Bahnhofskiosk

Der Sound der Stadt

Okay, die Marke „Zitty“ ist soeben erloschen. Nach immerhin 43 Jahren, was für ein Stadtmagazin durchaus ein stolzes Alter ist. In Partikeln wird die „Zitty“ weiter existieren, in Kolumnen mit Meinung und widerständigen Cartoons – allerdings im Weichbild von „Tip“, dem einstigen Wettbewerber, der seit Jahren bereits im selben Verlag erschien, auch redaktionell verzahnt, und in dem die „Zitty“ nun aufgeht.

Über die wechselvolle und wie eine Doppelhelix miteinander verschlungene Geschichte der beiden Magazine ist schon allerhand geschrieben worden. Hier geht es um die Gegenwart, die aktuelle Ausgabe, den, so der offizielle Titel, „tip Berlin“, und zwar noch ein vorletztes Mal „gemeinsam mit ZITTY“.

Thema auf dem Cover ist ein publizistischer Klassiker des „Tip“, vergleichbar mit den Halloween-Episoden der „Simpsons“: „Die peinlichsten Berliner“, diesmal als „Corona-Spezial“. Es ist ein Cover von geradezu absurder Scheußlichkeit. Vor einer violetten Aufnahme der Stadt schwebt das Virus, dem verzerrte Porträts einige dieser „peinlichsten Berliner“ angeheftet sind.

Corona hat bekanntlich auch „Tip“ gebeutelt. Gemeinsam mit „Zitty“ stemmt die Redaktion allerdings ein monatliches Heft, den besonderen Umständen abgerungen. Da ist auch Routine im Spiel. Der „Tip“ ist aufgeräumter, als die Stadt es ist: „Stadtleben“, „Kultur“ und „Programm“. Das Programm ist derzeit eingeschränkt, das Stadtleben auch – man merkt es ihm nicht an.

Oder eben doch, wie ganzseitige Fotos von leeren Bushaltestellen, leeren Treppenhäusern und einem demnächst dann wirklich stillgelegten Flughafen Tegel (mit, charmant, dem Schatten des Fotografen im Bild) zeigen. Hinzu kommen kleine Szenen, der Bettler vor dem Aldi, das aufgeschnappte Zitat in der U-Bahn: „Die U8 ist auch ohne Corona eklig“.

Unter „Der Test“ wird rührige Mikropolitik aus dem Kiez gewürdigt, das Gießen durstiger Stadtbäume. Der „Tip“ findet das „lehrreich!“ und vergibt Punkte nach den willkürlichen, aber auch sehr berlinerischen Faktoren „Spaß“, „Gemeinschaft“ und „Nutzen“. Es folgt ein „Pro und Contra“ zu den Abstandsregeln im Freibad sowie, auch das gibt es noch, ein bezaubernd verrätselter Oralsexcartoon von Hannes Richert („Comics für den gehobenen Pöbel“).

Dieser ganz spezielle Stadtgeruch

Und das ist es schon, mehr braucht es nicht, dieser ganz spezielle Stadtgeruch, der andernorts einfach nicht so recht aufkommen mag. Weshalb der „Tip“ in besseren Zeiten eben auch an Bahnhofskiosken von Mann- oder Hildesheim zu kaufen war, als gedruckter Botschafter der Hauptstadt und ihres Nimbus. Ein ideeller Reiseführer, der nicht zu Sehenswürdigkeiten, sondern mitten hinein in ein Lebensgefühl führt.

Dieses Gefühl mag man schon immer verabscheut oder sich irgendwann abgewöhnt haben, der „Tip“ reproduziert es dennoch Ausgabe für Ausgabe. Gerade so, als ob es die Gentrifizierung, die neben der Stadt auch ihre Zeitung in Mitleidenschaft gezogen hat, nie gegeben hätte.

Seitenweise Haltung bietet die Strecke mit den „peinlichsten Berlinern“, von Attila Hildmann über Frank Castorf bis Jakob Augstein. Allesamt Leute, die dem aufgeklärten Menschen unangenehm aufgefallen sind. Mal chronisch, mal akut. Das liest sich alles ein wenig wohlfeil und verspätet, die Hoch-Zeit der „Hygiene-Demos“ ist vermutlich vorbei. Für die längeren Lesestücke gilt das nicht.

Bert Rebhandel schafft es, dem Nervensägenthema (Corona, was denn sonst?) noch einen zwar nicht erhellenden, aber doch informierten Essay abzuringen – teilweise zu informiert, wie sein arg spezialistischer Seitenhieb auf einen „deutschen Schriftsteller, der in Peking und Berlin lebt, und der“ – vor allem auf Facebook – „den vergleichsweise liberalen deutschen Ansatz als fahrlässig geißelte“, bis sich zeigte, „dass dieser Mann eben ein großer Fan der chinesischen Parteidiktatur ist“ und „ein Faible für drakonische Maßnahmen hat“.

Wenigstens den Namen des finstermaoistischen Erzschurken (Christian Y. Schmidt) hätte Rebhandl nennen können.

Ina Hildebrandt räsoniert über Corona als Chance für gebeutelte Freiberufler, also die angeblich berlintypische Bohème: „Ob eine Spezialisierung oder berufliche Neuorientierung – jetzt ist ein guter Moment dafür“. Jetzt also, wenn man ohnehin auf Kurzarbeit ist oder die Aufträge ganz wegbleiben. Die Busfahrerin bei der BVG wird sich kaum angesprochen fühlen. Lesen die „Tip“?

Wir sind ja schließlich in Ballin, wa?

