Vorläufig beurlaubt: Der Mann, der bei „Bild“ Julian Reichelt war
Man kann auch mit sonnigem Gemüt etwas werden bei „Bild“. Alexander von Schönburg ist Mitglied der Chefredaktion und im Blatt unter anderem zuständig für Königliches und Lesen. Als Julian Reichelt gestern im internen Redaktions-Chat erklärte, dass er sich wegen der massiven Vorwürfe gegen ihn vorläufig als „Bild“-Chefredakteur habe beurlauben lassen, antwortete Schönburg:
„R-e-s-p-e-c-t ! So können wir die nächsten Tage in Ruhe (ohne Dauerbeschuss) arbeiten und in ein paar Tagen … ist der Albtraum vorbei. Es hieß ja, das Ergebnis sei bald zu erwarten. So, see you in a few days, J!“
Nun traue ich mir keine Prognose zu, wie die ganze Sache ausgehen wird, aber das erscheint mir doch extrem unwahrscheinlich: dass Reichelt in ein paar Tagen zurückkehrt und alles vorbei ist. Wenn sich gerade intern auch nur halbwegs abzeichnen würde, dass die Untersuchung der Vorwürfe durch Axel Springer und die Kanzlei Freshfields in Kürze mit einer Entlastung Reichelts abgeschlossen wird, hätte der Chefredakteur jetzt nicht noch beurlaubt werden müssen. Das Verfahren läuft ja schon ein paar Wochen; die paar Tage hätte man dann auch noch aussitzen können.
„Ungestörte Aufklärung“
Tatsache ist: Julian Reichelt ist seit gestern nicht mehr Vorsitzender der „Bild“-Chefredaktionen und Sprecher der „Bild“-Geschäftsführung. Die Sprachregelung, die man dafür gefunden hat, ist die, dass er den Vorstand „darum gebeten“ habe, „bis zur Klärung der Vorwürfe befristet von seinen Funktionen freigestellt zu werden“. So solle eine „ungestörte“ (oder wie Reichelt selbst es formuliert: „unangreifbare“) „Aufklärung“ sichergestellt werden.
Die Freistellung ist ein guter Schritt.
Einige der Frauen, die Reichelt Machtmissbrauch oder Mobbing vorwerfen, fürchten sich offenkundig sehr. Sie schildern anderen, dass aus dem Umfeld der „Bild“-Führung versucht worden sei, sie und ihnen nahestehende Menschen einzuschüchtern. In einzelnen Fällen soll das sogar erfolgreich gewesen sein.
Reichelt wenigstens für die Dauer der Untersuchung zu beurlauben, ist zumindest ein Symbol für diese Frauen.
„… die mich vernichten wollen“
Reichelts interne Erklärung kann man aber natürlich auch so lesen, dass er nun die Zeit hat, sich mit ganzer Kraft seiner Verteidigung – und einem Gegenangriff zu widmen:
(…) Die Vorwürfe sind falsch.
Ich werde mich gegen die wehren, die mich vernichten wollen, weil ihnen BILD und alles, wofür wir stehen, nicht gefällt. Die über mich schreiben, ohne mich vorher anzuhören, weil meine Antworten ihnen noch nie gepasst haben.
Euch, all unseren großartigen Reporterinnen und Reportern sage ich, dass ich nur eine Priorität habe: Die unwahren Vorwürfe gegen mich zu entkräften, ohne die Arbeit, die sie jeden Tag und oft unter großen Risiken leisten, zu belasten.
Wer sind „die“, die ihn vernichten wollen? Es klingt, als meinte er zum Beispiel die „Spiegel“-Redakteure, die am Freitag ein vernichtendes Stück über die Kultur bei „Bild“ unter Reichelt veröffentlicht haben. Denen wirft er offenbar vor , ihn nicht korrekt angehört zu haben.
Aber die „Spiegel“-Leute sind nicht die, die die Vorwürfe gegen Reichelt erheben, sondern nur die, die sie – ähnlich wie die „Zeit“ zwei Tage zuvor – in die Öffentlichkeit bringen. Es kann gut sein, dass ihre Berichterstattung juristisch angreifbar ist (und eine besondere Ironie wäre es, wenn Reichelt sich auch beim Presserat darüber beschwerte).
