Bahnhofskiosk

Seltsam mittig

Zufällig weiß ich noch genau, wo ich war, als ich meinen ersten „Focus“ sah. Am 18. Januar 1993 hockte ich im zweiten Stock eines Rohbaus in Marburg auf einem umgedrehten Farbeimer in der Frühstückspause. Meine Kollegen pflegten, mich, den Studenten, unter herzlichem Gelächter zu hänseln: „Was schtudiersch’n du? Pornografie?“

Tatsächlich studierte ich Politikwissenschaften, hatte aber jeglichen Impuls zur Agitation der geknechteten Massen bereits aufgegeben. In den Seminaren ging es um Adorno und Bakunin, Brecht und seinen „lesenden Arbeiter“. Meine Kommilitonen an der Uni – nur die Buben, die Mädchen diskutieren damals schon getrennt, ein Vorläufer der „safe spaces“ – wussten alle ganz genau, was „der Arbeiter“ lesen sollte und was nicht.

Nicht nutzen sollte er Medien, die zwar seine Sprache sprächen, seinen proletarischen Interessen aber zuwiderliefen. Lesen sollte er Zeitungen, die ihn, den Arbeiter, aus seinen Verblendungszusammenhängen lösen und sanft zur Weltrevolution schubsen sollten. Ich weiß noch, wie mich die gigantische Kluft zwischen dem akademischen Anspruch und der Wirklichkeit frappierte. Denn was meine Kollegen auf dem Bau allmorgendlich entfalteten, das war die „Bild“. Sie waren auch nicht ganz blöde, die Maurer und Verputzer. Sie lasen die „Bild“, würdigten mit anerkennenden Pfiffen das „Seite-1-Mädchen“ und beömmelten sich ansonsten über „den Scheiß, der da immer drinne steht, alles gelogen“.

Ein Nachrichtenmagazin für ihn, den Arbeiter

Und dann, an einem kühlen 18. Januar 1993, packte der Günther plötzlich statt der „Bild“ den „Focus“ aus. Der Günther war ein Guter. Der „Spiegel“ war ihm zu schnöselig, die Texte waren ihm einfach zu lang. Aber Günther hatte von einer Alternative gehört und sich die erste Ausgabe gekauft. Er wollte, dass es ein Nachrichtenmagazin gibt für ihn, den lesenden Arbeiter.

Das war natürlich ein rührender Irrtum. Der Günther hat das Heft nie wieder gekauft und hatte am nächsten Morgen wieder die „Bild“ dabei. Inzwischen ist er gestorben, Lungenkrebs. Etabliert hat sich der „Focus“ trotzdem, was für die Medienlandschaft spricht. Es war halt Platz für einen in Stil, Inhalt und Ausrichtung komplett anderen Ansatz, damals wie heute.

Es ist also eher dem Zufall geschuldet, dass den „Focus“ vom 1. Februar 2020 dasselbe Foto ziert wie den aktuellen „Spiegel“. Ein Mensch in ambulanter und angemessen alarmierender, weil knallroter Virenschutzkleidung – mit Blick aufs Smartphone. Für ein paar Tage werden „Focus“ und „Spiegel“ also, ausnahmsweise, zum Verwechseln ähnlich am Kiosk liegen.

Was „Focus“-Gründer Helmut Markwort (der aus der alten „Fakten, Fakten, Fakten“-Fernsehwerbung) besonders freuen dürfte. Markwort, der heute für die FDP im bayerischen Landtag sitzt, ist auch immer noch beim „Focus“. Als eine Art Benedikt XVI. kolumniert er auf der letzten Seite Meinungen (Mario Draghi hat keinen Orden verdient, ach was!) und Kommunalpolitisches aus München (neue Straßennamen, sieh an!) ins Heft hinein.

Im Editorial widmet sich Chefredakteur Robert Schneider ebenfalls, klar, dem Coronavirus, ist ja auch die Titelgeschichte. Schneider schreibt, er habe sich „am Dienstagabend“ den Film „Outbreak“ (1995) angeschaut, und nun weiß er von einer gaaanz tollen Besetzung zu berichten: „Rene Russo, Morgan Freeman, Dustin Hoffman, Donald Sutherland, Kevin Spacey, Cuba Gooding Jr, Patrick Dempsey“, das schriebt der Robert Schneider alles so hin – man könnte es Zeilenschinderei nennen und anregen, das Editorial ein wenig zu kürzen. Die eigentliche Botschaft aber: „Happy End!“

„Sohn, 12“ und „Tochter, 11“ in Sorge

Gleichwohl, auch das berichtet Schneider, herrscht auch in seiner Familie eine gewisse Panik. Sein „Sohn, 12“, stärke sein Immunsystem präventiv mit Liegestützen, während „die Tochter, 11“, sich mit kindlichem Grusel an Menschheitsuntergangsszenarien erfreue. Und die Gattin ist über Bilder einer angeblichen „Fledermaussuppe“ besorgt, die angeblich Chinesinnen schlürfen, was sie auf Instagram entdeckt hat.

