SS-General als Kinderheim-Leiter

Die „Welt“ lobt, dass Kriegsverbrecher nicht „gecancelt“ wurden

Es gibt Texte, bei denen fragt man sich auch nach mehrfachem Lesen, ob man seinen Augen wirklich trauen kann. Torsten Krauel, der Chefkommentator der „Welt“, hat wohl einen der bizarrsten Artikel des Jahres geschrieben.

„Sehr große helle Augen, sehr wasserblau, sehr abwesend und zugleich sehr, sehr traurig. Als Kleinkind hat man einen Instinkt dafür, wie ein Hund vielleicht.“ So gefühlig beginnt Krauel seine Beschreibung von Hugo Kraas, einen SS-General, den er 1958 als Zweijähriger traf, in einem Kinderheim, das Kraas damals leitete.

Kraas ist einer der Protagonisten in der Dokumentation „Gequält, erniedrigt, drangsaliert“ von Ulrich Neumann und Philipp Reichert, die die ARD kürzlich ausstrahlte. Sie thematisiert die Misshandlungen und Demütigungen zahlreicher Kinder in Erholungsheimen verschiedener Träger in den 50er bis 80er Jahren, in einigen Fällen unter der Leitung von Nazi-Größen.

Screenshot: ARD

Krauel nimmt die Dokumentation jedoch nicht zum Anlass für eine Rezension oder gar eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Leid der „Verschickungskinder“ (als „Verschickung“ bezeichnete man den Kuraufenthalt zur gesundheitlichen Stärkung). Stattdessen argumentiert er, dass es zwar „unerträglich“, aber letztendlich „richtig“ gewesen sei, Nazis in unterschiedlichen Funktionen, also auch als Leiter von Kinderheimen, in die Gesellschaft zu integrieren. Denn alles andere sei „Cancel Culture“ und inhärent undemokratisch.

Eine NS-Karriere

Hugo Kraas
Hugo Kraas

Werfen wir zunächst einen genaueren Blick auf die Männer, die Krauel diffus als „ranghohe frühere SS-Mitglieder“ bezeichnet. Da ist Hugo Kraas, der SS-General. Unter seiner Leitung des Kinderheims „Seeschloss“ in St. Peter Ording kam es laut der ARD-Dokumentation zu zahlreichen Misshandlungen. Krauel, der ihm ein Jahrzehnt vorher begegnete, schreibt, die „sehr, sehr traurigen Augen“ Jahrzehnte später auf einem Foto von Hitlers Wolfsschanze wiedererkannt zu haben. „Hugo Kraas, mit Ritterkreuz und Eichenlaub.“ Bei dieser Beschreibung belässt es Krauel. Doch Hugo Kraas, der Heimleiter von St. Peter Ording, war nicht nur irgendein ranghoher SS-Mann, sondern Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS und ab November 1944 der letzte Kommandant der 12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“. Zu Kraas Hochzeit 1939 schickte Hitler persönlich Glückwünsche.

Er war bereits 1934 der NSDAP beigetreten und bis 1935 SA-Mitglied. Im September 1935 wurde Kraas Rottenführer der SS-Standarte Germania. Kraas besuchte eine der Junkerschulen der SS, an der die Führungskader der SS ausgebildet wurden – nicht nur militärisch, sondern auch weltanschaulich. Im Zweiten Weltkrieg erhielt Kraas zahlreiche militärische Auszeichnungen, er war als SS-Untersturmbannführer der Leibstandarte Adolf Hitler mit einer Panzerjägerkompanie am Überfall auf Polen beteiligt, kämpfte auf dem Balkan und in der Sowjetunion und übernahm 1942 ein Panzergrenadier-Regiment, das er zum Angriff auf Charkow führte.

Die 12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“, die er ab 1944 leitete, bestand, wie der Name vermuten lässt, aus fanatisch indoktrinierten Angehörigen der paramilitärischen Nazi-Jugendorganistaion – sie waren kaum volljährig und alsbald auf Grund ihrer Verbissenheit und Brutalität gefürchtet. Nach dem Krieg blieb Kraas seinen faschistischen Überzeugungen treu. Er gehörte der HIAG an, der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS, einer rechtsextremen Vereinigung zur historischen Rehabilitierung von SS-Angehörigen, die zwischenzeitlich vom Verfassungsschutz beobachtet wurde.

Statt die Leserinnen und Leser mit solchen Einzelheiten zu behelligen, beschränkt sich Krauel darauf, sie zu informieren, dass Kraas nicht viel, und wenn doch, leise sprach.

Ein Nazi der ersten Stunde

Krauel schreibt, dass Kraas bei der Beerdigung von SS-General Sepp Dietrich den Trauerzug anführte. Mehr wird dazu nicht gesagt. Josef „Sepp“ Dietrich war ein Nazi der ersten Stunde – seit 1925 Mitglied der NSDAP und ab 1928 der SS. Er wurde während des Röhm-Putschs mit der Ermordung der SA-Führungsriege im Gefängnis München-Stadelheim beauftragt – unter seinem Kommando wurden dort auf Hitlers Befehl die SA-Führer Wilhelm Schmid, Hans Hayn, Peter von Heydebreck, August Schneidhuber, Hans Erwin von Spreti-Weilbach und Edmund Heines erschossen. In der Sowjetunion wurde Dietrich wegen der Kriegsverbrechen seiner Panzerdivision in Charkow (1943) in Abwesenheit zum Tode verurteilt, 1946 verurteilte ihn ein amerikanisches Militärgericht in Dachau zu lebenslanger Haft wegen seiner Rolle bei der Erschießung von mehr als 70 amerikanischen Kriegsgefangenen beim Malmedy-Massaker. Trotzdem wurde Dietrich schon 1955 begnadigt. Auch er war bis zu seinem Tod in der HIAG aktiv.

