Podcast-Kritik (73)

Zurückgespult in eine andere Zeit: Ein digitales Mixtape über die Geschichte der Kassette

Fröhlicher Podcasthörer neben "Mixtape"

Die fünfteilige Mini-Serie „Mixtape“ im US-Podcast „Radiolab“ ist ein Muss für alle Menschen, die gerne Kopfhörer tragen.

Natürlich geht es bei „Mixtape“ (Untertitel: „How the cassette changed the world“) auch um Musik, natürlich gibt’s eine mittelgroße Ode an die Kassette zu hören. Die fünf Folgen sind aber kein Nostalgietrip für die Generation Golf, sondern eine unerwartet tiefgründige Reise durch die Mediengeschichte des Aufnehmens und Abspielens. Wir erfahren, wie die tragbare Kassette den Weg dafür ebnete, Menschen aufzunehmen, sie zu begeistern – und sie zu manipulieren.

„Radiolab“ prägt das Podcasting

Ehe ich eine Podcast-Kritik über englischsprachige Podcasts für Übermedien schreibe, müssen die eine gewisse Flughöhe erreichen. Das schafft „Radiolab“, ursprünglich eine Radiosendung, problemlos. Eine genre- und formatprägende Sendung über Wissen und Wissenschaft, die als Podcast zum internationalen Erfolg wurde, Hörer*innen wie Audio-Macher*innen auf beiden Seiten des Atlantiks begeistert.

„Radiolab“ dürfte für die heutige Landschaft an aufwendig produzierten Podcasts mindestens so prägend sein wie „This American Life“ und „Serial“. Zu verdanken ist das Jad Abumrad, der nun nach zwanzig Jahren die Sendung verlässt – wie kurz zuvor Mitbegründer Robert Krulwich. „Radiolab“ ist aber eines der wenigen Formate, das zweifellos auch ohne Ur-Besetzung weiter glänzen wird.

Denn „Radiolab“ ist ein seltenes Kunststück gelungen: Zum einen ein personenzentriertes Format zu sein, das von den Persönlichkeiten und der Dynamik der Hosts lebt. Zum anderen aber auch ein Podcast zu sein, der für sich eine dermaßen starke Handschrift und Ästhetik etabliert hat. Sodass auch Episoden von externen Autor*innen am Ende immer genau so klingen, wie „Radiolab“-Fans es eben erwarten. Bei „Mixtape“ ist das der Fall, zumal Autor Simon Adler schon seit sechs Jahren im Team von „Radiolab“ mitwirkt.

Da flattert das Kassettenband

Die Mini-Serie ist verspielt, quirlig, opulent. Sie lässt wirklich keine einzige Gelegenheit für wilde Collagen aus Zitaten, Soundeffekten und für Klang- und Musikatmosphären aus. Das „Radiolab“-typische Stilmittel, einzelne Passagen aus Gesprächen in kurzer Abfolge zu wiederholen, wird eingerahmt von vielen bunten Gimmicks rund um die Kassette: Zwischendurch flattert mal das Kassettenband, drehen sich die Spulen, rauscht und knistert es wie damals bei den analogen Kassetten. Und zwar so authentisch, dass ich als Hörer tatsächlich gerne mal die Kassette umdrehen möchte, wenn mich der Podcast dazu (spaßeshalber) inmitten einer jeden Episode auffordert.

Von Schnitt über Produktion bis Musikkomposition kommt alles aus den Händen von Autor Simon Adler. In der deutschen Radiolandschaft würde „Mixtape“ mit dem Qualitätsstempel „Autorenproduktion“ versehen werden. Aus hiesiger Sicht zeigt die Serie damit eindrucksvoll, dass Audio eben beides sein kann: populär und breitenwirksam einerseits, dabei andererseits inhaltlich und ästhetisch trotzdem anspruchsvoll. Die deutsche Hörspiel- und Feature-Szene behauptet ja gerne mal das Gegenteil.

„Mixtape“ und überhaupt 20 Jahre „Radiolab“ zeigen, dass innovative Radio- und Podcastformate selbst im chronisch unterfinanzierten US-amerikanischen Public Radio möglich sind. In dem es keine starke Tradition, keine jahrzehntealten Strukturen für aufwendige Feature- und Hörspielproduktionen gibt. In dem es wegen der Teilfinanzierung durch Spenden darum geht, Hörer*innen zu überzeugen statt zu erziehen. Fest steht: Viele erfolgreiche wie gelobte Podcasts in den USA sind aus dem Public Radio gewachsen – trotz oder gerade wegen all dieser Umstände? Die Frage gebe ich gerne weiter an öffentlich-rechtliche Sender hierzulande, die teils noch wie Rehe im Scheinwerferlicht der Podcasts geschockt stehen bleiben.

