Der Autor
Nils Minkmar ist Publizist. Er war Redakteur bei „Willemsens Woche“, der „Zeit“, der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und dem „Spiegel“. Seit Mai 2021 ist er fester Autor des Feuilletons der „Süddeutschen Zeitung“.
Eigentlich schien alles klar: Wenn im kommenden Mai die französische Präsidentschaftswahl stattfindet, dann würden sich im zweiten Wahlgang der Amtsinhaber Emmanuel Macron und die Chefin des rechtsextremen „Rassemblement National“ Marine Le Pen gegenüberstehen – wie schon 2017. Macron ist eine Art GroKo auf zwei Beinen, und Marine sammelt all jene ein, die mit der Gesamtsituation unzufrieden sind, und da kommt in Frankreich traditionell viel zusammen.
Der französische Schriftsteller Sylvain Tesson beschreibt seine Heimat als „Paradies, dessen Bewohner es für die Hölle halten“. Er hat Recht: Bei aller privaten Zufriedenheit ist die Bereitschaft sehr ausgeprägt, die modernen Zeiten, die Politiker und überhaupt den gesamten Kurs des Landes zu kritisieren.
Nils Minkmar ist Publizist. Er war Redakteur bei „Willemsens Woche“, der „Zeit“, der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und dem „Spiegel“. Seit Mai 2021 ist er fester Autor des Feuilletons der „Süddeutschen Zeitung“.
Dabei hat Frankreich viel zu bieten und lässt sich die gute Laune der Bevölkerung einiges kosten. Hier wird immer noch eines der fürsorglichsten Sozialstaatssysteme der Welt finanziert – während allenthalben über den gnadenlosen Neoliberalismus geschimpft wird. Wie überall haben sich auch in der französischen Gesellschaft hartnäckige soziale Probleme ausgeformt – die Desindustrialisierung der Wirtschaft, die Ghettoisierung der Vorstädte und die Armut vieler Menschen – aber die genau zu identifizieren oder gar zu lösen fällt schwer, weil so oft so laut über das große Ganze geklagt wird.
Nun aber ist, wenige Monate vor der heißen Phase, eine unvorhergesehene Dynamik entstanden. Ein neuer Kandidat, Éric Zemmour, wird in den Umfragen des vergangenen Wochenendes mit zweistelligen Prozenten der Wahlabsichten notiert – weit vor allen Politprofis des klassischen konservativen Lagers. Zemmour kommt nicht aus der Parteienlandschaft, dem Parlament oder der Zivilgesellschaft, sondern aus dem Fernsehen. Der 1958 geborene Sohn einer jüdischen Familie aus Algerien wird als „Polemiker“ und Bestsellerautor beschrieben, aber sein Hauptberuf ist es, Fernsehsendungen zu bewohnen.
Dass sich das lohnt, liegt an der eigentümlichen Geographie der französischen Fernsehlandschaft: Zappt man sich durchs Abendprogramm, sieht man weit weniger Rateshows, Naturdokumentationen oder Krimiwiederholungen als in Deutschland, dafür sehr viele, unendlich lange Redesendungen mit sehr vielen Personen, die auch schon mal mittendrin wechseln.
Sehr wichtig ist, dass alle permanent reden. Inhaltlich werden die Runden vage als Bilanz des Tages, als Erörterung der Lage oder als Analyse der Gegenwart beschrieben, im Wesentlichen geht es aber um Unterhaltung durch verbalen Schlagabtausch. Das passende böse Wort zum guten Moment parat zu haben, ist auch heute noch eine französische Königsdisziplin; die Debatten sind moderne Formen der Duelle. Besonders kontroverse Paarungen – zum Beispiel der linkssektiererische Jean-Luc Mélenchon gegen Zemmour – werden Tage vorher annonciert wie andernorts Wrestling-Matches.
Zemmour hat da recht geschickt eine unerhörte Rolle entwickelt: Als Jude verteidigt er das nazinahe Vichy-Régime des Maréchal Pétain und wird so anschlussfähig bei den Ewiggestrigen der extremen Rechten. Dass seine Argumente – etwa: wie Pétain die ausländischen Juden geopfert habe, um die französischen Juden zu retten – einer Überprüfung nicht standhalten, spielt erst nach dem Ende der Sendung eine Rolle. Als er wegen dieser Geschichtsklitterung vor Gericht stand, erklärte Zemmour, es handele sich da ohnehin nicht um sein Fachgebiet.