Relativ schnell verlässt Krauel das Thema der Gewalt an Kindern in Erholungsheimen, die von Nazi-Größen geführt wurden, und wendet sich Altnazis zu, in deren Nachbarschaft er als Kind aufwuchs. Er nennt Richard Baer, den letzten Kommandanten der Konzentrationslager Auschwitz und Mittelbau Dora – ein Mann, der während seiner langen NS-Karriere unter anderem auch in Dachau, Oranienburg, Sachsenhausen und Neuengamme tätig gewesen war und den Holocaust mit ausgeführt hatte.

Nach der Erwähnung eines Klassenlehrers, der sich fälschlicherweise als ehemaliger SS-Offizier ausgab, taucht an dieser Stelle der vielleicht bizarrste Satz im ganzen Text auf: „Die hübscheste, klügste Mitschülerin war Jüdin, was damals niemand in der Klasse wusste.“ Was das mit der ARD-Doku, der Gewalt gegenüber den „Verschickungskindern“ oder der oft angesehenen gesellschaftlichen Stellung von Altnazis nach 1945 zu tun hat, bleibt Geheimnis des Autors.

Keine „Cancel Culture“

Krauel malt sein Bild der Nachkriegszeit: die Mutter einer Klassenkameradin, einst BDM-Führerin, und der Musiklehrer, der zur „Bekennenden Kirche“ gehörte, neben dem ehemaligen KZ-Leiter und dem vermeintlichen SS-Mann als Lehrer. Und irritierenderweise ist seine Schlussfolgerung aus dieser Realität der Nachkriegszeit, in der Nazis in Behörden, Justiz und Gesellschaft oft unbehelligt weiterleben konnten, ohne für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden, nicht etwa, dass das eine Schande der noch jungen Bundesrepublik gewesen sei. Nicht, dass es sich hierbei um das Versäumnis einer ganzen Gesellschaft handelte, die die Täter in den eigenen Reihen schützte, was langanhaltende Folgen für die Schulbildung und Kindererziehung ganzer Generationen hatte. Seine Schlussfolgerung ist nicht Unterstützung für die Opfer von Altnazis, die ihr faschistisches Weltbild nie aufgegeben hatten und ihre Menschenverachtung gegen die ihnen zum Schutz anvertrauten Kinder anwandten, nein, Krauel schlussfolgert: Es gab keine „Vertreibung der lebenden Vergangenheit aus dem Gesichtsfeld. Das war rückblickend so unerträglich wie richtig.“ Alles andere wäre „Cancel Culture“ und Rache.

Samira El Ouassil hat in ihrer Kolumne aufgezeigt, dass „Cancel Culture“ ein Nicht-Begriff ist, ein hohler Terminus, der gern hervorgeholt wird, um Debatten zu delegitimieren, beispielsweise bei Themen wie rassistischer Sprache, Inklusion und Gender. Der Protestschrei, dass Meinungsfreiheit nicht mehr existiere und alles „gecancelled“ werde, ist in konservativen Kreisen en vogue, denn es lassen sich damit hervorragend Strohmann-Debatten führen.

Ernsthaft zu behaupten, eine Strafverfolgung der NS-Täter, eine Entfernung von Personen mit nationalsozialistischem Gedankengut aus sozialen und gesellschaftlichen Machtpositionen wäre „Cancel Culture“ gewesen, ist nichts als perfide.

Krauel scheint davon auszugehen, die Namen in seiner Liste von Altnazis und Kriegsverbrechern würden seine These bekräftigen. Vielleicht erwähnt er deswegen Albert Viethen nicht. Die Doku zeigt ihn im bayerischen Berchtesgarden als ärztlichen Leiter des Kinderkurheims „Schönsicht“, in dem Kinder misshandelt wurden. Er gehörte dem NS-Ärztebund, der SS und der NSDAP an. Er war an Euthanasie-Verbrechen beteiligt: Aus seiner Klinik wurden zur Nazi-Zeit 20 Kinder an eine Tötungsanstalt weiterverwiesen. Von sieben davon weiß man heute, dass sie dort getötet wurden.

Oder Dr. Werner Scheu. Der leitete auf Borkum das Kurheim „Möwennest“, in dem Kinder gequält wurden. Auch er ein NS-Kriegsverbrecher: Er war 1941 an der Erschießung von 220 litauischen Juden beteiligt und erschoss selbst mindestens vier Menschen. Dafür wurde er 1964 rechtskräftig verurteilt.

Der freundliche Kriegsverbrecher von nebenan

Krauel merkt zwar an, es habe „viel zu wenig“ NS-Prozesse gegeben. Aber das Gute war, dass es keine Rache gegeben habe: „Rache ist das zweifelhafte Privileg von Diktaturen.“

Die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern und ihren gesellschaftlichen Ausschluss mit Rache gleichzusetzen, zeugt von einem wahrhaft beunruhigendem Geschichts- und Demokratieverständnis. Wenn die konsequente Verfolgung und Ächtung von Kriegsverbrechern der Entfernung der „lebenden Vergangenheit aus dem Gesichtsfeld“ gleich käme, wie Krauel formuliert, entspricht das der kruden Logik der amerikanischen Rechten, die argumentieren, ohne Statuen von Sklavenhaltern würde dieser Teil der Geschichte in Vergessenheit geraten.

Es ist sogar noch perfider, denn daraus folgt: Hätte man Alt-Nazis in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik aus Machtpositionen entfernt und sie strafrechtlich verfolgt, hätten wir unsere Geschichte vergessen.

Was bezweckt eine große deutsche Tageszeitung mit der Veröffentlichung dieses Textes? Geht es um Klicks, Empörung unter dem Schlagwort „Cancel Culture“ und Provokation? Sie macht damit ein verharmlosendes Narrativ vom freundlichen Kriegsverbrecher von nebenan salonfähig. Es war eben die gute alte Zeit, ohne „Cancel Culture“, als Alt-Nazis noch Kinderkurheime leiten und ihre Verrohung an Kindern auslassen durften. Man konnte sich ja, so Krauel, auch aus dem Weg gehen. Als „Verschickungskind“ dürfte das schwierig gewesen sein.

30 Kommentare

  1. > Was bezweckt eine große deutsche Tageszeitung mit der Veröffentlichung dieses Textes?