Schneider stolz: „Die FOCUS-Kollegen sind da unaufgeregter“, und tatsächlich kann er seiner Familie die aktuelle Titelgeschichte auf den Frühstückstisch legen. Im Langtext werden „Fakten!“, „Furcht!“ und „Fake?“ von einem sechsköpfigen Team in eine lesbare Balance gebracht und eingeordnet – von der chinesischen Innenpolitik bis zur Geschichte der Virologie.

Es folgt ein vierseitiger Service-Teil mit medizinischen Fragen, die speziell Schneiders „Sohn, 12“, interessieren dürften. Weniger Futter bekommt die apokalyptische „Tochter, 11“. Es herrsche die „aufmerksame Gelassenheit“, mit der abschließend ein Arzt zitiert wird.

Davon kann auch Redakteur Jörg Harlan berichten, der eine achtseitige – tja, was? – mit Jens Spahn zu verantworten hat. Es ist ein Interview mit dem Gesundheitsminister, das schon, und Teil der Titelgeschichte. Es ist aber auch ein People-Dingens darüber, wie toll dieser Spahn ist, aufgeschrieben von A bis Z („W wie Wirtschaft“, und wie lautet das Spahn’sche Wirtschaftsprogramm wohl in einem Satz, na? Genau: „Leistung muss sich lohnen“). Dazu kommt das genaue Hingucken, etwa auf die Bücher in der ministerialen Kommode. Und was steht da Menschliches in der Mitte? „Der kleine Prinz“.

Gewiss, ein knallhartes „Erzählen Sie mir keinen Scheiß, ich komme Ihnen doch auf die Schliche“-Interview über die Probleme des deutschen Gesundheitssystems mit dem umtriebigen Minister wäre ebenfalls erhellend gewesen. Aber nicht so unterhaltsam.

Überhaupt, diese Zeigerei immer, auch in der Titelgeschichte. So sieht der Firmensitz des infizierten Autozulieferers in Bayern von außen aus, so diese Klinik da (oder dort), so das Virus unter dem Elektronenmikroskop. Diese sinnliche Zeigefreude erinnert an, klar, den „Stern“, und so funktioniert der „Focus“ auch: Er ist eher „Newsweek“ als „Spiegel“, wie auch „Newsweek“ eher „Stern“ und kein „The New Yorker“ ist. Der wird auch in New York nicht auf der Baustelle gelesen.

Für die Frühstückspause in einem nordhessischen Rohbau aber taugt durchaus eine doppelseitige „Grafik der Woche“ darüber, wie dieses American Football überhaupt funktioniert, wer an der Super Bowl verdient und wer in der Pause (mit Jennifer Lopez und Shakira „diesmal ausgerechnet zwei Latinas“) auftritt. Eine Orgie kleinteiliger Einklinkerei, so unterhaltsam wie informativ.

Wo sind die windigen „Focus“-Charts? Ah, da!

Offenbar ausgelagert (vermutlich in „Focus Money“) sind dieses Mal die windigen Charts, mit denen man die Marke „Focus“ noch immer verbindet. Keine „500 besten Anwälte der Republik“, keine „1500 besten Zahnärzte Europas“ und keine „Besten 15000 Bestenlisten der Welt“. Ah, hier dann doch, eine „Verlagssonderveröffentlichung“ mit Testsiegern aus 150 Branchen.

Ermittelt wurde die beste Beratungsqualität. Nach Punkten. Bausparkassen beispielsweise: Schwäbisch Hall hat 100, Wüstenrot nur 99 Punkte. Da wäre man gerne beim Ermitteln dabei gewesen. (Was angeblich durch künstliche Intelligenz erledigt wird, durch „sogenannte neuronale Netze“, die „Texte (…) aus dem Internet“ auswerten und gewichten.)

Zurück zum richtigen Heft, wo uns Gwyneth Paltrow und ihr Eso-Gaga-Imperium namens Goop erwartet. Der Text nimmt sowohl die Figur Paltrow als auch ihr Geschäftsgeheimnis fein auseinander, das „unergründliche Unbehagen im Alltag“ einer Frau mit Salben und Massagen ein wenig zu lindern. Gar so „unergründlich“ ist das Unbehagen nicht, es gäbe dafür schon systemische Ursachen, die hier aber nicht erörtert werden.

Ein Hauch von „Bunte“, schließlich sind wir hier beim Burda-Verlag, weht vor allem durch „Mein Salon“, wo Vermischtes versammelt ist. Hier hat die Redakteurin nur wenige Sätze, um auf eine Ausstellung in der Schirn oder die kommende Biennale hinzuweisen. Dafür gibt es schöne Bilder von der „Abschiedssause“ des Düsseldorfer Galeristen Hans Mayer, ein „Schaulaufen der Kunstszene“.

