Der Volks-Reporter
Ulli Zelle steht vor dem Eingang der Berliner Waldbühne und ist nicht glücklich.
Paul McCartney tritt heute auf, aber darüber zu berichten, ist kein Traum. Es gab keine Gelegenheit für den Reporter, den Weltstar kurz für ein paar Sätze zu treffen; stattdessen muss er vorbereitete PR-Schnipsel zeigen. Um zehn vor acht ist die Live-Schalte in der „Abendschau“ des rbb, eigentlich hatte Zelle gehofft, wenigstens ein paar Eindrücke vom Auftakt schildern zu können, aber das Konzert beginnt zu verspätet.
Und dann hakt es beim Abspielen der kurz zuvor im Ü-Wagen geschnittenen Filme, eine Anmoderation von ihm passt nicht, sein Mikrofon ist einmal nicht an, alles kein Drama, aber Ulli Zelle ärgert sich.
Seit 1984 berichtet Ulli Zelle für die „Abendschau“, heute wird er 65 Jahre alt. Er ist eine Berliner Institution. Ein Maskottchen des Senders? „Urgestein“ ist ihm lieber.
Er berichtete am Abend des 9. November 1989 von der Bornholmer Straße, er hat all die Weltstars getroffen, die die Stadt besucht haben, ungezählten Berlinern und Zugereisten sein Mikrofon hingehalten. Eine „Abendschau“ ohne dreiminütige Schalte zu Ulli Zelle, wie er auf einer Baustelle steht, bei einer Festivität, im Schneechaos, am Stau, ist eigentlich keine „Abendschau“.
Er hat kein Problem damit, wenn um ihn herum in seinen Live-Schalten das Chaos tobt, wenn Kinder ihm das Mikrofon entreißen, Fußballfans ihm Bierduschen verpassen. Einmal, sagt er, das war auch an der Waldbühne, hatte Borussia Dortmund gewonnen, „und da hat ein Typ mich permanent abgeknutscht. Der war total betrunken, aber so glücklich. Und der küsste und küsste und küsste, aber ich hab mich nicht beeindrucken lassen.“
Nur wenn etwas nicht klappt, dann ärgert er sich, auch nach Jahrzehnten in dem Job, und dann sieht man ihm das auch an.
Dabei ist Chaos immer besser als Leere. „Fehlende Stimmung vor Ort, nicht vorhandene Menschen, fallen immer auf den Reporter zurück.“ Ganz schlimm, ganz typisch, sind Bezirksverordnetenversammlungen in Friedrichshain-Kreuzberg. „Da geht es drinnen hoch her, aber du stehst vor einer verschlossenen Tür und musst sagen: ‚Da drinnen geht es hoch her.'“
Neulich, bei der 1.-Mai-Demo, hat ihm eine Frau bei einer Umarmung, ohne dass er es merkte, einen Anti-Pegida-Sticker aufgeklebt. Da war aber was los! „So ist das in den Medien“, stöhnt Ulli Zelle. „Du kannst 32 Jahre arbeiten und bist Sekunden mit einem Sticker im Bild und hast eine Presse wie all die Jahre vorher nicht.“
Er sagt, er kenne jedes Haus, jeden Keller, jeden Tunnel und jeden Turm in Berlin, und wenn man mit ihm auf dem Glockenturm steht, von wo aus man auf die Walbühne schauen kann, aber auch über die ganze Stadt, fängt er sofort an, es einem zu beweisen und geht schon mal die Türme einzeln durch. Dann lässt er den Blick schweifen und sagt: „Das ist meine Spielwiese hier. Groß-Berlin.“
Wenn man sie sieht, von hier oben, die Stadt, ihre Größe und ihre Unterschiedlichkeit, ahnt man auch, wie schwer es ist, das zu schaffen, was der „Abendschau“ nach den Worten von Zelle gelingen muss: ein Gefühl für die Stadt rüberzubringen. Gibt es das überhaupt in dieser Stadt, ein Gefühl?
Zelle zählt auf, welche Zuschauer er vor Augen hat bei der Arbeit: Die Oma in Marzahn und den emeritierten Professor in Zehlendorf; den Typ, der in Friedrichshain zuhause ist, und den „Normalberliner“ in Spandau.