    In der Tat. Speziell bei der Welt frage ich mich auch schon lange, was diese große deutsche Tageszeitung damit bezweckt, sich einen seit Jahren von der rechten Szene gekaperten Kommentarbereich zu halten. (Nach spätestens drei Kommentaren sind sie dort bei „Männer(TM) höhö“ und „Merkel-Regime“ angekommen.) Inhaltlich kann es ja eine Zeitung, die seriös sein will, nicht voranbringen. Aber es gibt wohl Seitenaufrufe, also Ranking für die Werbeeinnahmen. Im erbärmlichen besten Fall ist das wohl das Motiv.

  2. Es ist ein bisschen naiv zu behaupten, dass Kriegsverbrecher und Nazis nicht verfolgt wurden, weil es (noch) keine #CancelCulture gab.
    Dabei gab es viel bessere Gründe, warum alte Faschisten und Nazis wie Gehlen, Globke und Hallstein weiter Ämter bekleiden durften: sie waren dem richtigen Dienstherrn gehorsam, weil jederzeit kompromittierbar. Mit dieser Angst im Nacken waren sie immer ein williges Werkzeug auch gegen erwiesene Antifaschisten, die dazu neigten, die Nachkriegsordnung als die Ihrige misszuverstehen. Divide et impera.
    Dasselbe Spiel wurde nicht nur in Deutschland gespielt, sondern auch in Italien und Frankreich. Die chamäleonhafte Figur François Mitterand, in den letzten Besatzungstagen vom rechtsradikalen Vichyisten zum Résistant mutiert, ist da nicht weniger interessant als der auch in der NS-Zeit machtnahe Jurist Hallstein, der später zum Über-Europäer verklärt wurde.

  3. Die sogenannte Cancel-culture gab’s schon, sie hieß bloß anders. „Ausgrenzen“ oder „Schneiden“.

    Aber was für ein blödsinniger Artikel – dass die Strafverfolgungsbehörden (und Schulen und sonstige Behörden) der 50er-BRD sich schwer mit der Verfolgung von Nazi-Verbrechen taten, lag ja wohl eher daran, dass dieser Apperat hauptsächlich noch zu Nazizeit ausgebildet und eingesetzt war; „befangen“ nennt man das wohl.
    Und dass sich niemand an denen „gerächt“ hat, ist von daher kein Verdienst. Rache ist btw auch Merkmal von vorstaatlichen Kulturen, Diktaturen sind dafür umgekehrt manchmal verblüffend vergebend.

    Und wenn man Nazis nicht nur nicht bestraft, sondern ausgerechnet Kinderwohnheime leiten lässt, ist das auch kein Symptom mangelnder CC, sondern mangelnden Interesses. Um es mal nett zu formulieren.

  4. @ Mona #4
    „Artikel gelesen?“
    Klar. Er ist eine Spiegelfechterei um Gesinnung und „Kultur“ mit dem unsäglichen Torsten Krauel von der WELT.
    Es geht aber in der Geschichte nicht primär um Gesinnung und „Kultur“, sondern um Personen, Interessen und Macht. Und wenn man fragt, warum die im Artikel erwähnte HIAG und ihre Mitglieder ihre Rolle spielen konnten, dann kommt man zB bei der Nachkriegsrolle von Reinhard Gehlens BND heraus und seinem Potenzial, auch mit der Hilfe solcher rechtsradikaler StayBehind-Organisationen einen kommunistischen Aufstand niederzuschlagen oder eine ausbüchsende sozialdemokratische Regierung wegzuputschen.
    Dieser Machtfaktor war eine tragende Säule der Nachkriegsrealität, die nicht versteht, wer den Blick auf (die größtenteils nachträglich konstruierte richtige) Gesinnung und Kultur verengt.

  5. Schöner Text, danke. Bin immer wieder fassungslos was diese Zeitung so veröffentlicht.

    Aber klar gab es in der jungen BRD eine „Cancel-Culture“… schweigen darüber, was die ältere Verwandtschaft so im NS-Regime so gemacht hat.

  6. Sorry aber lol … also ernsthaft ich musste gerade kurz und heftig lachen, weil ich unter einem anderen üm-Artikel ironisch schrieb „Entnazifizierung ist Cancel Culture“.
    War ja klar, dass „Welt“ mir voraus war … Leider unironisch.

    „(…) Empörung unter dem Schlagwort „Cancel Culture“(…)“
    Klar, das Buzzword bringt jetzt für 2-3 Wochen noch gut Klicks. Das kann man erbärmlich finden (#1) oder man erkennt einfach an, dass Internet-Aufmerksamkeitskultur nun mal so läuft.
    Naja, lief eigentlich immer schon so – „Sau durchs Dorf treiben“.
    Heute sind die Säue halt schneller und es gibt mehr als nur ein Dorf.
    Außerdem muss die Sau nicht Sau sein, sie darf auch mal die Peitsche oder einer der Viehtreiber sein. Je nachdem, welches Dorf man überzeugen will.

    Jede Kritik am Text ist jetzt natürlich Teil der und Beleg für Cancel Culture.
    Immunisierung abgeschlossen, Rainer Meyer übernehmen Sie – Mit
    Bildern unserer schönen deutschen, ungecancelten Heimat, bitte!

  7. Der Test ist zu lange und kümmert sich auch zu lange um den/die Nazis.

    Kurz:
    Es ist richtig, dass auch überlebende Nazis irgendwie an der Bundesrepubkik Deutschland teilhaben können müssen.

    Cancel Culture ist ein Nicht-Begriff.
    Der Nicht-Begriff wird tatsächlich meist von Konservativen/Rechtsextremen verwendet, um das manchmal berechtigte Entfernen/Kritisieren vergangener Personen aus dem Alltag, zu verhindern.

    Der Begriff Cancel Culture soll eine Diskussion über solche Entfernung/Kritisierung vergangener Personen im Keim ersticken.

    Es wird die Zeit kommen, dass man den Konservativen/Rechtsextremen selbst den Nicht-Begriff Cancel Culture entgegenwirft, wenn es um deren Revisionismus geht.