Im Fernsehen markiert er aber nicht nur den unkonventionellen Rechten, sondern besetzt noch eine weitere Rolle, jene des bildungsbürgerlichen Intellektuellen. Er ist ein sehr belesener Mann, dessen Abscheu vor moderner populärer Kultur gut zu seinem habituellen Rassismus passt und bei älteren reaktionären ZuschauerInnen gut ankommt.
Zemmour beschwört eine gute alte Zeit, in der die Leute noch französische Vornamen hatten und die Nachbarn sich gegrüßt haben. Die heutige Gesellschaft ist ihm nicht nur zu bunt, er beklagt auch die Schwäche der Männer und sehnt sich nach einer ganz anderen Ordnung der Dinge, in der die Französische Revolution von 1789 nie stattgefunden hätte. Dass gerade die Revolution es war, die aus Juden wie ihm erst vollwertige Bürger machten, er ohne die Errungenschaften der Revolution gar keine Politik machen dürfte, gehört zu seinen vielen unbearbeiteten Selbstwidersprüchen.
Aber seine gebildete Art kommt auch im Lager der von Macron enttäuschten Linken an. Er inszeniert sich als Bewahrer der Hochkultur und gefällt all jenen, denen der Stil des Präsidenten zu managermässig ist. So ergibt sich eine Mischung, die zugleich abstößt und fasziniert, die die Leute einschalten. Die Quoten des Zemmour-Haussenders C-News übertreffen in der Abendsparte die der gesamten Konkurrenz.
Betrachtet man sich seine politischen Positionen abseits solcher Stilfragen, kommt einem das Gruseln. Nicht umsonst ist er zwei Mal wegen seiner Hetzreden verurteilt worden, andere Verfahren sind noch nicht in letzter Instanz entschieden. Er hat es nicht nur mit Menschen anderer Hautfarbe und Religion, die bei ihm allesamt Dealer, Terroristen oder beides sind – sondern auch mit den Frauen, deren Einfluss ihm viel zu groß ist. Seine Reden sind ein nur mühsam verhüllter Aufruf zum Bürgerkrieg; Gewalt spielt in seiner Vorstellungswelt immer eine große Rolle. Gegen Zemmour ist Marine Le Pen die Mutter Beimer der französischen Politik. Er ist die Synthese aus Thilo Sarrazin und Björn Höcke – brandgefährlich.
Schon bemühen sich normale Konservative wie die Präsidentschaftskandidatin Valérie Pécresse darum, ihn argumentativ einzuholen und verweisen darauf, sie hätten auch schon ähnliches gefordert. Die Taktik, ihn politisch zu überholen dürfte allerdings kaum funktionieren, denn er steht so weit rechts, dass man dann schon wieder links landet.
Noch hat sich der große Redenschwinger nicht offiziell bereit erklärt zu kandidieren. Wenn er es tut, kann er sich auf die Veteranen der extremen Rechten stützen, allen voran den Vater von Marine, das alte Ekel Jean-Marie Le Pen. Der hat den politischen Konkurrenten seiner Tochter schon mal öffentlich gelobt – typische Le Pen family values.
Bereits jetzt dominiert Zemmour die Agenda des Wahlkampfs. Zieht er seine Kandidatur durch, wird es schwer, über andere Fragen zu reden als Islam, Migration und Verbrechensbekämpfung. Weil er die Stimmen der extremen Rechten spaltet und Marine Le Pen am Einzug in den zweiten Wahlgang hindern könnte, bildet er gegenwärtig die größte Gefahr für die Wiederwahl Macrons. Der würde gegen die extreme Rechte vermutlich gewinnen, gegen konservative Kandidaten wie Valérie Pécresse oder Xavier Bertrand hingegen verlieren. Sie könnten die Gewinner des Zanks auf der Rechten sein. Die Zeiten der großen Reden zur Beschwörung der europäischen Union und der deutsch-französischen Freundschaft dürften aber so oder so vorbei sein.
Es kann aber auch noch alles anders kommen. Eine Sache gibt es, die Zemmour aus dem Konzept bringt: Wenn man ihn unterbricht. Am Montag hat ihn der linksliberale Kommentator Charles Consigny immer wieder mit Zwischenbemerkungen genervt, und als Zemmour lauter wurde, gesagt, dass er den Leuten Angst mache, wenn er sich so erzürnt. Da verlor Zemmour die Fassung und befahl Consigny zu schweigen. Das war lustig, weil sich Zemmour selbst gerne als Opfer eines Schweigekartells darstellt.
