir sie nicht einmal“, meint Kahn.

In dieser Wahrnehmungsverzerrung wird auch das eigene Verhalten zum selbstverständlichen Nullpunkt, den man nicht nur bewahren will, sondern verteidigen muss. Die Flucht in den selbstheroisierenden Hedonismus ist zudem äußerst kompatibel mit der in der Terror-Management-Theorie erforschten Tendenz, sich in Anbetracht von Untergang und Tod Erzählungen zuzuwenden, die zum Schutz des Selbstwertgefühls beitragen. Ein Narrativ, das das maximale Genießen persönlicher Freiheiten trotz eines nahenden Kollapses des globalen Ökosystems als erstrebenswert und richtig verkauft, wirkt darum paradoxerweise besonders attraktiv.

Glaziologen beobachten das Schmelzen des Gepang Gath Gletschers im Himalaya. Foto: Rakesh Rao / Climate Visuals Countdown

4. Technologie wird uns retten – vom Tellerwäscher zum Millionär

Wer nur fest genug an sich glaubt, der findet immer eine Lösung? So ganz kann sich niemand diesem Mantra entziehen, denn es ist im Kern sehr produktiv. Nicht umsonst zeichnet den Menschen ein gewisser Fortschrittsoptimismus aus. So sagte Barack Obama während einer Präsidentschaftsdebatte 2008: „[Die Klimakrise] ist nicht nur eine Herausforderung; sie ist eine Chance.“

Damit bedient er das Narrativ, wonach sich der Mensch immer wieder neu erfindet und besonders im Angesicht von Bedrohungen und Krisen innovative Lösungen findet. Andernfalls hätten wir es als Menschheit niemals so weit gebracht. Kommunikationsexperte George Marshall erklärt, warum wir so gerne an so etwas glauben wollen:

In kognitiver Hinsicht appelliert die bright side1)Im Original bezeichnet Marshall diese Wahrnehmungsgewohnheit, in allem Schlechten auch eine positive Seite zu sehen, als bright-siding: Alles Negative werde mit unverwüstlichem Optimismus ausgeblendet. Da die deutsche Übersetzung nicht ganz funktioniert, haben wir den englischen Begriff benutzt. direkt an das emotionale Gehirn und durchläuft dessen Vorurteile mit Bravour. Sie ersetzt die Unsicherheit durch Zuversicht, kurzfristige Opfer durch das Angebot sofortiger Belohnungen in Form von Wohlstand und Status. Und sie kompensiert den Beigeschmack des Scheiterns und der Selbstzweifel, der mit dem Klimawandel einhergeht, durch ein übersteigertes Vertrauen in Technologie und Wirtschaftswachstum. […] Die bright side ist das Narrativ der Wahl für Unternehmer und Politiker und spiegelt ihre […] optimistische Verzerrung wider.

Hinzu kommt eine notorische Selbstüberschätzung der eigenen Problemlösungskompetenz. Der optimistic bias, wie ihn Kahneman erforscht hat, beflügelt die Wunschvorstellung von flinken Erfindern, die den gesamten Planeten zu heilen vermögen. Die Antagonisten sind in dieser Erzählung nicht die globalen Herausforderungen, sondern jene Menschen, die den Erfolg durch Innovation pragmatisch bis kritisch einschätzen; sie gelten als pessimistische Spielverderber, die nur nicht fest genug an den Einfallsreichtum der Menschheit glauben.

Die Insel Isle de Jean Charles verschwindet durch den steigenden Meeresspiegel in den Golf von Mexiko. Foto: Stacy Kranitz / Climate Visuals Countdown

5. Man kann ja eh nichts ausrichten: vom Millionär zum Tellerwäscher oder ein halber Mann‐im‐Loch‐Plot

Dieses Märchen ist eines der Resignation. Was kann ein Einzelner schon ausrichten? Sind wir nicht alle nur Spielbälle von Schicksal oder Politik, von Großkonzernen oder anderen, dunkleren Mächten? Ist es nicht ohnehin viel zu spät und sollten wir nicht die Jahre, die uns bleiben, lieber genießen, als uns für eine unlösbare Krise zu kasteien?