    Wir in Deutschland haben das Problem, dass wir Begriffe aus dem Ausland übernehmen und weiterspinnen oder auf unsere Gesellschaft projizieren, so dass diese Begriffe irgdenwann nicht mehr greifbar sind.

  8. Konrad Adenauer nach Gründung der Bundesrepublik:
    „Isch bruch erfahrene Verwaltungslück um ene funksjonierende Staatsapparat opzubaue“
    „Herr Bundeskanzler, erfahrene Verwaltungsfachleute hatten alle hohe Posten im Beamtenapparat der Nazis.“
    „Iss ejal, dann nehme mer halt die.“

    Konrad Adenauer:
    „Isch bruch der Globke für ming näheres Umfeld, datt issene jode Mann.“
    „Herr Bundeskanzler, Hans Globke war Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze.“
    „Datt iss mir ejal, der hätt Ahnung vun Verwaltung, esu eine bruch isch.“

    Konrad Adenauer Mitte der fünfziger Jahre:
    „Isch bruch erfahrene Suldate um ene funksjonierende Armee opzubaue“
    „Herr Bundeskanzler, erfahrene Soldaten hatten alle hohe Posten in der Wehrmacht der Nazis.“
    „Iss ejal, dann nehme mer halt die.“

    Tja, so ähnlich war das damals in allen Bereichen des Staatsgefüges.

  9. Wenn man der Logik des Welt-Kommentators folgt, dann war die die Säuberung von alten SED-Kadern nach der Wende in Ostdeutschland also „Cancel Culture“ und abzulehnen?

    Glaube ja nicht, dass er da zustimmen würde!

  10. Soweit ich Zeitungen verstanden habe, bedeutet „Kommentar“ die persönlichen Anmerkungen des Kommentierenden. Nicht automatisch die gesammelte Zustimmung der Chefredaktion und der Herausgeber.
    Damit finde ich die Überschrift „Die Welt lobt,“ etwas simplifizierend.

    Aber das wisst ihr schon.

  11. „Aber es gibt wohl Seitenaufrufe, also Ranking für die Werbeeinnahmen. Im erbärmlichen besten Fall ist das wohl das Motiv.“

    Offizielle Zahlen wird man wohl nie erfahren, aber es ist kein Geheimnis, dass der harte Kern der Kommentar-Schreiber und -leser einen erheblichen (wenn nicht größten) Teil der Seitenbesucher ausmachen. Manche reloaden die Seiten minütlich, um nicht zu verpassen, wer auf ihre Provokationen reagiert. 50% wiederkehrende Benutzer werden es bei Welt.de, focus.de & Co. mind. sein. Das Geschäftsmodell ähnelt denen von Free to play-Games, die Nutzer müssen ständig mit neuen Reizen gefüttert werden.

  12. @Andreas Müller:
    Die armen Nazis als Opfer ihrer Selbst in einer neuen Zeit und als williges Werkzeug von gnadenlosen Ausbeutern? Mir kommen die Tränen. Ich Empfehle Ihnen das Buch von Jan Erik Schulte und Michael Wildt: Die SS nach 1945. Entschuldungsnarrative, populäre Mythen, europäische Erinnerungsdiskurse. Des weiteren ein bisschen Zeit zum Lesen und zum kritischen Auseinandersetzen mit Ihrer These ;-)

  13. „Sorry aber lol … also ernsthaft ich musste gerade kurz und heftig lachen, weil ich unter einem anderen üm-Artikel ironisch schrieb „Entnazifizierung ist Cancel Culture“.“ Und ich dachte wirklich, Sie hätten das hierauf bezogen…
    Ok, klarer Fall von „denkste“.

  14. @16: Mein Kommentar unter dem anderen Thread bezog sich auf
    „Oder wollen wir heute noch am Adolf-Hitler-Platz cornern oder unsere Steuerklärung unterm Hakenkreuz abgeben?“ und Ihre Replik „Das wir das nicht mehr tun, hatte mit Cancel-culture nichts zu tun.“
    Diesen Artikel hatte ich bis dahin nicht gelesen.

    Weg von der Egomanie, zurück zum Text:
    „Die These (…) ohne Statuen von Sklavenhaltern würde dieser Teil der Geschichte in Vergessenheit geraten.“
    M. E. wird das Gegenteil ja auch heftigst praktiziert: Bei Rommel z. B. bestehen einige Militaria durchaus darauf, dass er als hervorragender militärischer Mensch gesehen wird, nicht als Nazi-General.
    Erwin-Rommel-Straßen gibt’s noch zuhauf.
    Ist deren Umbenennung nun Cancel Culture oder Entnazifizierung in der 5. Generation (halb ironisch gemeint)? Ich z. B., mit meinen jugendlichen 33 Jahren musste mir erst mal die Geschichte dazu aneignen um den Konflikt verstehen zu können, bezweifle also die Relevanz der Diskussion, aber auch die Notwendigkeit des Vorhandenseins von Rommelstraßen mit voranschreitender Zeit.
    Mein persönliches Problem ist, dass sich die „geht mich nichts an, ist Geschichte“ Mentalität durchzusetzen scheint, obwohl die Relikte dieser Zeit eben noch durchaus präsent sind- gerade die „Passiven“, z. B. Autobahnen oder generell Bauwerke.
    Der Vergleich zur Sklaverei in den USA ist also gar nicht weit hergeholt, auch da geht es um kollektives Vergessen(wollen) bei gleichzeitiger Nutzung des „Wohlstands“ die diese Systeme mit sich gebracht haben. Die US-amerikanische „Rassentrennung“ liegt kürzer zurück, als die NS Zeit. Der große Unterschied ist m. E., dass Deutschland im Krieg besiegt wurde, während die Überwindung der Rassentrennung in USA ein „organischer“ Prozess war – Dem auch zum Glück keine Restauration folgte. Umso erstaunlicher ist es, dass es den Opfermythos einer unterdrückten weißen Rasse in USA und hier gleichsam gibt.
    Insofern war ich mit meinem „Baudrillards Simulationstheorie“ vielleicht doch etwas vorschnell – Eine Vergleichbarkeit besteht durchaus.
    Mich interessiert ja auch, wie die öffentliche Diskussion in anderen Ländern aussieht, z. B. zu Themen wie Kolonialstrukturen und Sklaverei. Da gab’s ja einige Big Player auf dem Weltmarkt.
    Ich kenne das z. B. aus Lissabon, wo es ja das „Denkmal der Entdeckungen“ gibt, das das Thema eher „unkritisch“ angeht. Da war ich schon überrascht als relaxter Urlauber, so eine „Statue von Sklavenhaltern“ zu sehen.
    Ich glaube das Thema wird komplexer, je tiefer man da einsteigt.