Der Normalberliner lebt in Spandau? „Ja. Das sind die klassischen ‚Abendschau‘-Zuschauer. Die in dieser Stadt geboren sind, hier sozialisiert sind. Das sind Berliner, aber die tragen nicht das Hauptstädtersein vor sich her. Einfach Berliner – das ist für sie der Normalzustand.“
Man könnte ihn spontan irgendwo hinschicken in der Stadt und er würde es schaffen, auf Kommando seine drei Minuten live zu absolvieren, Thema und Anlass egal, „außer Sport – da mach ich nur Fanmeile. Es gibt Studium generale, und das ist Reporter generale.“
Das Schönste an seinem Job, sagt er, ist das Spannungsfeld. „Wenn eine Woche aus Paul McCartney, einem Porträt über einen Demenzkranken, einer Demo gegen Pegida und vielleicht einer Reportage über Obdachlose am Bahnhof Zoo besteht, und dann kommt noch Susan Sarandon vorbei – dann ist das eine gute Woche.“
Es ist, natürlich, Routine. Diese Schalten zum Außenreporter, die das Leben in der Stadt in die „Abendschau“-Sendung bringen sollen, sind ein Ritual, mit den immer gleichen kurzen und oft sinnlosen Passantensätzen und Veranstaltungsberichtsfloskeln. Wenn man Pech hat als Zuschauer, gibt es sogar gleich zwei davon in einer Sendung, wie am vergangenen Dienstag, als es nicht nur zu Ulli Zelle an die Waldbühne ging, sondern auch zu seinem jungen Kollegen Arndt Breitfeldt, der von der Gartenparty des britischen Botschafters berichtete, wie schön die deutschen Erdbeeren da aussahen.
Besonders wird ein solcher Routinetermin immer dann, „wenn die Menschen um mich rum von etwas begeistert sind“, sagt Ulli Zelle. „Das ist nicht vom Ort abhängig, sondern immer von den Menschen.“
Vor der Waldbühne spricht ihn alle paar Minuten ein Unbekannter freundlich an oder grüßt ihn, wie einen netten Nachbarn: Man freut sich, ihn zu sehen. Er hat keine Aura von Prominenz, sondern strahlt Nahbarkeit aus. Obwohl er sie natürlich alle kennt, die Veranstalter, die Politiker, die Kollegen, hält er Distanz; bleibt ein Beobachter und Berichterstatter und wird nicht Teil der Szene. Zelle nennt sich „durchschnittlich“.
Abends, nach seinen Aufsagern, fährt er nie direkt nach Hause. Er macht fast immer noch Station am Stuttgarter Platz, keinem Vorzeigeort, sondern ziemlich wildes, hässliches, kontrastreiches, lebendiges Berlin, setzt sich in seine Stammkneipe und trifft noch irgendwelche Leute.
Er braucht sie immer um sich. Ruhe braucht er nie. „Doch“, fällt ihm ein, „gestern, da gab es einen Moment.“ Am Wochenende hatte er drei Konzerte gegeben mit seiner Band „Ulli und die grauen Zellen“, dazu ein größeres Reporter-Programm, „da hab ich für eine Sekunde im Auto gedacht: Jetzt mach ich das Radio aus.“
Die besten Geschichten sind die, die er im Gespräch mit den Leuten findet, ungeplant, auf der Straße, wenn er die Menschen einfach anspricht. Nach all den Jahren im Dienst öffnen sich ihm Türen. „Wenn ich sage: Kann ich bei Ihnen vom Balkon mal in die Gerhart-Hauptmann-Schule gucken, dann lassen die mich da schon mal rein.“
Er streift im rbb-Fernsehen längst nicht mehr nur durch Berlin; das „Heimatjournal“, das er im Wechsel mit Carla Kniestedt moderiert, führt ihn auch in entlegene Ecken Brandenburgs. Fragt man ihn aber, ob das eine bewusste Entscheidung war, als Kontrast, winkt er ab und fängt an, von der Vorgängersendung zu schwärmen, die dafür aufgegeben wurde: „Berlin life“, im SFB. „Das war ein Talk auf der Straße“, erzählt er. „Wir sind zu einem Brennpunkt gegangen, manchmal auch einem Wohlfühlpunkt, zwei Moderatoren, Gäste, Publikum, haben einfach mit den Leuten geredet.“ Das lag ihm am Herzen.
Von unten wehen Beatles-Klänge zum Glockenturm hoch. Ulli Zelle lauscht immer wieder hin, versucht, schon nach dem ersten Akkord den Song zu erraten, singt ein bisschen mit und bewegt sich zur Musik. Er kennt das meiste, kann dazu Geschichten erzählen, „hier, das ist ein ganz alter Titel, den haben sie noch mit den Quarrymen gemacht…“
Die Stones sind eher seine Band. Schon weil sie immer noch das sind: eine Band. „Natürlich gibt es bessere Schlagzeuger als Charlie Watts, es gibt vielleicht sogar noch bessere Gitarristen als Keith Richards. Aber die haben sich als Jungen zusammengerauft und sind seit 50 Jahren auf der Straße, das mag ich an denen. Jagger hätte ja auch sagen können, ich mache meine Show alleine.“
Die Stones konnte er – anders als Paul McCartney – auch treffen, als sie vor acht Jahren auf der Berlinale waren, um ihren Film vorzustellen. Und Jon Lord. Und von Jimmy Page hat er sich auch kürzlich noch ein Autogramm geholt, „der hat auf eine alte CD draufgeschrieben: ‚Rock On, Ulli‘, da war ich ganz stolz.“
Es liegt ein bisschen Unzufriedenheit über unserem Gespräch, und vielleicht ist das nicht nur der Ärger über die Pannen bei der Schalte gerade, sondern auch die Sache mit dem Alter. 65 wird Ulli Zelle also an diesem Sonntag. Das „Heimatjournal“ macht er auf jeden Fall noch ein Jahr; sein Rahmenvertrag als freier Mitarbeiter für die „Abendschau“ läuft Ende des Jahres aus. Und dann?