Wo wir uns ohnmächtig fühlen und wo uns keine Antagonisierung dazu bewegen kann, gegen eine globale Bedrohung zu handeln, verspüren wir auch keine Notwendigkeit, Verantwortung für ein Problem zu übernehmen, das sowieso unlösbar und überwältigend erscheint. Hier wird vielleicht auch deutlich, warum Schuld-Narrative im Falle des Klimaschutzes nur sehr bedingt verfangen: Möglicherweise fühlen wir uns ertappt und erkennen, dass auch wir Teil des Problems sind, aber wir fühlen uns nicht so individuell angesprochen, dass wir auch Verantwortung übernehmen würden. Die menschengemachte Klimakrise ist zu abstrakt, aber auch zu umfassend, als dass wir das Gefühl hätten, selbst etwas an ihr ändern zu können.

Der amerikanische Ökologiephilosoph Timothy Morton meint, die Klimakrise übersteige unsere Vorstellungkraft von Zeit und Raum derart, dass wir sie geistig nicht mehr wirklich fassen, sondern nur noch in einem metaphysischen Sinne ergründen können. Wir können nun einmal nicht einfach auf ein Thermometer oder auf eine Wetterkarte zeigen und sagen: „Das da ist die Klimaerwärmung!“ Morton definiert das Phänomen der globalen Erwärmung deshalb als eigenständiges Problem, das er „Hyperobjekt“ nennt. Da wir selbst Teil davon sind, können wir immer nur einzelne Aspekte begreifen – wie der Floh, der in einem Hundefell sitzt, niemals den gesamten Hund begreifen kann.

In der journalistischen Darstellung wurde die Klimakrise deshalb lange Zeit vor allem als halber „Mann im Loch“-Plot erzählt. Es ging immer um den Ist-Zustand und darum, wie die Menschheit in das Loch gefallen ist, aber viel zu wenig darum, wie der Protagonist wieder aus dem Loch klettert. Ja, wir müssen Emissionen senken, ja, wir müssen aus der fossilen Wirtschaft heraus – riesige Schritte, so komplex wie eben ein Hyperobjekt. So ließ sich kein denkbares Happy End anbieten – und also auch keine Hoffnung. Unser durch die Erzählstruktur bedingter Tiefpunkt lähmt allerdings jede Mobilisierung, denn die fehlende Aussicht auf einen möglichen Erfolg führt im schlimmsten Fall zu Verdrängung und Tatenlosigkeit. Oder aber sie macht umso empfänglicher für all die einfacheren Klimamärchen.

Kurzum: Man benötigt weiterhin einen Journalismus, der das Problem verständlich macht und dessen Tragweite vermittelt, aber man braucht ebenso eine konstruktive, lösungsorientierte Berichterstattung, um zu Verhaltensänderungen zu inspirieren. Erzählungen sind, wie wir wissen, in erster Linie inszenierte Problemlösungskompetenz – und davon brauchen wir sehr viel mehr. Der Kriegsberichterstatter Bill Blakemore, der in den US-Medien zu den entschlossensten Klimajournalisten zählt, hat es einmal so formuliert: „Der Klimawandel ist nicht der Elefant im Raum; er ist der Elefant, in dem wir alle stecken.“

Wenn wir die Klimakrise nicht als ein bloßes Phänomen, sondern buchstäblich als ein Objekt betrachten, in dem wir uns gerade befinden, so meint Morton, würden uns die Relationen zwischen Gesellschaft und Umwelt klarer werden, und wir würden die sichtbaren Schäden mehr auf uns und unser Handeln beziehen. Dann würden wir begreifen, dass wir Teil der von der Klimakrise betroffenen Umwelt sind.