Auch in den Kulturteil hätte die Hommage von immerhin Wim Wenders an Peter Lindbergh gepasst, sie erscheint aber im Rätselressort „Agenda“. Schönste Trouvaille aus dem reichlich schwarzweißbebilderten Text ist Wenders‘ onomatopoetische Beschreibung der Arbeitsweise des Fotografen, denn sie sei „manchmal unglaublich schnell, klick-klick-klick-klick-klick-klick-klick, und manchmal zögerlicher, klick —— klick …“.

Die Freude an der kurzweiligen Kleinteiligkeit treibt allerdings bisweilen rätselhafte Blüten. Sinnvoll ist das bei einer Seite über „Das Wichtigste aus den sozialen Netzen“, etwas hilflos mit „Der politische Datenstrudel“ überschrieben. Service für Leute, die das Neuland nicht mehr betreten möchten – und denen dann unterzujubeln ist, ein Philipp Amthor (CDU) oder eine Katja Suding (FDP) seien irgendwie „trending bei Instagram“.

Deutlich links von „Cicero“

„Trending“ beim „Focus“ ist immerhin Franziska Giffey, wie ein ebenso faires wie „schockverliebtes“ Porträt der SPD-Politikerin zeigt. Überhaupt wirkt der – nach wie vor eher neoliberale – „Focus“ in einer nach rechts verschobenen Medienlandschaft seltsam mittig, in seiner ideologischen Ausgewogenheit (oder seinem ideologischen Desinteresse) deutlich links von „Cicero“. Die Sportartikelbranche wird „grün“, das ist auch eine feine Sache, ebenso ein neues Stromfahrzeug.

Über die Gewaltbereitschaft der linke Szene in Leipzig-Connewitz, hier mit einer Reportage gewürdigt, reibt man sich inzwischen auch bei der szeneaffinen „taz“ die blauen Augen. Im „Focus“ werden die Augen nur gerollt, man hat die „Problemkinder“ nie anders eingeschätzt und lobt die kluge Polizei.

Ein echter Gewinn für den „Focus“ ist „Der schwarze Kanal“ von Jan Fleischhauer, der zuvor jahrelang beim „Spiegel“ tapfer gegen einen linken Zeitgeist ankolumnierte. Ob es für Fleischhauer auch ein publizistischer Gewinn ist, muss trotz üppig illustrierter Doppelseite bezweifelt werden. Denn beim „Focus“ ist Fleischhauer, wie der große Steffen Grimberg in der „taz“ feststellte, „kein Stachel mehr, sondern nur noch Windmacher für die kleinbürgerliche Filterblase“, ein weiterer Rufer in der Echokammer.

Auf der Baustelle wird das allerdings kaum ankommen, dafür ist sein Text eindeutig zu lang. Außerdem starren auch dort in der Frühstückspause die Leute sowieso nur noch auf ihre Smartphones.

6 Kommentare

  1. Es heißt „dem“ Super Bowl, nicht „der“ Super Bowl, und Marburg liegt nicht in Nordhessen. Ansonsten amüsanter, kurzweiliger Text zu einem Magazin in das ich in meiner Filterblase tatsächlich noch nie einen Blick geworfen habe.

  2. Von welchem Land schreibt der Mann?

    Von dem Land, in dem sich die Machthaber gegen die Machtlosen wehren.

  3. Ist der Spiegel deshalb schleichend immer schlechter geworden, weil die schlechtere Messlatte „Focus“ auch immer seichter wird? Früher(TM) war der Spiegel quasi ein Muss bspw. für anstehende Nachtdienste oder lange Reisen mit der Bahn. Scheiß auf Fakten, Fakten, Fakten bis der Markwort kommt – Spiegel-Leser wissen (wirklich) mehr! Aber heute? Nach all den vielen Fettnäpfchen, Gefälligkeitsartikeln, Monetarisierungsprojekten, Personalquerelen, Mauscheleien, unzählbar vielen langen seichten inhaltsleeren aneinandergereihten redundanten ausgedehnten wenn nicht gar völlig ausufernden und dramatischen bis überspitzten spannungsgeladenen Titelgeschichten/Schwerpunkten? Und der Clickbait-Sünde SpiegelOnline? Und natürlich alles überstrahlend ‚der Relotius‘?

    …überlege ich, doch eher mal wieder zum Hanf-Journal zu greifen. Focus geht nicht, schon allein wegen der Außenwirkung ;-), aber auch prinzipiell, und dann wird’s schon eng – Menschen/Autos/Sport sind nicht mein Interessensgebiet, Fachperiodika scheiden als Mediziner aus vielerlei Gründen aus, das Hanf-Journal wird mir doch langsam zum kleineren persönlichen Verfänglichkeitsmoment (bin typischer Bahnfahrer: hoffentlich guckt keiner komisch, denkt schlecht über mich oder spricht mich gar an; unter Kollegen ähnlich).

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