Blick über den Tellerrand des Westens

Es wäre aber ein Fehler, die „Mixtape“-Serie (und „Radiolab“ als Ganzes) nur für die bahnbrechende Ästhetik zu loben. Die fünf Folgen sind nämlich auch berührender, aufwendig recherchierter Journalismus. Und dabei sogar überraschend wenig US-zentriert, anders als sonst üblich in den gängigen US-Storytelling-Podcasts. „Mixtape“ spricht mit Menschen in China, in Vietnam, in der ehemaligen Tschechoslowakei und in Südsudan über ihre Kassetten-Geschichten.

Der Blick über den US-Tellerrand hinaus ist aber auch naheliegend: Mit dem Sony-Walkman aus Japan haben Kassetten ihre größtmögliche Verbreitung erfahren. Das arbeitet der Podcast gleich in der ersten Episode heraus. „Mixtape“ zeigt, wie das Hören aus dem öffentlichen Raum somit näher an die Ohren rückte. Wie Selbstlernkurse auf der Kassette als Proto-Podcasts die Ära des Dauertragens von Kopfhörern einleiteten. Zu den großen Stärken von „Radiolab“ gehört es, solche abstrakten Prozesse in hörbare Szenen und fesselnde Erzählungen zu übersetzen.

Wir reisen etwa nach China und gehen den sogenannten „Dakou-Tapes“ auf den Grund: Illegale Kopien beliebter Rock- und Pop-Musik aus dem Westen, mühsam restauriert aus eigentlich mutwillig zerstörten Bändern von am US-amerikanischen Markt gescheiterten Kassetten, die als Schrott nach China exportiert worden waren. Hier bleibt „Radiolab“ zwar noch nah am Musikthema, stellt aber die ersten grundsätzlichen Fragen rund um den politischen Einfluss von Technik und (Pop-)Kultur. Etwa am Beispiel jener „Dakou-Tapes“. Auf ihnen war die damals in China verbotene Musik aus den USA. Die Songs nahmen dann aber chinesischen Zeitzeugen zufolge Einfluss auf die studentischen Demokratie-Proteste am Tian’anmen-Platz, fütterten die allgemeine Unzufriedenheit und den Wunsch nach Freiheit unter den Student*innen.

Aufnahmen und Kassetten als Waffen

Auf die Geschichte der Kassette in den USA müssen Hörer dennoch nicht verzichten. Beleuchtet werden etwa die Anfänge der Rundfunkgeschichte im Westen, anfangs geprägt von deutschen Ingenieuren und Faschisten, deren Technik anschließend von den Alliierten genutzt und schließlich weiterentwickelt wurde. Und wie dabei aus großen Magnetbändern kleine Kassetten wurden.

„Mixtape“ zeigt auch, wie Aufnahmen neue Lösungen brachten – aber auch neue Probleme. Das Live-Medium Radio und der Sänger Bing Crosby standen vor einem Dilemma: Livesendungen klangen zum damaligen Zeitpunkt zwar besser, weshalb sein damaliger Sender NBC auf ebenjene bestand. Dafür musste Crosby aber eben zwei Mal die Woche live performen. Der Streit führt zum Bruch, Crosby wechselt zu ABC. Die aufgenommenen Shows vom Band klangen zwar anfangs schlechter – erlaubten es Crosby aber, Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Auch ermöglichten die Aufnahmen, nur die beste Version von Crosbys Gesangs zu senden.

Aber schon bald geht es nicht nur um die besten Takes, um Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Crosby benutzte Aufnahmen und Abspieleffekte, um seine Stimme künstlich zu verfälschen, ungeahnte tiefe Stimmlagen und Harmonien zu erreichen. Später fügte er auch Gelächter und Applaus auf Bedarf vom Band hinzu, wenn ihm die Reaktionen zu verhalten waren – oder gar kein Publikum anwesend war. Die späten Sendungen von Bing Crosby, die im Radio vom Band abgespielt wurden, waren die Illusion einer perfekten Live-Show.

In solchen Momenten diskutiert „Mixtape“ zeitlose medienethische Fragen, weil diese sich mit jedem Technologiedurchbruch verneut stellen, damals wie heute: Wo verläuft die Grenze zwischen Bequemlichkeit und Manipulation im Medium Audio? Wie bearbeitet darf eine Aufnahme sein, um noch als authentisch zu gelten? Wann und wie dürfen Aufnahmen von Zitaten und Geräuschen in neuen Kontexten benutzt werden?