Journalistisch könnte dieses Hyperobjekt also möglicherweise durch eine affektgeladene Berichterstattung und insbesondere auch durch den Einsatz von Bildern erfasst werden. Visuelle Eindrücke wie die vom brennenden Amazonas-Regenwald, von Bränden in Australien, Griechenland, Kalifornien und Kanada, von versehrten Tieren, Menschen und Architekturen erreichen uns vielleicht gerade deshalb, weil sie exemplarisch die Abstraktheit unserer Umwelt-Klima-Realität vermitteln, die sich normalerweise unserer Wahrnehmung entzieht. Wir brauchen solche konkreten Bilder und Beispiele, wenn wir über die Konsequenzen diskutieren wollen, die unsere politischen und individuellen Entscheidungen haben.

In Punjab in Indien brennen Bauern Stoppelfelder ab. Foto: Ishan Tankha / Climate Visuals Countdown

All diese eben beschriebenen Märchen entstehen nicht aus dem Nichts. Sie sind, zumindest in Teilen, Ergebnisse von millionenschwerer Propaganda, die vor allem die Fossilindustrie seit Jahrzehnten betreibt, offen oder versteckt. Allein ExxonMobil, einer der größten amerikanischen Ölkonzerne, hat auf vielen Ebenen entscheidend daran mitgewirkt, Narrative gegen den Klimaschutz zu etablieren. Wie eine ausführliche Harvard-Studie aus dem Jahr 2017 ergab, hielt man eigene Forschungen, die schon in den 70er- und 80er-Jahren zeigten, wohin ein ungebremster CO2-Ausstoß führen würde, bewusst zurück. Und griff gleichzeitig Forschungsberichte von anderen, die zu denselben Ergebnissen gelangten, massiv an.

Besonders die Individualisierung des Verzichtsnarrativs im Sinne von Märchen Nummer 2 geht auf das Konto der Industrie. So erfand der britische Ölkonzern BP den Ausdruck vom „CO2-Fußabdruck“, der jedem Menschen vor Augen führen soll, wie sehr man selbst schuld an der Misere sei. Das Perfide daran: Es stimmt. Jeder von uns emittiert CO2. Und doch liegt die entscheidende Lösungsebene für das Problem nicht im individuellen, sondern im politischen. Durch Ein-Wort-Narrative wie den CO2-Fußabdruck entpolitisierte man den Diskurs hingegen, lenkte die Aufmerksamkeit auf die private Ebene und schuf sich auf der politischen die Freiheit, weiter zerstörerisch zu wirtschaften. Der bereits erwähnte Klimaforscher Michael Mann veröffentlichte 2021 ein ganzes Buch über diese narrative Kriegsführung, das zu Recht den Titel „Propagandaschlacht ums Klima“ trägt. Bis heute, so Mann, wird hinter und vor den Kulissen gegen jeden Ansatz von Klimaschutz lobbyiert, zuletzt Anfang 2021 gegen Joe Bidens Green New Deal.

Fußnoten

Fußnoten
1 Im Original bezeichnet Marshall diese Wahrnehmungsgewohnheit, in allem Schlechten auch eine positive Seite zu sehen, als bright-siding: Alles Negative werde mit unverwüstlichem Optimismus ausgeblendet. Da die deutsche Übersetzung nicht ganz funktioniert, haben wir den englischen Begriff benutzt.

24 Kommentare

  1. Sehr sehr hilfreich, danke!
    Gibt’s das Ganze als „Thesenpapier“ (?!) noch mal irgendwo mit weniger Worten? Ich glaube, die Textmenge wirkt erst mal abschreckend.

  2. :-D Habe das Wort Verlustaversion zuerst als „Verlusta-Version“ gelesen und nicht als „Verlust-Aversion“ und ich grübelte und grübelte…

  3. Die Ikarus-Geschichte handelt von dem Nutzer einer neuen Technologie, der nicht auf deren Erfinder hörte, und deshalb umkam. Also eindeutig pro Wissenschaft.

