Die Podcast-Kritik (63)

Ein Podcast, der mit Leidenschaft Reality-TV würdigt – und kritisiert

Podcastkritik "Spectacle - an unscripted history of Reality TV" mit glücklichem Hörer

Schlimmes Fernsehen? Tolle Unterhaltung? Am Genre Reality-TV scheiden sich die Geister. Die Liste der Einwände ist so lang wie die der Produktionen, ob Doku-Soaps wie „Keeping up with the Kardashians“ und „Goodbye Deutschland“ oder Reality Shows wie „Sommerhaus der Stars“, „Dschungelcamp“, „Queer Eye“ und „The Circle“.

Es ist leicht, dieses Genre zu verachten und zu ignorieren. Erst recht, ihm eine ernsthafte und kritische Auseinandersetzung zu verwehren, beispielsweise im Feuilleton. Schwer abzustreiten ist aber: Reality-TV prägt mit seinen freiwilligen wie unfreiwilligen Stars unsere (Pop-)Kultur, und umgekehrt. Das wissen wir nicht erst, seit es ein gewisser Reality-TV-Star bis in das US-Präsidentenamt schaffte. Trotzdem ist diese Sorte von Fernsehen oft ein guilty pleasure, ein eher heimliches und schuldbewusstes Vergnügen. Das entweder ganz verschwiegen wird oder nur „ironisch“ geschaut wird.

Ich zähle mich – im Gegensatz zu meiner besseren Hälfte – eher in das Lager der Reality-TV-Kritiker. Vieles ignoriere ich ausgesprochen aktiv und lasse mich nur für wenige Formate langsam überzeugen. Wobei, um ehrlich zu sein: Erst erwischt und dann schnell begeistert haben mich zuletzt „The Circle“ und „Too hot to handle“.

Deshalb war der US-Podcast „Spectacle“ für mich als Reality-TV-Laie ein besonders aufschlussreicher Ausflug war: ein Schnelldurchlauf durch die erfolgreichsten amerikanischen Reality-TV-Formate der vergangenen Jahrzehnte. Mitsamt ihrer Strukturen, Mechanismen und Momente. Fernsehgeschichte, kritisch durchgezappt auf doppelter Geschwindigkeit, immer nah am Beispiel. Die sind oft auch Inspiration für das deutsche Fernsehen und Adaptionen weltweit. Deswegen lohnt sich „Spectacle“ auch aus deutscher Sicht: Die Formate sind auch hierzulande größtenteils keine unbekannten, die Kritikpunkte liegen ähnlich.

Der Siegeszug eines Genres

„Spectacle“ gelingt ein schwieriger Spagat: Das Genre einerseits ernst zu nehmen, ikonische Momente niedrigschwellig zu erklären und in die jeweilige Zeit und Gesellschaft einzubetten, regelrecht zu würdigen. Und andererseits die ganze Maschinerie zu kritisieren. Nicht kategorisch, sondern an den richtigen Stellen. Hier lernen sowohl Fans als auch Skeptiker*innen des Genres wie ich dazu – der Podcast ist nebenbei auch eine komprimierte Portion Popkulturwissen gratis. Die zehn Beispiele des Podcasts sind dafür bestens ausgewählt.

Jede Folge widmet sich einer Sendung, die Maßstäbe setzte und meistens Nachahmer, Spinoffs und Adaptionen nach sich zog, angefangen in den 1970ern bei der Ur-Reality-Fernsehsendung „An American Family“.

Mir war vor „Spectacle“ nicht bewusst, dass eine so harmlose, eher journalistische Dokumentation einer Familie, deren Eltern sich scheiden lassen, der Ur-Großvater aller Reality-TV-Formate ist. Dass Lance Loud, Sohn der „American Family“, mit seinem Coming-Out vor laufenden Kameras einer der ersten offen schwulen Männer im US-Fernsehen war. Die Sendung war nicht nur ein kommerzieller Erfolg, der die Loud-Familie zu Prominenten machte, sondern bereicherte auch die gesellschaftliche Debatte.

Weniger Trash-TV-Verachtung, mehr ernste Kritik

Mit diesem Anliegen hangelt sich „Spectacle“-Host Mariah Smith durch die Staffel: Reality-Sendungen bieten nicht nur oberflächliches Spektakel, sondern halten fast immer den Zeitgeist einer Periode fest, weswegen sich trotz aller Vergänglichkeit auch die rückblickende Auseinandersetzung lohnt. Was hielten die Macher*innen von „The Real World“ auf MTV damals für normal, was für zumutbar, was für neu und wie hat sich die Sendung über die Zeit entwickelt?