Consigny wird nicht der letzte gewesen sein, der Zemmours pathetische Monologe durch Dazwischenquasseln zum Entgleisen bringt.
Nachtrag, 30. November: Heute hat Zemmour seine Kandidatur erklärt.
Zunächst mal ganz grundsätzlichen Dank für einen Artikel über unser großes Nachbarland. Dass Frankreich in der deutschen Presse so wenig vorkommt (und wenn, dann nicht selten als Karikatur), bleibt mir unbegreiflich.
Ich bitte um Entschuldigung, dass ich mich dann ausgerechnet zu folgenden redaktionellen Kleinigkeiten äußere, aber es betrifft u. a. ausgerechnet die „Hauptperson“:
Zemmour (nicht Zémmour)
Le Pen (nicht LePen)
Stimmt. Danke!
„das alte Ekel“ Müssen solche persönlichen Anwürfe denn wirklich sein? Verliert der Artikel irgendwas, wenn man sich die 3 Wörter einfach spart? Soll das Leute zum Kommentieren bringen? Ich versteh’s nicht…
Auch wenn man die Einschätzung dieser Person teilt, kann man es trotzdem für falsch halten, das in einem Artikel, der einen einigermaßen seriösen Anspruch hat, zu lesen. Sowas schadet dem Autor und hilft potenziell dem „Ekel“.
Den „alten Ekel“ habe ich eher als beschreibende Rollenbesetzung dieses aufmerksamkeitsökonomischen Theaters gelesen. Gerade bei einer Inszenierung, die nach dem Prinzip des Right Wing Agenda Setting abläuft und polarisieren soll, hilft es, den „alten Ekel“ zu geben. Der Autor hat ja auch nicht unpassend Parallelen zum Wrestling gezogen, ebenfalls eine Entertainment-Inszenierung mit für jeden Trottel klar erkennbarer Rollenbesetzung.
Nettes Wimmelbildspiel, suche die übeflüssigen Accents. Ich habe noch zwei gefunden.
Habe auch noch einen überflüssigen Accent bei Zemmour (Profitipp: mal mit Strg + F suchen)
beunruhigend zu lesen, dass auch in Frankreich nicht junge Politiker die Konservativen rechts überholen, sondern Alte, die den Zeitgeist ausnutzen
sehr interessant. ich hoffe, ihr werdet hier die wahl in frankreich nicht so stiefmütterlich behandeln, wie die franzosen unsere wahl abgetan haben.
wirklich aufschlussreicher artikel!
Vielen Dank für diesen interessanten Einblick!
Dass auch Übermedien im Hufeisenzielweitwurf antritt, überrascht dann allerdings doch: „Die Taktik, ihn politisch zu überholen dürfte allerdings kaum funktionieren, denn er steht so weit rechts, dann man dann(sic) schon wieder links landet.“
Wenn Éric Zemmour seine eigene Widersprüche egal sind und er eine tolle Medienpräsenz liefert, dann erinnert mich das Ganze auch an Donald Trump.
,,Die Taktik, ihn politisch zu überholen dürfte allerdings kaum funktionieren, denn er steht so weit rechts, dann man dann schon wieder links landet.´´ Abgesehen davon, dass hier ein ,,dass´´ verschütt gegangen ist, ähnlicher Gedanke wie #8 Simon Dickopf dazu: Was hat dieser Nebensatz hier zu bedeuten? Was außer den Verweis auf die imho von Simon Dickopf zurecht angeführte Hufeinsentheorie steuert diese Aussage bei? Wenn nicht bloß die in ihrem Kontext problematische Redewendung reproduziert werden soll, was dann? Vielleicht entzieht sich mir hier lediglich eine andere Implikation Herrn Minkmars, dessen Artikel mir ansonsten sehr gefallen hat. Dem bereits geäußerten Wunsch nach anhaltender Thematisierung der französischen Präsidenschaftswahl samt ihrer medialen Behandlung schließe ich mich an.
@ #9 and #10: Ich habe es so verstanden, dass Zemmour so weit rechts steht, dass man ihn kaum rechts ueberholen kann (ohne sich strafbar zu machen). Somit ist man relativ zu Zemmour immer automatisch links (und aus seiner Sicht vermutlich linksextrem). Hat nichts mit Hufeisentheorie zu tun.