    Ansonsten stelle ich jetzt kopfkratzend fest, dass es dann kein „richtig“ gibt.
    Will man darüber reden, welche Wirtschafts_zweige_ klimaschädlich sind, geht das nicht, wegen 1..
    Will man sich für Gesetze oder freiwilligen Verzicht aussprechen, geht das nicht wegen 2..
    Will jemand stattdessen darüber reden, wie man den derzeitigen Lebensstandard halten könnte, ist das das, was unter 3. kritisiert wird.
    Gibt es eine vielversprechende neue, klimaschonende Technik sollte man sie nicht erwähnen, um das 4. Narrativ nicht zu bedienen.
    Stellt man resigniert fest, dass man nicht einmal darüber reden kann, ist man bei 5. angekommen.

    Ich bin ja auch gegen manipulative Medien, aber gibt es keinen Mittelweg zwischen „false balancing“-Exzessen und „nur-nix-Falschmachen“-Leisetreterei?

  4. „Fälschlicherweise werden Ökologie und Ökonomie gerne gegeneinander ausgespielt.“

    Leider nicht fälschlich: Die Ökonomie ist eine kapitalistische, und Hunger ist ihr kein Grund zur Produktion – sondern allein die Bilanz im nächsten Verwertungszyklus. Gleiches gilt für Rohstoffe, Artenvielfalt, atembare Luft & Co. Ist kein böser Wille, sondern systembedingt. Die lange Sicht ist uninteressant, „on the long run, we are all dead.“ (Keynes)

    Der Kapitalismus lässt sich nicht abschalten, weil er viel mehr ist als die Aneignung gesellschaftlichen Reichtums durch Privatleute. Er ist längst zum Motor geworden, der die Menschheit am Laufen hält und sie zugleich auf den Abgrund zusteuert.

    Ein echtes Dilemma, das auf einer globalen, sozialen Praxis beruht – nicht auf einer falschen Erzählung. Eine falsche Erzählung ist eher die über die Versöhnung von Ökologie und (kapitalistischer) Ökonomie durch „Grünes Wachstum“.

  5. Promekarus trifft es!
    Das Verbots- resp. Freiheitsnarrativ ist ja, besonders mit dem Fokus auf das Auto, auch unabhängig vom Klimawandel schon viel absurder, als hier angedeutet. Vor allem in den Metropolen.
    Georg Dietz twitterte unlängst den bemerkenswerten Satz:
    „Wer Freiheit mit Tempo gleichsetzt, hat von beidem nichts verstanden“.
    Das Auto bedeutet für den Innenstadtbewohner tagtäglich Gestank, Krach, Stress und eine komplette Fragmentierung seines Bewegungsraumes. Durch den Trend zu immer größeren Fahrzeugen ( man kann ja so bequem einsteigen ) mit immer überflüssigeren Skills und der Tatsache, dass wegen der Pandemie Teile der Straßen als Gastronomie Außenfläche hinzugenommen wurden, ist jeder mögliche Quadratzentimeter, legal oder illegal, zugeparkt mit diesen Panzern. Kinder sind die Unfreiesten. Es gibt 3 mal mehr Fläche zum Parken pro Auto in jeder Stadt, als Quadratmeter zum Spielen pro Kind.
    Und nicht einmal die PKW Besitzer sind irgendwie frei. Sie parken sich ebenso selber dicht ( das Auto steht 95% der Zeit ) und das Fahren ist ein tgl. Trauma mit Stop-and-Go und unterschiedlichen Aggressionsleveln. Die Bewohner der Wüstenrot-Ghettos vor den Toren der Städte kennen ihren PKW besser als die eigenen Kinder.
    1,7 tonnen werden ø pro 70Kg Passagier bewegt. 280 Millionen Autositze für 82 Millionen Hinterteilen.
    Im Prinzip das Paradebeispiel für pathologisches Suchtverhaltens inklusive zahlloser Co-Abhängiger.
    Auf Kritik wird dann die Großmutter als Joker gezogen, die auf dem Hof im Wald JWD wohnt und nicht mehr zum Supermarkt kommt, ohne ihren Polo. Ihre Bewegungsfreiheit läßt sich nur erhalten, wenn man auch X7 in den Innenstädten subventioniert. Als Firmen/Dienstwagen, per Pendlerpauschale und was es sonst noch an Karbonsubventionen gibt.