Clemens Niedenthal führt ein instruktives Interview mit einer Architektin, ebenfalls über Corona als Chance, diesmal für die Stadtplanung. Die übliche Großstadtbesoffenheit darin mag etwas dick aufgetragen sein. Aber wir sind ja schließlich in Ballin, wa? Da kann ein wenig Utopie nicht schaden.

In solchen Texten ist „Tip“ auf seiner idealen Reiseflughöhe – Magazinjournalismus, wie er auch im „Stern“ oder in „Architectural Digest“ stehen könnte. Seitenweise wird an die Verhüllung des Reichstags durch Jeanne-Claude und Christo vor 25 Jahren erinnert, hach, wat war dat schön, und außerdem haben wir davon, wie jeder Berlinbesucher in jener Zeit, noch viele Bilder im Archiv.

Auf diesen „blast from the past“ folgt harte Politik zeitgemäßer Prägung, das Los von „Kindern of Color“ (vermutlich: KoC), die, wenn überhaupt, in Kinderbüchern nur Nebenrollen spielen und also dort keine Identifikationsfiguren finden, folglich erste „Unterdrückungserfahrungen“ machen. Dazu gibt’s – wir sind in Berlin hier, hier ist die Zukunft – hilfreiche Hinweise auf intersektionale Bücherlisten und spezialisierte Buchhandlungen.

Zur besseren Welt, die der „Tip“ hier präfiguriert, gehört auch das Herumschippern auf dem Schlauchboot im Landwehrkanal – hübsch bebildert mit stimmungsvollen Fotos, die die Stadt als genau den elysischen Möglichkeitsraum zeigen, der sie gerne sein würde. Leider ist, Fluch des langen Vorlaufs, diese Geschichte vom berüchtigten Rave auf besagtem Kanal überholt worden.

Ungefähr auf halber Treppe dann macht der „Tip“ schlapp – zumindest aus Sicht des tendenziell barbarischen Nichtberliners, dem sogar in seiner eigenen Provinz herzlich wumpe ist, welches Café wieder geöffnet hat, wie der Betreiber seinen Betrieb zu meistern beabsichtigt und wo Bibimbap am besten schmeckt. Oder was Bibimbap überhaupt ist. Für Menschen in Berlin wird es genau hier vermutlich interessant, jetzt wird’s wirklich lokal, gastro- und servicelastig. Das ist halt die Kundschaft, da liegt er aus, der „Tip“.

Feuilleton vom Dickschiff bis zum Fischerboot

Ein kleines Wunder (und das war weiter oben recht eigentlich mit „stemmen“ gemeint) ist nach wie vor und hoffentlich bis in alle Ewigkeit das, was man Feuilleton nennen könnte. Wenn man sieht, was der „Stern“ so als „Kultur“ verkauft, gleiten wir auf diesen Seiten in einen geschützten Hafen, in dem vom Dickschiff (Hollywood, Netflix) bis zum Fischerboot (Off-Theater, Lesungen) alles ankert, wofür die Idealberlinerin sich interessieren könnte.

Experten schreiben über Musik (Thomas Winkler über die Einstürzenden Neubauten, wahrlich „Berlins bedeutendste Band“), Eric Heier über Poesie, Claudia Wahjudi über Kunst, Lutz Göllner über Film. Theater? Theater auch. Hier gibt es vom Besinnungsaufsatz bis zur Plattenkritik seitenweise einfach alles, was der Kulturfreund sich wünscht. Und das Fernsehprogramm für diejenigen, die lieber zu Hause vor der Glotze sitzen bleiben.

Wenn es so etwas gibt wie einen Sound der Stadt, der über ihren Jingle („Berlin, du bist so wunderbarrr“) hinausgeht, dann kann man ihn diesen Seiten ablauschen – und natürlich dem Block mit den Kleinanzeigen, nicht zu unterschätzen. Was sich da in einer einzigen Ausgabe allein an Zwischenmenschlichem abzeichnet, liefert Plots für regalweise Berlinromane – von „Suche reife Geliebte, die leidenschaftlich genießt und akzeptiert, dass ich (Akad., 46/188)“ bis „Lebende Damentoilette, René, schluckbereit für ALLE ihre Ausscheidungen (Natursekt, Kaviar …), auf Wunsch mit anschl. Sauberlecken“.

Mag sein, dass der „Tip“ mit den Jahren stromlinienförmiger geworden ist. Was er auch auf Notstrom abliefert, ist beachtlich und lässt für die Zukunft hoffen. Auch weil hier auch Raum für junge Stimmen und Quereinsteiger ist – bisher. Die Räume werden eben eng und enger. Nicht nur im Magazin für alles Urbane, auch im Urbanen selbst. Zum Wohnen finden sich in den Kleinanzeigen genau drei Angebote für WG-Zimmer und ein Haus. In Zehdenick, 70 Kilometer vom Zentrum. Erzählt auch eine Geschichte.

Nachtrag, 1.7.2020. Wir hatten zunächst behauptet, das Magazin „Zitty“ sei das „Älteste seiner Art“. Wir haben das gestrichen, denn: „Zitty“ wurde 1977 gegründet – zuvor gab es schon „tip“ (1972) und „Szene Hamburg“ (1973). Vielen Dank für den Hinweis in den Kommentaren!

Offenlegung: Arno Frank hat vor langer Zeit einmal Plattenkritiken für den „Tip“ geschrieben.

3 Kommentare

  1. Da ich euch vorzugsweise beim Essen lese, hättet ihr mir den René ersparen können! ;-)

    Ansonsten mal wieder wunderbar, danke.

  2. @2 Michael Hess: Vielen Dank für den Hinweis, stimmt! Wir haben es im Text korrigiert und nachgetragen.

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