„Mir macht der Job wahnsinnigen Spaß“, sagt er. „Tue, was du liebst und liebe, was du tust? Das haut irgendwie hin. Ich werde natürlich versuchen, so lange es geht, als Reporter und Journalist weiterzuarbeiten.“
Aber wer weiß, wie es weitergeht, mit dem rbb. Und mit ihm und dem rbb. Wann immer in den vergangenen Jahren öffentlich darüber diskutiert wurde, wie sich der Sender verändern müsse, ob er nicht zu piefig und provinziell ist, fiel auch der Name Ulli Zelle als Symbol für die alten Zöpfe, die man abschneiden müsse.
„Das verletzt mich schon“, sagt er. „Weil ich das wirklich nicht bin. Ich bin weit berlinischer und hauptstädtischer als ein Großteil derer, die ein paar Jahre hier wohnen und meinen, sie hätten die Hauptstadt mit Löffeln gefressen. Ich habe sie gelebt.“
Anfang der 70er Jahre ist er von Hannover zum Studieren nach Berlin gezogen. Er hat immer schon über den Westberliner Mauerrand hinübergeschaut, den Osten erkundet, der den meisten anderen unbekannt blieb.
Jetzt lebt er in Gatow, einem Dorf am Stadtrand, jenseits der Havel. Vom Glockenturm am Olympiastadion aus zeigt er, wo das liegt, man kann den Radarturm des alten Flugplatzes sehen, wo die Queen immer gelandet ist; aber das ist nicht das wirkliche Gatow, „unser Gatow ist hier vorne“, am Wasser, da gibt es einen kleinen Windmühlenberg. „Aber das ist nur meine Schlafstelle“, sagt er. „Ich bin in der Stadt zuhause.“
Zelle könnte sofort als Stadtführer anfangen, aber die Vorstellung findet er ganz traurig. Bücher zu schreiben über die Stadt, klingt für ihn noch abwegiger. „Ich bin kein Mensch, der im Kämmerchen sitzt und ein Buch schreibt. Ich muss zu den Menschen gehen und bei den Menschen und mit den Menschen was machen.“
Er kann natürlich moderieren, das tut er jetzt schon, und mit seiner Band bei Tanzveranstaltungen und irgendwelchen Festivitäten auftreten. „Die sogenannten Muggen: musikalisches Gelegenheitsgeschäft.“
Als er sich im Ü-Wagen die Bilder ansieht, die sie von Paul McCartneys Auftritt bekommen haben, sagt er: „Das will ich auch nicht, mit 74 noch auf der Bühne rumhüpfen.“ Er zögert. „Wobei …“
…ja, auch hier ist der RBB(sfb) empfangbar.
Waren das noch Zeiten, als der Empfang auf der Transitstrecke zwischen Dreilinden und Marienborn so unproblematisch VERBOTEN war.
80km/h und Schluss.
PERFEKT
Kleine Besserwisserei: Wenn, das ist es bestimmt die Gerhart-Hauptmann-Schule gewesen. Die Abendschau wird auch gaaaanz weit im Westen verfolgt.
In den fast dreißig Jahren, in denen ich in Berlin gewohnt habe, war Ulli immer da. Der Mann ist mehr Berlin als z. B. der doofe Fernsehturm.
Wenn der geht, ist’s zappenduster. Uli Zelle ist das letzte Reporterherz unter den Fernsehmenschen, das sich für nichts zu schade ist und dabei immer die Distanz wahrt.
Legendär seine Maueröffnungsreportagen. Ein feiner Mensch, ein großer Journalist. Danke, Mann!
Ist das Absicht, daß der Prinzenbad-Ausschnitt zweimal an zwei verschiedenen Stellen eingebunden ist?
@Raoul: Es sind zwei verschiedene Szenen aus dem Prinzenbad – ich konnte mich nicht entscheiden.
Was für eine schöne Würdigung! Klasse!!
Sommerbad Neukölln am Columbiadamm, nicht Prinzenbad….
Der Aufkleber scheint „Fuck Pegida“, nicht „No Pegida“ sagen zu wollen. Vielleicht kann man ja einen US-Piepston drüberlegen, das U war ja schon für den Sticker zu Unsagbar.
Danke für die Hinweise, ist korrigiert!