  6. Solange unser Wirtschaftssystem über allem anderen steht und es weiterhin auf Wachstum basiert, kann es keine fundamentalen Änderungen geben ohne dass es zusammenbricht. Der Wachstumsgedanke muss aus den Köpfen verschwinden.
    Aber die persönliche Erfahrung zeigt, selbst die Menschen die man für vernünftig und intelligent hält wollen es nicht akzeptieren. Die neoliberale Agenda der letzten Jahrzehnte ist zu sehr in den Köpfen verankert.
    Man muss schließlich die „Freiheit“ haben sich jedes (oder jedes 2.) Jahr ein neues Auto zu leasen, natürlich alle Mitglieder des Haushaltes, sonst wäre ja nur einer „frei“.
    Und ein zweites un drittes mal im Jahr sollte man schon Urlaub machen dürfen etc.

    Aber das beste sind ja die panischen Reaktionen wenn es um das Wachstum geht. Sofort schreien sie das wäre ja dann wie in der DDR, ich bestell doch nicht mein Auto um es in ein paar Jahren zu bekommen etc.

    Und es ist einfach so ermüdend auf dieser Basis zu diskutieren da diese Einstellung absolut dogmatisch ist. Oftmals wird sogar der Prämisse, Wachstum geht nicht mehr, zugestimmt, aber das ändert trotzdem nichts an der Haltung.

    Ich bin eigentlich ein unverbesserlicher Optimist und habe große Hoffnung in die neue Regierung gelegt. Aber mit dem was ich so zu hören bekomme und was die neue Regierung bzgl. Klima vorhat, da seh ich doch sehr pessimistisch in die Zukunft.

  7. „Der Wachstumsgedanke muss aus den Köpfen verschwinden.“

    Das Problem ist weniger der Gedanke in den Köpfen als der Zwang in der Wirklichkeit. Die ganze ökonomische Struktur ist auf Wachstum ausgelegt – ohne Wachstum bräche schlicht die globale Produktion zusammen. Kein sanfter Übergang in eine Gleichgewichts-Ökonomie, sondern ein Kollaps mit Massenarbeitslosigkeit, Hungerkatastrophen und Staatspleite.

    Ein Problem, das Niko Paech und Kollegen leider vergessen, wenn sie die „Wachstumserzählung“ durch eine bessere Erzählung ersetzen wollen. Wie man da rauskommt? Keine Ahnung.

  8. „Die ganze ökonomische Struktur ist auf Wachstum ausgelegt – ohne Wachstum bräche schlicht die globale Produktion zusammen.“

    Das haben mir zwei Referendarskolleg:innen mit Abschluss in Wirtschaftswissenschaften vor 10 Jahren auch gesagt, als ich fragte, warum unser Wirtschaftssystem nur mit stetigem Wachstum funktioniert. Richtig erklären, warum das so ist, konnten sie mir aber auch nicht und ich verstehe es bis heute nicht wirklich. Warum ist das so und warum kann es nicht anders gehen?

  9. @Tobias: geht mir ähnlich, ich hab das auch noch nie verstanden.
    Ich kenne diese Aussage aber aus allen Richtungen, egal, aus welcher Sicht. Daher gehe ich auch immer davon aus, dass dem schon so sein wird, wenn selbst wirtschaftspolitische Gegner alle das gleiche sagen.
    Aber eine richtige Erklärung habe ich dafür noch nie gefunden und hätte nichts dagegen, wenn wir hier eine bekämen?