  15. Ok, anders – angesichts der nicht gerade flächendeckenden juristischen Aufarbeitung der Nazizeit, und der politischen Aufarbeitung, die – wenig überraschend – erst eine Generation später einsetzte, ist jetzt die Umbenennung von Erich-Rommel-Straßen eher oberflächlich. Kein heutiger oder zukünftiger Nazi wird dadurch ein besserer Mensch, umgekehrt wird niemand Nazi, weil soe in der Rommelstraße wohnt.
    Aber meinetwegen, vor allem, niemand nennt eine Straße Erich-Rommel-Str., um an den 2.WK zu erinnern, das ist Quatsch.
    Dafür gibt’s Geschwister-Scholl-Gymnasien und Janosz-Korczak-Grundschulen.

    Dass es mich nichts angeht, ist genauso Quatsch. Ich bin nur hin- und hergerissen zwischen Leuten, die sagen: „Gut, dass es in den 50ern noch keine Cancel culture gab!“ – Weteef? – und Leuten, die sagen: „Die Existenz der Erich-Rommel-Straßen zeigt, dass Deutsche alles Nazis sind.“
    Das sind ein paar Umdrehungen zu viel, in beide Richtungen.

  16. „Geht es um Klicks, Empörung unter dem Schlagwort „Cancel Culture“ und Provokation?“

    Nein. Es geht um Identifikation mit der Zielgruppe.
    Das ist kein Thema von vorgestern. Die Nazis sind da.

  17. Das Thema mit den Statuen von bekannten Sklavenhaltern/-händlern ist doch sehr einfach:

    wenn es den Leuten, die den Abbau der Statuen kritisieren, wirklich darum ginge, dass die Geschichte nicht vergessen wird, könnte man diese einfach durch Statuen von Menschen aus dieser Zeit ersetzen, die sich gegen die Sklaverei ausgesprochen haben. Damit würde der Geschichtsvergessenheit ebenso entgegengewirkt.

    Wenn das auch abgelehnt wird, weiß man, dass es nicht um die Geschichte geht, sondern dass die das doch irgendwie geil finden, dass da ne Statue eines Vertreters der „Herrenrasse“ steht (der unschuldigen Menschen unsägliches Leid zugefügt hat und damit die USA wohlhabend gemacht hat).

  18. „(…) das ist Quatsch“
    Warum existieren sie dann, wenn sie nicht an die Errungenschaften der Person (im 2. WK) erinnern sollen? Ernst gemeinte Frage.
    Ohne die „War er Nazi?“ Diskussion hochkochen zu wollen: Er muss ja für (Nazi-) Deutschland etwas erreicht haben, sonst hätte man keine Straßen nach ihm benannt. Ob er dem Regime „eher kritisch“ gegenüberstand ist in dem Zusammenhang also auch voll egal, er hat für (Nazi-) Deutschland gekämpft.
    An der Stelle auch ganz interessant: Wurden die Straßen noch vor ’45 oder nachher erst benannt?

    Dass das Wohnen in einer solchen Straße niemanden zum Nazi macht – geschenkt, hat glaube ich auch niemand behauptet. Ebenso hat glaube ich auch niemand behauptet, dass die Umbenennung irgendwen zum besseren Menschen macht. Sie kämpfen hier gegen Strohmänner.

    Wie Sie anscheinend auch selbst schon bemerkt haben ist es eigenartig, dass es einerseits Geschwister-Scholl-Straßen, andererseits Erich-Rommel-Straßen gibt.
    Da scheint es eine Diskrepanz in Sachen Erinnerungskultur zu geben, einfach nur als Feststellung. Vielleicht ist das ja sogar eher ein Problem der Verwaltungsstrukturen zwischen Bund / Land und Gemeinden bzw. dortigen Einzelinteressen.

    Ich frage mich auch, wie weit das gehen kann / sollte. In Anlehnung an Kommentar #10 ist ja die Erinnerung an Adenauer auch nicht ausschließlich positiv. Als „Vater der Bundesrepublik“ gibt’s aber in jeder größeren Stadt eine K-A-Straße. Müssen die nu auch weg?
    Kaiser-Wilhelm-Straßen und Denkmäler? War kürzlich noch da in Porta Westfalica, bin nicht zum Monarchieverfechter geworden.
    Echt nicht einfach, das Ganze.

  19. „Warum existieren sie dann, wenn sie nicht an die Errungenschaften der Person (im 2. WK) erinnern sollen? Ernst gemeinte Frage.“ Soweit ich das nachvollziehen kann, ist das ein Kompromiss – einerseits war er ein wichtiger General im 2.WK, andererseits war er am Ende anscheinend im Widerstand gegen Hitler. Oder jedenfalls dachte das Goebbels, und wenn deeer das sagt, jedenfalls hat man ihn zum Selbstmord gezwungen. (Was jetzt auch nichts beweist, Nazis sind generell schlechte Menschen und bringen sich auch mal gegenseitig um.)
    Zumindest die Kasernen sind nach dem Krieg nach ihm benannt. Meine Vermutung wäre, dass man hier an die Idee anknüpfen will, auch Militärs könnten oder sollten sich gegen ihren Diktator stellen.