Mit dieser zweiten Folge beginnt auch der kontinuierliche Blick darauf, wie viel „Realität“ oder „Alltag“ diese Sendungen jeweils zeigen. Oder wie stark eingegriffen oder inszeniert wird, indem Kandidat*innen ausgewählt, angeleitet oder in künstliche Situationen gebracht werden. Und natürlich stellt der Podcast die große Frage, wie viel davon überhaupt beim Publikum ankommt – bewusst oder unbewusst. „Spectacle“ ist in diesen Momenten eine kurzweilige Vorlesung in Medienethik und Medienrezeption.

Besonders engagiert ist die Mischung aus ehrlicher Würdigung und harter Kritik an Reality-TV in der dritten und vierten Folge, wenn es um die Überlebens-Show „Survivor“ und die Dating Show „Bachelor“ geht. Mariah Smith kritisiert als Schwarze Frau und Genre-Fan die mangelnde Diversität, den subtilen und teils offenen Rassismus, das Frauenbild der Sendungen und die Normen, die sie an das Publikum transportieren. Besonders die vierte Folge vollzieht am Beispiel „Bachelor“ nach, wie die Datingshow im Verlauf immer konservativer wurde und sich damit auch gesellschaftspolitische Realitäten in der Märchenwelt der Reality-Show niederschlagen. Aber auch, wie fern und künstlich die angebliche Realität im Fernsehen von dem ist, was wir Wirklichkeit nennen.

Kurzweiliges Seminar in Medienrezeption

Der Podcast ist unspektakulär, aber handwerklich straff und gut produziert. Die zehn Folgen sind deswegen ausgesprochen kurzweilig. Mariah Smith führt mit viel Witz und Leidenschaft – für die Sache als auch für die notwendige Kritik – durch die Folgen, die nahtlos aneinander anschließen und auch untereinander Querbezüge herstellen.

Ergänzt wird sie durch ihre Producerin Joanna Clay, die meistens als Sidekick für plauderige Gesprächsmomente rund um ikonische Momente der jeweiligen Sendungen dazukommt. Das gemeinsame Erleben, Erinnern und Diskutieren von Smith und Clay bereichert die bestens ausgewählten und zusammengerafften Original-Ausschnitte der Fernsehsendungen. Die Gesprächsausflüge sind aber auf das Wesentliche beschränkt – der Podcast wechselt schnell zum nächsten Aspekt, zur nächsten Perspektive. Wie im Reality-TV steht keine Einstellung zu lang, damit es ja nie langweilig wird.

Dazu gesellen sich immer wieder die Stimmen und Meinungen von Insider*innen, Beobachter*innen und Expert*innen für die jeweiligen Sendungen – heimlicher Star ist Filmprofessorin Racquel Gates, die an vielen Stellen den Vorhang noch ein Stück weiter zurückzieht und immer wieder die Sicht freilegt auf die Meta-Themen hinter dem Kleinklein auf dem Fernsehbildschirm: Wer arbeitet mit welchen Mitteln im Reality-TV, um welche Menschen wie abzubilden?

„Spectacle“ sensibilisiert für die Mechanismen von Reality-TV-Sendungen, die guten wie die schlechten, die harmlosen wie die menschenverachtenden – zeigt aber auch die Möglichkeiten und Verdienste von breitenwirksamen Fernsehmomenten. Nur beim Fazit schwächelt der Podcast leider sehr, auch weil er aus amerikanischer Sicht fast schon naiv lieber über die Andersartigkeit von Reality Shows aus Europa („Great British Bake Off“) und Japan („Terrace House“) staunt, anstatt die über zehn Folgen gesammelte Kritik an den US-Formaten in einer echten Grundsatzdiskussion zusammenzufassen.


Podcast: „Spectacle“ von Neon Hum Media

Episodenlänge: bisher eine Staffel mit 10 Folgen, jeweils circa 35 Minuten

Offizieller Claim: „Reality TV is dismissed as guilty pleasure, low brow … even trash. But whether you want to admit it or not, reality TV has become a place to see the social and political moment play out in real time“

Inoffizieller Claim: Die schönsten und hässlichsten Momente der Fernsehgeschichte

Wer diesen Podcast mag, hört auch: „Running from COPS“ über die Reality-TV-Serie „Cops“; „Erdbeerkäse – Der TrashTV Podcast“; „Das kleine Fernsehballett“ eines gewissen Stefan Niggemeier

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