Was anfangs wie eine dichte, aber fröhliche Mini-Serie daherkommt, behandelt eben auch solche Fragen und kann sogar richtig nachdenklich wie bedrückend sein. Das zeigt die Episode „The Wandering Soul“. Mit einem Ruck zieht Simon Adler hier die hübsche Tischdecke mitsamt dem Sonntagsgeschirr krachend vom Tisch. Vorbei ist die Gemütlichkeit – wir sind im Vietnamkrieg. Und die Kassette, die in den Folgen zuvor noch als harmloses Werkzeug und Vehikel für Wohlfühl-Anekdoten vorgestellt wurde, ist plötzlich eine Waffe: Die US-Amerikaner benutzen Kassetten, um künstliche Klanglandschaften zu erstellen. Propaganda als Gruselsoundtrack, der Ängste auf der anderen Seite des Krieges schüren sollte: Die „Wandering Soul“-Klänge werden als psychologische Folter nachts mit Lautsprechern auf Soldaten und Dörfer des Vietkong gerichtet.

Neugierig wie „Wind of Change“

Ein Leitmotiv in allen Teilen der „Mixtape“-Serie ist das Thema „Viralität“. Der Podcast zeigt, wie die handliche Kassette und mobile Aufnahmegeräte in einer Zeit vor dem Internet dabei halfen, Ideen rasend schnell zu verbreiten – und zwar solche mit guten wie solche mit schlechten Absichten. Das gipfelt in der sehr unterhaltsamen Folge 4, „Cassetternet“, die an längst vergessene Zeiten vor der Diskette erinnert, als Computercode noch mithilfe von Tönen auf Kassetten gebannt wurde. Wie sich schon damals die Vertreter von Urheberschutz auf der einen und auf der anderen Seite die, die Zugang zu freiem Wissen forderten, mit technischen Mitteln bekämpften.

Damit weckt „Mixtape“ beste Erinnerungen an „Wind of Change“ mit all seiner wuseligen Neugierde und Entdeckerlust, sich in Nebenaspekten und Randgeschichten zu verlieren. Natürlich geht es immer wieder um die Kassette, die streckenweise aber nur noch den Hintergrundsoundtrack für viel wichtigere Geschichten darstellen.

Wohl eher unbeabsichtigt ist, dass die letzte, zweigeteilte Folge ein wenig schwächelt. Erst ein kurzer Exkurs zum Siegeszug der Selbsthilfe-Kassetten, dann geht es um das Dinka-Volk im Südsudan. Dort wurden Erinnerungen und Lebensgeschichten fast ausschließlich mündlich weitergetragen, Lebensgeschichten als Lieder komponiert und erzählt, die sich dann von Menschen mit besonders guten Gedächtnissen gemerkt wurden. In den 80er-Jahren drohten ein Bürgerkrieg und Genozid, diese Menschen und ihre Traditionen auszulöschen. Tonbandaufnahmen von Geflüchteten und Überlebenden – den sogenannten „Lost Boys of Sudan“ – erlaubten es, die wertvollen Erzählungen und Lieder festzuhalten. Nicht nur als Erinnerung der Lebenden, sondern als Tonbandaufnahmen für die Nachwelt.

In der zweiten Episoden-Hälfte besucht Adler seinen „Radiolab“-Kollegen David Gebel, der sich mit Mixtapes an Stationen und Lieben seines Lebens erinnert. Das Schwelgen in Erinnerungen wird schnell emotional. Die tränenreichen Aufnahmen sind zwar emotional und deswegen wertvoll, haben aber nicht den Tiefgang der restlichen Serien und wirken deswegen effekthascherisch. Aber manchmal waren die B-Seiten auf der Kassette ja auch eine kleine Enttäuschung.

„Mixtape“-Autor Simon Adler gelingt es ansonsten, die richtige Balance zu treffen: zwischen kindlich naiver, ansteckender Neugierde einerseits und andererseits informierender journalistischer Einordnung. Über Sprach- und Ländergrenzen hinweg, von China bis Sudan, sensibilisiert Simon Adler für Perspektivwechsel, ohne pädagogisch zu wirken. Weckt Sympathie für mitunter wenig beachtete, aber einflussreiche Momente, Akteur*innen, (vermeintlich) kleine Geschichten im großen Weltgeschehen. Lädt zum Nachdenken ein, wie echt und wie manipulativ die Welt in unseren Ohren ist.

„Mixtape“ ist ein herrlich ineffizientes, weil verspieltes, aber eben auch lehrreiches Essay und jede Minute des Hörens wert: Weil die Kassette und die Kulturtechnik des Aufnehmens und Abspielens die Welt verändert haben – und weiter verändern werden.


Podcast: „Mixtape“, eine Mini-Serie des US-Podcasts „Radiolab“

Episodenlänge: fünf Episoden, jeweils 40 bis 60 Minuten

Offizieller Claim: „In five episodes from around the world, Mixtape explores the impact the cassette had and continues to have today.“

Inoffizieller Claim: This concludes side one. Turn your cassette over to begin side two“

Wer diesen Podcast mag: „More Perfect“ über den US-Supreme-Court, ein Podcast-Konzeptalbum vom „Radiolab“-Team; „Dolly Partons America“ von „Radiolab“-Grüner Jad Abumrad

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.