    „Ebenso hat glaube ich auch niemand behauptet, dass die Umbenennung irgendwen zum besseren Menschen macht. Sie kämpfen hier gegen Strohmänner.“ Was genau soll damit erreicht werden? Die Entnazifizierung sollte dafür sorgen, dass bspw. Kinderheime von besseren Menschen als Nazis geführt werden. Hat leider nicht geklappt. Die späteren politischen und historischen Auseinandersetzungen mit der Nazizeit sollten zumindest dafür sorgen, dass die Nazidenke nicht wieder stärker wird, mit leider auch nur durchwachsenen Erfolgen. Aber bei beiden ist das erklärte Ziel eine bessere Gesellschaft mit besseren Menschen. Was mich vermuten lässt, dass die Umbenennung noch weniger nutzen, weshalb ich frage, was damit erreicht werden soll.

    „Wie Sie anscheinend auch selbst schon bemerkt haben ist es eigenartig, …“ so eigenartig ist das auch nicht. Der gemeinsame Nenner ist der Tod durch die Nazis. Ja, das waren noch viel mehr.

    „Kaiser-Wilhelm-Straßen und Denkmäler?“ Bei mir um die Ecke gibt es einen Kaiser-Friedrich-Turm, einen Bismarck-Turm und einen Eugen-Richter-Turm. Wenn ich da lang gehe, wird mein Drang, meine Waffen zu wählen und mich dem Kulturkampf anzuschließen, übermächtig. Doofer Schulausflug.
    Jedenfalls ist es offenbar möglich, mehr als eine politische Strömung, historische Epoche oder sonstige Sache zu verewigen.

  20. Samira El Ouassil hat in ihrer Kolumne aufgezeigt, dass „Cancel Culture“ ein Nicht-Begriff ist, ein hohler Terminus, der gern hervorgeholt wird, um Debatten zu delegitimieren, beispielsweise bei Themen wie rassistischer Sprache, Inklusion und Gender. Der Protestschrei, dass Meinungsfreiheit nicht mehr existiere und alles „gecancelled“ werde, ist in konservativen Kreisen en vogue, denn es lassen sich damit hervorragend Strohmann-Debatten führen.

    Warum musste in einen so guten und stringenten Artikel dann noch dieser unredliche Absatz hinein?
    Ob Frau Ouassil in ihrer Kolumne gezeigt hat, dass Cancel Culture „ein hohler Terminus“ ist, ist ja nun wirklich kein Konsens. Viele real existierende Menschen, ob sie nun mit einem sarkastischen Tweet in den Flieger ein- und ohne Arbeitsplatz wieder ausstiegen oder als hochverdiente Entwickler das Bullshit-Bingo in der Open-Source-Szene nicht weiter schweigend ertragen wollten, zeigen klar das Gegenteil. Das sind mitnichten Menschen, die aus konservativen Kreisen verteidigt werden und das war auch nicht bei allen so, die vor der Erfindung der Begrifflichkeit aus weltanschaulichen Gründen ökonomisch kaltgestellt wurden. Jeglichen „Protestschrei“ in diese Ecke zu schieben und mit „Strohmann-Debatten“ in Verbindung zu bringen, ist in diesem Artikel perfide – und so unnötig, da der nächste Absatz ja alles astrein ohne diese Volte klärt.

    Cancel Culture ist selbst das Debatten delegitimierende Element, ganz unabhängig davon, wie viele Spinner sich zu Unrecht darauf berufen.

  21. Krauel will sagen: „Wenn ich nicht später herausgefunden hätte, dass der ein Nazi war (oder das da viele Nazis waren), hätte ich das alles zwar komisch gefunden, aber mir nichts dabei gedacht. Das war eben damals so. Ich habe ja auch nicht gewusst, dass die besten Schülerin damals in meiner Klasse eine Jüdin war.“

    Wenn alle also damit aufhören zu sagen einer ist/ war Nazi/Jude/… dann sind auch alle glücklich, weil es können alle weitermachen wie bisher. Vergebung ist wichtig, egal was vorher war. Und wenn eine Person nicht vergeben kann, dann möchte sie bitte das Problem beiseite schieben und nicht ständig wieder damit anfangen.

  22. „Krauel will sagen…“ Ich vermute, dass dass das heißen soll, dass das Nebeneinander von Tätern und Opfern dadurch ermöglicht wurde, dass alle die Klappe hielten.

    Da es aber offenbar Leute – Lehrer – gab, die sich – ungestraft – als Ex-SS-Männer ausgeben konnten, also nicht etwa ungestraft von den echten Ex-SS-Männern, sondern ungestraft von Schulleitung und Elternbeirat, ist es nicht offensichtlich, warum ein jüdisches Mädchen nicht sagt, dass es ein jüdische Mädchen ist? Und wenn es das dümmste Mädchen in der Klasse wäre, so dumm kann es ja nicht sein.

    Insofern ist das allgemeine „Klappe halten“ ja nicht so allgemein gewesen. Also, wenn die außerjuristische Zivilgesellschaft das Thema schon verarbeiten will, indem sie möglichst nicht darin rumwühlt und Gras darüber wachsen lässt, dann sollten die Möchtegern-SS-Leute die Klappe halten und die Juden wenigstens sagen können, dass sie Juden sind.

  23. Ich bin ja einiges von der Welt gewohnt, aber hier lief es mir wirklich kalt den Rücken runter. Unglaublich

  24. Schlechter Artikel in der „Welt“ und noch schlechtere fass-den-Nazi Replik. Beide Autoren fallen der nicht-Klärung des Begriffs „cancel culture“ zum Opfer.

    #24: „Krauel will sagen: […] Das war eben damals so. Ich habe ja auch nicht gewusst, dass die besten Schülerin damals in meiner Klasse eine Jüdin war.“

    Nein. Die Anekdoten sollen nichts verharmlosen, sondern im Gegenteil zeigen, daß viele bekannte Altnazis in der Nachkriegsgesellschaft unbehelligt existieren konnten und es sowohl ein angstbedingtes Schweigeklima gab (Schülerin gibt sich nicht als Jüdin zu erkennen), wie auch eine anhaltende Heldenverehrung (hochstapelnder „SS“-Lehrer).