Die Berichterstattung ist für Reichelt ein Problem, aber die Vorwürfe gegen ihn kommen aus seiner Redaktion. Von jungen Frauen, die behaupten, sein Opfer geworden zu sein, zum Beispiel nach intimen Beziehungen zu ihm. Und von Leuten, die ein furchtbares Redaktionsregime schildern.
„‚Bild‘ ist mein Leben“
Deshalb ist es auch irreführend, wenn Reichelt den Eindruck erweckt, er sei bloß stellvertretend für die Zeitung, die er leitet, Zielscheibe. Natürlich speist sich die Häme und Genugtuung, die gerade viele empfinden, auch aus einer grundsätzlichen Ablehnung der Methoden und Ziele dieses Mediums. Aber es sind auch langjährige „Bild“-Leute, gestandene Boulevardjournalisten, keine verirrten „Zeit“-Feuilletonisten oder Schönwetterkommentierer, die sich von Reichelt abgewandt haben: Weil sie ihn, die Art seiner Führung, das toxische Klima und die Radikalität seiner Politik ablehnten oder einfach nicht mehr ertrugen.
Es gibt Leute, die mögen die „Bild“-Zeitung und verabscheuen, was Reichelt aus ihr gemacht hat.
Für Julian Reichelt aber ist dieser Gedanke schon abwegig. Er fühlt sich identisch mit diesem Medium. Ich würde ihm kaum ein Wort glauben, aber wenn er schreibt, „Bild“ sei sein Leben, habe ich keine Zweifel daran. (Es gibt auch noch die pathetischere Form, die aus einer Redaktionskonferenz überliefert wurde: „Alles, was ich in meinem Leben getan habe, habe ich immer für diesen Laden getan und für die Leute hier.“)
Schon seine Eltern haben bei „Bild“ gearbeitet. Mit 17 Jahren habe er gewusst, „Bild“-Chefredakteur werden zu wollen, sagte Reichelt vor drei Jahren dem „Spiegel“. Er macht als Gymnasiast ein Praktikum bei „Bild“, geht auf die Axel-Springer-Journalistenschule, wird „Bild“-Chefreporter, Bild.de-Chef, „Bild“-Chef.
Und jetzt beurlaubt.
Für niemanden wäre das ein größerer Absturz als für ihn. Während Verschwörungstheorieanfänger noch Angela Merkel als treibende Kraft dahinter vermuten, soll Reichelt in der Redaktion längst einen noch größeren Gegenspieler ins Spiel gebracht haben: Wladimir Putin. (Ob er das im Scherz meinte, ist unklar; diejenigen, die die Geschichte erzählen, gehen nicht davon aus.)
„… in der Unternehmenskultur undenkbar“
In der Pressemitteilung von Axel Springer steht der Satz: „Auf Basis von Gerüchten Vorverurteilungen vorzunehmen, ist in der Unternehmenskultur von Axel Springer undenkbar.“ Der ist nachvollziehbarerweise von vielen mit schallendem Gelächter aufgenommen worden.
Interessant sind aber auch die Sätze davor:
Wenn aus Gerüchten über andere Personen konkrete Hinweise von Betroffenen selbst werden, beginnt das Unternehmen – wie im aktuellen Fall – sofort mit der Aufklärungsarbeit. Wenn aus Hinweisen Beweise werden, handelt der Vorstand. Diese Beweise gibt es bisher nicht.
Damit bestätigt Springer indirekt, dass es nicht nur Gerüchte sind, sondern „konkrete Hinweise von Betroffenen“. Das heißt noch nicht, dass sie stimmen oder sich beweisen lassen. Aber es widerspricht dem Eindruck, der in den vergangenen Tagen zum Beispiel von der ehemaligen „Bild“-Redakteurin Anna von Bayern auf ihrer Facebookseite erweckt wurde, dass es sich bei den Vorwürfen gegen Reichelt nur um vages Getuschel handelt.