    Nicht, dass ich falsch verstanden werde: ich bin kein Kritiker dieser Sichtweise, ich verstehe sie tatsächlich ganz einfach nicht.

    Warum muss ein Unternehmen, was mit seinem Produkt soviel erwirtschaftet, dass es damit die Kosten tragen kann und etwas für Rücklagen übrig hat im nächsten Jahr mehr erwirtschaften, als heute oder vor 5 Jahren?
    Vielleicht ist die Antwort einfach, aber ich hörte sie noch nie.

    Was aber daran liegen kann, dass ich nie genug danach gesucht habe, auch möglich.

  10. @ Tobias (#12):

    „Warum ist das so und warum kann es nicht anders gehen?“

    Es liegt daran, dass der einzige Zweck des Kapitals darin besteht, Geld in mehr Geld zu verwandeln. Kurzer Ausflug zu Marx: Solange das Geld in einer Ökonomie nur eine vermittelnde Rolle spielt, braucht es kein Wachstum: Bauer A verkauft sein Getreide auf dem Markt, erhält Geld und gibt es bei Bauer B für Fleisch und Kartoffeln gleich wieder aus. Form bei Marx: Ware – Geld – Ware (kurz W-G-W). Die Ware und das durch sie befriedigte Bedürfnis sind der Zweck, das Geld ist das Mittel.

    Beim Kapital kehrt sich das Verhältnis um: Geld wird in die Produktion von Waren investiert, mit deren Verkauf Geld erziehlt werden soll. Form bei Marx: Geld – Ware – Geld (kurz G-W-G). Hier wird das Geld zum Zweck und die Ware zum Mittel. Geld befriedigt aber keine Bedürfnisse, es hat keine Qualität, sondern nur Quantität. Deshalb ergibt G-W-G nur Sinn, wenn am Ende mehr Geld da ist als zuvor, aus 100 Euro also 110 Euro geworden sind – G-W-G‘.

    Sofern es sich nicht um eine Einzelaktion handelt, werden diese 110 Euro nun reinvestiert und zum Ausgangspunkt eines neuen Durchlaufs – das alte G‘ ist das neue G, das neue G‘ sind 120 Euro. Und wieder geht es von vorne los.

    Händler haben schon in der Antike so gewirtschaftet, aber erst im Kapitalismus ist der Mechanismus G-W-G‘ zum Motor der Ökonomie geworden. Bis heute gibt es die Familienklitsche, die mit kostendeckendem Betrieb zufrieden ist und nur die eigenen Bedürfnisse finanzieren will (W-G-W). Alles, was über eine handvoll Angestellte hinausgeht, funktioniert aber auf G-W-G‘-Basis – aus ihr entspringt der irre Reichtum der Gesellschaft, aber auch das Elend und die Zerstörung der Natur.

    Was wäre nun, wenn man das Wachstum abschaffte? Nun, warum sollte jemand 100 Euro, Aufwand, Zeit und Risiko investieren, wenn er danach wieder 100 Euro hätte? Es gäbe kein G‘ mehr, keinen Gewinn und damit auch keinen Grund, weiterzumachen – 90 Prozent der globalen Ökonomie wäre die Geschäftsgrundlage entzogen (und die restlichen 10 Prozent würden mitstürzen, weil sie von den 90 Prozent abhängig sind).

    Und darum geht es nicht ohne Wavhstum, solange das Kapital die Menschheit am Laufen hält. „Der Prozess zehrt davon, dass die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken.“ (Adorno)

  11. Die Spannung zwischen Ökologie und Ökonomie besteht ja nicht darin, dass letztere wachsen muss, sondern darin, dass letztere keine annähernd 100%-Stoffrecyclingbilanz hat, im Unterschied zu ersterer.
    CO2 ist ein Abfallprodukt der Wirtschaft, welches diese nicht recycelt, wodurch es immer mehr wird, mit den bekannten Folgen.