    Krauels Text ist schlecht strukturiert und sein Argument gegen die cancel culture unklar und unschlüssig. Der rote Faden, der die diversen Nachkriegsaltnazianekdoten zusammenbringt und den Bezug zur CC liefern soll, taucht erst in den letzten beiden Absätzen überhaupt auf und auch dort nur indirekt. Dabei wird von einem Verständnis von CC ausgegangen, welches durch „die Vertreibung der lebenden Vergangenheit aus dem Gesichtsfeld“ charakterisiert wird. „Vertreibung aus dem Gesichtsfeld“ ist sicherlich ein Anliegen der „Canceller“, aber es ist im konkreten Fall natürlich stets zu fragen, was genau vertrieben werden soll, mit welchen Mitteln und warum.

    Aus demselben Grund ist die Klage Brockschmidts…

    „Ernsthaft zu behaupten, eine Strafverfolgung der NS-Täter, eine Entfernung von Personen mit nationalsozialistischem Gedankengut aus sozialen und gesellschaftlichen Machtpositionen wäre „Cancel Culture“ gewesen, ist nichts als perfide.“

    genauso unehrlich wie die Beschwerden aus dem konservativen Lager, es werde jetzt _alles_ gecancelt, was Linken nicht passt. Denn es hängt alles davon ab, _wie_ diese „Entfernung“ vonstatten gegangen wäre. Mit den Mitteln eines von Rache getriebenen Mobs hätte man sich vom System der noch jungen BRD distanziert, damit hat Krauel recht, sofern er dieses Vorgehen als „CC“ identifiziert (was nicht klar ist, s.u.). Es kommt (trivialerweise) für den Bezug zur CC alles darauf an, was man unter „CC“ versteht.

    Diese Frage hält Brockschmidt für geklärt, CC sei ein „nicht-Begriff“. Als Beweis dient der Artikel von Ouassil, der allerdings nichts beweist. Aber selbst wenn er dies täte: Wenn CC ein „nicht-Begriff“ ist, kann er auch nichts „Perfides“ hervorbringen. Will man per CC „Perfides“ bei Krauel entdecken, muß man zumindest klären, was der angeklagte Autor unter CC versteht. Daß man selbst „CC“ für ein „nichts“ hält, hilft argumentativ nicht weiter.

    Brockschmidt begeht dann, um all dies nicht einräumen zu müssen, einen Fehler in der Textinterpretation, der insbesondere für eine Germanistin derart grob peinlich ist, daß man entweder von ideologisch getriebener Absicht oder von Verblendung ausgehen muß:

    ‚Stattdessen argumentiert er, dass es zwar „unerträglich“, aber letztendlich „richtig“ gewesen sei, Nazis in unterschiedlichen Funktionen, also auch als Leiter von Kinderheimen, in die Gesellschaft zu integrieren. Denn alles andere sei „Cancel Culture“ und inhärent undemokratisch.‘

    Krauels „richtig“ bezieht sich natürlich _nicht_ auf die (Re-)Integration von Nazis, sondern auf ihre nicht-Entfernung mit undemokratischen Mitteln. Das, und nur das, hält er für richtig. (Anderenfalls ergibt das gleichzeitige „unerträglich“ keinen Sinn.) Daraus, daß undemokratisches Entfernen _nicht_ richtig ist, folgt noch lange nicht, so wie Brockschmidt Krauel unterstellt, daß ein nicht-Entfernen unausweichlich und daher „richtig“ war. Erneut: Nur so bekommt das „unerträglich“ überhaupt einen Sinn. Wäre Krauel der Ansicht, daß _jede_ Form des Entfernens von Altnazis undemokratisch gewesen wäre, hätte er auch nicht „es gab zu wenig NS Prozesse“ schreiben können, denn genau die konstituieren im Idealfall ja eine Entnazifizierung ohne das Rache-Element.

    Also ein Logikfehler Brockschmidts der dicksten Sorte, insbesondere, da die moralische Implikation Nazi-Sympathisantentum auf Seiten Krauels ist. Der Text gibt eine solche Unterstellung nicht her. Hier wird in bewährt selbstzerstörerischer linksprogressiver Manier zur Nazijagd geblasen. Gefühl über Verstand.

    Der Aspekt der CC, den CC-Kritiker hauptsächlich und berechtigterweise beklagen, ist das Angreifen von Menschen, die eben keine Nazis oder Rassisten sind, sondern _als solche_ durch einen Mob öffentlich angeklagt werden, mit schwerwiegenden, aktiv vom Mob erzeugten Folgen für ihr Privat- und Arbeitsleben.

    Diese Kritik überträgt sich offensichtlich nicht auf die Nachkriegszeit in Deutschland. Krauel hat recht, wenn er sagt, daß auch damals ein „canceln“ (durch einen Mob im obigen Sinne) von Altnazis ein Racheakt gewesen wäre. Und Rache ist halt kein Rechtsmittel. Sein Bekenntnis zum Rechtsstaat zeigt man immer dann am stärksten, wenn es nicht nur anderen weh tut, sondern auch einem selbst.

    Wo es nun aber bei Krauel hakt, und was den „Welt“ Artikel nicht so sehr „falsch“ als _wertlos_ macht, ist der implizite Vergleich der nicht gecancelten Altnazis mit den vom CC Mob aktuell Geschädigten, die mit überwältigender Mehrheit _keine_ Nazis oder vergleichbar „schwere Fälle“ sind. Vielfach sind die cancel Opfer selbst im linken Spektrum angesiedelt oder einfach Privatpersonen, die sich durch nicht-ideologiegerechte Äußerungen den Zorn eines radikalisierten Pöbels zuziehen.