Sie unterstellte dem „Spiegel“, nur „ganz viele Gerüchte gehört“ zu haben: „Warum Quellen erfinden, wenn man ganz ohne sie auskommt?“
Der „Spiegel“ macht einerseits erschütternde Vorwürfe öffentlich, distanziert sich aber andererseits mit vielen „soll“- , „angeblich“- und „so heißt es“-Formulierungen von ihnen. Das ist zwar keine Besonderheit in diesem Fall, sondern journalistische Routine in der Berichterstattung von Vorwürfen. Doch dadurch lässt sich sein Artikel sowohl als vernichtende Anklage lesen als auch als erschütternden Beleg dafür, wie haltlos sie sind.
Doch das ist nicht so. Es gibt zwar, einerseits, viele schillernde, aufregende Gerüchte über das Treiben von Julian Reichelt und anderen „Bild“-Redakteuren. Es gibt aber, andererseits, auch konkrete schockierende Behauptungen von Frauen, die sich mit ihren Erlebnissen hilfesuchend an Freunde, Vertraute oder Anwälte gewandt und letztlich so das Compliance-Verfahren und die Berichterstattung darüber ausgelöst haben.
Das heißt nicht, dass ihre Vorwürfe stimmen. Es gilt auch für Julian Reichelt die Unschuldsvermutung. Aber es wäre völlig falsch so zu tun, als sei auch die Existenz dieser Frauen und ihrer Vorwürfe nur ein Gerücht.
Korrektur, 13:48 Uhr. Wir hatten Anna von Bayern zunächst fälschlicherweise Zitate über Julian Reichelt und seine Wirkung auf junge Frauen zugeschrieben, die aber nicht von ihr, sondern von einer Kommentatorin auf ihrer Seite stammen. Wir bitten um Entschuldigung!
Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
„Alles, was ich in meinem Leben getan habe, habe ich immer für diesen Laden getan und für die Leute hier.“
Die Aussage hätte auch von Robert de Niro in einem Film von Martin Scorsese stammen können.
Das ist doch typisch für Leute in hohen Führungspositionen, die nichts anderes als ihre Arbeit haben und zu fragwürdigen Methoden greifen, um ihre Position zu sichern. Er ist mit Sicherheit davon überzeugt, nichts falsch gemacht zu haben, auch typisch für Machtmenschen.
Für mich hat er sich damit selbst entlarvt und ich halte es für ziemlich ausgeschlossen, dass er nochmal auf seinen Posten zurückkehren kann.
Ich finde es schlimm daß Julian Reichelt aus seinen mutmaßlichen persönlichen Verfehlungen den Versuch stricken will, Opfer von BILD Hassern geworden zu sein, die die Zeitung nieder ringen wollen, indem sie auf ihn zielen.
Daß er dann noch wie in einem plakativen 50er Jahre Agentenkrimi Moskau als „Drahtzieher“ ins Spiel gebracht haben soll – wow. Er muss wirklich schwimmen.
Ich drücke den Frauen alle Daumen, dem Druck und den Einschüchterungesversuchen, über die berichtet wurde, standzuhalten.
„Von jungen Frauen, die behaupten, sein Opfer geworden zu sein, zum Beispiel nach intimen Beziehungen zu ihm.“
Der Gedanke muss sich erst mal setzen. Es gibt also junge Frauen, die sich freiwillig mit ihm auf intime Beziehungen eingelassen haben, und das auch noch zugeben? Bei aller Antipathie gegen den Mann: Mein Verstand sowie mein Respekt vor weiblichem Selbstwertgefühl und weiblicher Intelligenz weigern sich immer noch, das zu glauben.
Ein Stück weniger Aufmerksamkeit für diese finstere Figur, die gelegentlich leider schon als Journalist bezeichnet worden ist, würde sicher nicht schaden. Hoffentlich erledigt sich das bald.
Anton Sahlender
@Ulf J. Froitzheim
Das klingt irgendwie nach einem schalen Witz auf Kosten dieser Frauen. „weiblichem Selbstwertgefühl und weiblicher Intelligenz“ soll womöglich positiv klingen, ist aber irgendwie genau betrachtet keine sinnvolle Formulierung.
Zur Sache selbst: Erstmal ist es jedes Menschen einzelne persönliche Entscheidung, die zu respektieren ist. Dann weiß man nicht, wieviel Druck/Abhängigkeitsverhältnis da schon mit rein gespielt hat. Zuletzt sollten Sie nicht unterschätzen, dass solche mächtige Menschen mit psychopathischen Zügen auch sehr charmant sein können wie auf Knopfdruck, wenn es ihren Zielen dienlich ist. Das ist manchmal schon gruselig zu beobachten.