  12. @KK

    Ich hatte schon verstanden, dass das Wachstum zu Reichtum führt und dass dieser Reichtum ein großer Motivator ist.
    Aber es zeigt für mich immer noch nicht, warum es ohne Wachstum einen Zusammenbruch geben sollte.

    Kostendeckend kann für den Unternehmer ja auch heißen, seinen „Unternehmerlohn“ so hoch anzusetzen, dass er sich Reich fühlt. Ohne, im nächsten Jahr sich noch reicher fühlen zu müssen.

  13. Ich glaube dennoch daran dass sich das ändern lässt. (Wie gesagt ich bin ein unverbesserlicher Optimist)
    Aber es ist ja logisch dass man nicht ein Baustein aus dem Gesamtgefüge nehmen kann und denkt es würde funktionieren.
    Es muss nicht nur das Wirtschaftssystem reformiert werden. Die gesamte Gesellschaft muss reformiert werden.

    Z.B. das Verhältnis zu Arbeit an sich.
    Die Abschaffung/Änderung des Wirtschaftssystems würde natürlich zu Massenarbeitslosigkeit führen mit allen Folgen.
    Da muss man einfach anfangen über den Tellerrand zu schauen. Wir müssten z.b. gar nicht so viel arbeiten wenn wir nicht die ganze Überproduktion hätten.
    Zudem kann man sich überlegen: Alle arbeiten weniger dafür gibt es für mehr Menschen Arbeit.

    Und so muss es in jedem Bereich des Lebens passieren. Eine fundamentale Änderung des Lebensstils.
    Und ja natürlich geht es nicht, da einfach Nägel mit Köpfen zu machen.
    Die einzige Möglichkeit ist ein langsamer Prozess.

    Und ja, ich bin mir sicher dass das funktionieren kann. Aber leider glaube ich nicht dass es passiert.
    Dafür müssten einfach zu viele Reiche und Mächtige auf ein Großteil ihres Wohlstands verzichten.

    Entschuldigung für diesen langen Kommentar. Und obwohl es nicht einmal ums Klima geht denke ich es passt trotzdem zum Thema.
    Denn ohne Moos nix los auch nicht beim Klima retten

  14. @KK: Vielen Dank für die anschauliche Erklärung. Das ist schon einleuchtend, dass das gegenwärtige System nur mit Wachstumslogik funktioniert, wenn Gewinnstreben und Geldvermehrung der Motivator ist. Habe mal den Wikipedia-Eintrag zu „Wirtschaftswachstum“ überfolgen, in dem es auch einen Abschnitt „Wachstumskritik“ gibt, die sogar einen eigenen Hauptartikel hat (den ich noch nicht gelesen habe). Es gibt also auch andere Stimmen, und auch meine Intuition bzw. mein Bauchgefühl sagen mir, dass es auch anders gehen müsste. So vom Gefühl her bin ich bei Micha und MT. Ein anderes System wäre möglich, aber wahrscheinlich bräuchte es dazu auch „andere“ Menschen, die eine andere Motivation haben als Gewinn und Zufriedenheit aus etwas anderem beziehen als unserem heutigen, überbordenden Konsum von Dingen, die man für das persönliche Glück eigentlich gar nicht wirklich braucht, wenn man ehrlich zu sich ist.

  15. @ Micha (#15):

    Für den einzelnen Unternehmer stimmt das – man nehme eine Familie, die ein Restaurant betreibt, oder einen inhabergeführten Kleinverlag. Witzigerweise wollen einem die Neoliberalen sowas ja immer als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ verkaufen. Stimmt aber nicht. Das BIP wird von großen Mittelständlern und von Konzernen erwirtschaftet.