    Die Reaktion von Brockschmidt wiederum basiert größtenteils auf absurden Behauptungen, wie etwa, daß damit „ein verharmlosendes Narrativ vom freundlichen Kriegsverbrecher von nebenan salonfähig“ gemacht werde. Von „freundlichen Kriegsverbrechern“ steht in der „Welt“ nichts. Da wurde von Brockschmidt mit Gewalt zwischen den Zeilen etwas hineingelesen, worüber man sich dann schön lang und breit empören kann, um der Welt(!) seinen edlen Geist zu präsentieren. Und daß hier die Gefahr bestünde, „Kriegsverbrecher salonfähig“ zu machen, ist so absurd wie das immer wiederkehrende Gerede vom Terroranschlag, der ein „Angriff auf den Rechtsstaat (oder die Demokratie)“ sei. Soviele Patronen hat kein Terrorist und ebenso hat Krauel nicht ausreichend Tinte im Füller um das Ansehen von Kriegsverbrechern wiederherzustellen.

    Der Vorschlag Brockschmidts, doch lieber ausführliche Portraits der benannten Nazigrößen niederzuschreiben, ist gleichermaßen so offensichtlich rein emotional motiviert, daß er nicht ernst genommen werden kann. Wenn Nazi-Gruseln das Ziel ist, um sich in banal-moralischer Selbstgerechtigkeit sonnen zu können, sollte man seinen eigenen Text verfassen, und nicht anderen erzählen, was man von ihnen lieber gelesen hätte.

  25. @Saturn: Linke in Ihrem Text: selbstzerstörerisch, Mob, emotional, nicht ernst zu nehmen, empören sich bloß, radikalisiert, ideologisch.
    Rechte in Ihrem Text: Diesen wird ungerechterweise von Linken vorgeworfen, Nazis zu sein.
    Dann enden Sie damit, dass die Autorin fordern würde, man solle Naziporträts schreiben, nachdem Sie sich darüber aufgeregt haben, die Autorin könne den Welt-Text nicht ordentlich interpretieren und würde da Dinge unterstellen. Hat eine gewisse Ironie…

  26. @28 Mr RE

    „Linke in Ihrem Text: selbstzerstörerisch, Mob, emotional, nicht ernst zu nehmen, empören sich bloß, radikalisiert, ideologisch.“

    Nö. Nicht „Linke“ generell sind ein Mob, emotional und selbstzerstörerisch, sondern ein Teil der Linken, nämlich die identitären „Progressiven“. Der „Mob“ ist dann wiederum eine (echte) Teilmenge dieser (vermischt und angereichert mit diversen seelisch instabilen Randexistenzen aus anderen Lagern). Letztlich sind die aber nicht wirklich „links“, auch wenn sie sich so nennen.

    „Rechte in Ihrem Text: Diesen wird ungerechterweise von Linken vorgeworfen, Nazis zu sein.“

    Nö. Ich schrieb ausdrücklich, daß auch Leute aus dem linken Spektrum Opfer der cancel Mobs geworden sind. Weiter schrieb ich, daß das konservative Lager zu unrecht behauptet, alles unpassende würde von „links“ nun gecancelt.

    Hauptsächlich ging es mir nur um eine Person, nämlich den „Welt“ Autor, dem von Brockschmidt mit abenteuerlichster Lesart seines Artikels rechtsradikales Gedankengut unterstellt wird. Entsprechend ging es mir auf der Gegenseite hauptsächlich um Brockschmidt und ihren Text, nicht um „Linke“ im allgemeinen.

    Der „Welt“ Artikel ist verschroben und bemüht in völlig ineffektiver Weise die Entnazifizierung der Nachkriegszeit als Kritik an der CC. Was er sagen will, ist in zwei, viel zu kurzen, Absätzen am Ende enthalten, und dies auch nur in stark verklausulierter Art. (Ich musste das Ende drei mal lesen, um zu entschlüsseln, worauf Krauel eigentlich hinaus will.)

    Die ÜM Antwort zeigt dagegen, daß man selbst einen Text, der sich über seine ganze Länge hinweg ausdrücklich vom dritten Reich distanziert, noch als Nazisympathisantentum interpretieren kann, wenn man nur edlen Mutes genug ist. „Stunning and brave“, wie es im Englischen so schön heißt.

    Daß Sie sich durch meine Kritik beider Texte in Ihrer „linken“ Kuschelblase angegriffen fühlen (safe space wurde verletzt), ist für mich zwar verständlich, aber völlig irrational und rein gefühlsgesteuert. Sie haben sich offensichtlich nicht die Mühe gemacht, die Details meines Beitrags nachzuvollziehen.

    Der „Welt“ Artikel ist überflüssig, die ÜM Antwort ist überflüssig und perfide. Vor allem aber intellektuell nicht nur unzureichend, sondern minderwertig. Ein echter Tiefpunkt, ähnlich wie der „alles voll mit Nazis“ Artikel derselben Autorin in der „Zeit“, den sie über die Corona Demos in Berlin geschrieben hat.

    „Dann enden Sie damit, dass die Autorin fordern würde, man solle Naziporträts schreiben“

    Wieso „würde“? Sie tut das ganz klar und offensichtlich. Ein Konjunktiv diesbezüglich ist unangemessen.

    „nachdem Sie sich darüber aufgeregt haben, die Autorin könne den Welt-Text nicht ordentlich interpretieren und würde da Dinge unterstellen. Hat eine gewisse Ironie…“

    Nein, hat es nicht. Interpretationsfähigkeit hat nichts mit Themenwahl zu tun. Es ist keine gültige Kritik an einem Text mit Inhalt X, zu sagen, daß die Beschäftigung mit Inhalt Y eine bessere Nutzung der Zeit des Autoren von X dargestellt hätte. Mit diesem „Argument“ kann man alles und jeden angreifen. Es wird schnell zum Versuch, die Freiheit der Themenwahl anderer Autoren einzuschränken. Linksprogressive tendieren, insbesondere in den letzten 5 Jahren, leider immer mehr zu totalitären Ansichten im Namen des Guten. Noch so ein „safe space“ Problem. Hier tritt so deutlich wie nirgends das selbstzerstörerische Element der durch alles und jeden Unterdrückten zu Tage. Von rechts kennt man das zur Genüge. Nun hat ein auch ein (kleiner, aber lauter) Teil der Linken das totalitäre Denken für sich wiederentdeckt.

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