(Psychopathische Züge nicht als etwaige derbe Beleidigung, sondern als Vermutung so gemeint wie in diesem Artikel:
https://www.spiegel.de/karriere/fuehrungskraefte-heiner-thorborg-ueber-psychopathen-chefs-a-1001377.html )
Der Reichelt hat wohl irgendwas gemacht. Hoffen wir, dass anders als bei Wedel oder anderen wegen Verjährung längst unjustiziabeln Metoo-Fällen, diesmal d i e Instanz darüber richten kann und wird, die dafür zuständig ist, nämlich eben die Justiz. Dazu ist nun leider in einem Rechtstaat unabdingbar, dass sich Opfer, oder die sich als solche empfinden, rechtzeitig aus der Deckung wagen. Interessant ist dabei stets der Effekt der gegenseitigen Ermutigung: Endlich überwindet zb eine einzelne Frau Scham und Angst und klagt an. Und dann folgen viele andere. Vielleicht kann das nicht anders sein, wenn man weiter Angst vor dem Täter und öffentlicher Blosstellung intimer Sachverhalte hat. Zumindestens in den Fällen, wo eine freiwillige sexuelle Beziehung im Spiel ist, mag man das auch verstehen. Die Complianceregeln des Springerverlags sollten ansonsten mobbingähnliche Vorfälle ebenso ahnden wie die jedes anderen Arbeitgebers und es bleibt zu hoffen, dass auch bei diesen Dingen der für die Öffentlichkeit einzig relevante straf- zivil- und arbeitsrechtliche Rest gut justiziabel ist und es nicht wie bei Wedel und der ZEIT bei anmassenden Vorverurteilungen durch hochtrabendes ideologisiertes Feuilletongeschwurbel bleibt. Was damals mein Nachbar Thomas Fischer zu Recht als unsinnigen Versuch einer aussergerichtlichen Pseudobeweisführung lächerlich machte, worauf er nicht länger für das Wohlfühlblatt schreiben durfte. Wenn da was war, sollte man es so beweisen, dass es jedem klar wird. Aber allzu oft erfolgt eben das hierzulande nicht. Am Schluss bleiben Gerüchte und selbstgerechte Empörungsorgien. Und der nächste Wichtigkasper wird BLÖD-Boss. Das wäre zu wenig für zu viel Aufwand und wochenlanges Geschrei. Also mal ausnahmsweise Butter bei die Fisch und kein Schmalz.
Der Fall Wedel ist ja zum Glück nicht verjährt, weil man die Verjährungsfristen verlängert hat.
Was Reichelt betrifft, naTÜRlich lässt er sich beurlauben, wenn die Vorwürfe stimmen. NaTÜRlich lässt er sich auch beurlauben, wenn die Vorwürfe nicht stimmen.
Wenn die Vorwürfe konkreter sind als „Ich habe mal von einer Kollegin gehört, dass DEREN Kollegin sich hochgeschlafen hat/sich NICHT hochschlafen wollte…“, muss es so oder so das machen, damit es am Ende nicht heißt: „Solange Reichelt hier rumlief, wollte sich irgendwie keine äußern. Ein Schelm und so.“
Beim WDR lese ich in ähnlichem Zusammenhang, dass ein Problem der internen Strukturen die mangelnde Anonymität sei. Wenn die Person, über die man sich beschweren will, gerade von „Feinden“ spricht, die sie „vernichten“ wollten, ist Anonymität sogar noch wichtiger, denn damit wären ja wohl auch „Feindinnen“ gemeint.
@Marcel H. : Im Fall Wedel hat die Staatsanwaltschaft ja Anklage erhoben.
https://www.zeit.de/kultur/film/2021-03/verdacht-vergewaltigung-dieter-wedel-anklage-staatsanwaltschaft-muenchen
Na, das ist doch jetzt eine wunderbare Gelegenheit den heiligen Sankt Julian mit den Stilmitteln seiner Bild Zeitung durch den Dreck zu ziehen. Auf geht’s…