    Die großen Mittelständler müssen in der Konkurrenz bestehen, sonst gehen sie unter – d.h. sie müssen dauernd ihren Maschinenpark modernisieren, und dazu brauchen sie Kredite. Kredite bekommen sie von der Bank, die sich davon Zinsen erwartet. Zur Zahlung der Zinsen braucht es Gewinne – G-W-G‘.

    Die Konzerne sind Aktiengesellschaften. Sie sind im Besitz von (privaten und institutionellen) Aktionären, die Geld in den Konzern stecken. Warum? Weil Sie a) eine Dividende und b) eine Kursteigerung erwarten. Beides auf Dauer nur möglich durch Gewinne – G-W-G‘.

    Oder ein Start-Up mit einer Idee – sagen wir eine App. Braucht Fremdkapital, um Büroräume, Technik, Programmierer und Vermarktung zu finanzieren. Fremdkapital gibt es aber nur bei Gewinnerwartung – G-W-G‘.

    Oder private Altersvorsorge. Ein großer Teil des als gierig gescholtenen Finanzkapitals wird in den USA von Pensionsfonds gestellt – Altersversicherungen für Normalos, deren Einlagen in den Finanzmarkt investiert werden, um ihnen im Alter ein Auskommen zu ermöglichen. Für die deutsche Riesterrente oder für ETF-Sparpläne gilt dasselbe: Kein Auskommen ohne G-W-G‘.

    Und schließlich der Staat: Steuereinnahmen sind abhängig von der Konjunktur. Unternehmen, die keine Gewinne erwirtschaften, zahlen keine Steuern. Zudem würde technischer Fortschritt ohne Wachstum dauernd Arbeitskräfte „freisetzen“, ohne dass Wachstum an anderer Stelle eine Nachfrage erzeugen könnte: Steigende Arbeitslosigkeit, ausfallende Lohnsteuern, weniger Handel, sinkende Mehrwertsteuern, usw. usf. – auch hier: Stabilität nur durch G-W-G‘.

    „Luke, Luke, es ist eine Falle! Eine Falle!“ (Prinzessin Leia)

  16. @KK (#16): OK, so klar und verständlich hat mir das bisher noch niemand erklärt. Langsam dämmert’s.

  17. Endlich wieder ein richtig diskursiver Kommentarverlauf, danke den Kommentator*innen dafür. Und wo bleibt die Auseinandersetzung um die Funktion des Journalismus in dieser verzwickten Situation? Die Vorschläge im Textauszug sind eher abstrakt, da muss noch Biofleisch auf die Knochen.

  18. Erstmal die anderen Journalisten dazu bringen, pro Klimaschutz zu schreiben und nicht dagegen oder neutral.
    Dann wäre das Narrativ, was Leute beschreibt, die ihre Autos behalten wollen, obwohl die ihnen schaden, Gollum.
    Der Typ ist eine wandelnde Symptomsammlung von Suchtkranken.
    Und dann weiß ich leider auch nicht weiter, weil niemand Frodo werden will.

  19. Der zentrale Punkt an diesem Text ist die Fokussierung auf die Psychologie. Wir rasen ja nicht in die Klimakrise, weil uns Wissen fehlt oder Technik oder Geld. Und auch der Wachstumszwang verhindert keine CO2-Neutralität, denn Politik kann lenken, was wächst und was schrumpft (siehe Merkels Schrumpfung der deutschen Windkraft- und Solaranlagenproduktion). Macht man CO2-Ausstoß teuer, folgt das Finanzkapital treu dieser Linie und wird aus Egoismus zum Motor der Wende. Man muss es nur wollen. Ich kenne aber kaum jemanden, der es WIRKLICH will, mitsamt den Konsequenzen für den eigenen Lifestyle. Das Problem liegt zweifellos auf der psychologischen Ebene. Deswegen: super Diskussionsbeitrag!

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