Volker Weidermann

„Die Freude am Streit ist mir nicht in die Wiege gelegt“

Volker Weidermann in seiner letzten Sendung Foto: ZDF/Svea Pietschmann

Es ist jetzt Dienstagnachmittag, in 24 Stunden wird das letzte „Literarische Quartett“ mit dir aufgezeichnet. Wie viel musst du bis dahin noch lesen?

Die Bücher sind natürlich längst durchgearbeitet.

Ach, echt?

Natürlich, ich will ja die Aufregung nicht bis zum Siedepunkt treiben. Jetzt gehe ich nur noch meine Aufzeichnungen durch und lege mir Dinge zurecht, die mir dann in der Sendung nicht einfallen.

Aber alle Bücher, die besprochen werden, hast du ohne Ausnahme komplett durchgelesen.

Ich lese Bücher natürlich durch, wenn ich über sie schreibe. Aber wenn ich über sie im Fernsehen spreche, lese ich sie superdurch. Nichts ist peinlicher, als wenn sich in der Diskussion herausstellt, dass man ausgerechnet die wichtigste Seite übersprungen hat. Das Risiko möchte ich nicht eingehen.

Man kann im Fernsehen weniger hudeln als bei einer geschriebenen Kritik?

So ist es. Ich hab mir allerdings einen Teil der Nachlass-Bibliothek von Marcel Reich-Ranicki angeschaut, und da auch die Bücher gesehen, die er im „Quartett“ hatte. Also, der hat es, so scheinen die Lesespuren zu sagen, lockerer angehen lassen. Der war aber auch so laut, der konnte Lücken locker überbrüllen.

Durchstrahlt von tausend Scheinwerfern

Nach knapp viereinhalb Jahren „Literarisches Quartett“: Was weißt du jetzt, was du gerne vorher gewusst hättest?

Was ich vorher wirklich nicht wusste: Wie schwer es ist, 45 Minuten spannend über Bücher zu reden – das ahnte ich nicht mal, obwohl ich vorher schon Riesenrespekt davor hatte. In der Sendung fühle ich mich oft wie in einem Röntgenraum, durchstrahlt von diesen tausend Scheinwerfern und sechs Kameras.

Hast du je mit Reich-Ranicki übers „Quartett“ geredet?

Nicht dass ich mich erinnern kann. Er hörte ja damit auf, kurz nachdem ich bei der FAS angefangen hatte und seine Kolumne betreute. Ich trage aber als Talisman in seiner Autobiographie immer noch die Einladung zu seinem letzten „Quartett“ im Schloss Bellevue mit mir herum.

Was ändert sich, wenn man sich ins Fernsehen setzt, um über Bücher zu reden? Wirst du auf der Straße angesprochen? Gehen Kollegen anders mit dir um?

Vor allem ändert sich mein Blick auf die Kollegen und die Leute, von denen ich ahnen muss, dass sie das sehen. Ich habe immer gedacht: Was denkt der jetzt? Das hat mir einen komisch misstrauischen Blick verschafft. Sonst ist es ja doch eher eine Semiprominenz, die man da erreicht, aber Literatursendungs-Zuschauer sind auch besonders dezent. Man sieht höchstens mal an Blicken im Zug, dass die einen erkennen, die sagen aber nichts. Es gab nur zwei Momente, in denen das anders war: Ganz am Anfang nach der ersten Sendung, da wurde ich ständig angesprochen. Und dann passierte es wieder an dem Tag, an dem bekannt wurde, dass ich aufhöre.

Ein magischer Zeigefinger

Du warst ja als Literaturredakteur bei der FAS und beim „Spiegel“ vermutlich schon wichtig für den Literaturbetrieb. Bekommt man nochmal eine andere Bedeutung, wenn man im Fernsehen sitzt?

Der Umgang mit mir ändert sich da nicht. Aber man spürt bei einigen Verlagen, was für eine ungeheuerliche Nachricht das immer noch zu sein scheint, wenn man sagt, ihr seid jetzt mit diesem Buch im „Quartett“. Für kleinere Verlage ist das nach wie vor ein Riesending. Der Wagenbach-Verlag zum Beispiel, als wir Francesca Melandri besprochen haben. Die Sendung hat zwar weniger Verkaufswirkung als einstmals. Trotzdem ist das immer noch ein unglaubliches Instrument. Wie mit einem magischen Zeigefinger kann man da eine unbekannte italienische Autorin von einem kleinen deutschen Verlag plötzlich total erfolgreich machen.

Christine Westermann Foto: ZDF/Svea Pietschmann

Gab es noch andere Beispiele, wo ihr etwas groß machen konntet?

Der erste Riesenerfolg war Bov Bjerg, „Auerhaus“, das war ungeheuer. Da waren sich alle vier einig. Das ist ja auch das Tolle: So schwierig das Gespräch zwischen so unterschiedlichen Leuten wie zum Beispiel Thea Dorn und Christine Westermann ist – hier wird von total unterschiedlichen Enden der Welt über Literatur gesprochen, aber wenn die sich dann einig sind, ist das großartig. Zuletzt gab es auch ein Buch, das sonst überhaupt nicht registriert worden wäre, da war der DTV-Verlag irre froh und dankbar: „Am Tag davor“ von Sorj Chalandon, ein französischer Bergarbeiter-Roman, ein absolut erschütterndes politisches Buch.

Aber insgesamt ist die Wirkung mit der von früher nicht zu vergleichen?

Das alte „Quartett“ hatte eine unglaubliche Wirkung. Wenn zwei Wochen vorher bekannt wurde, welche Bücher besprochen werden, wurden alle von den Buchhandlungen gekauft und es hat für jedes Buch positive Wirkung gehabt, auch für die verrissenen. Das „Literarische Quartett“ hatte so eine märchenhafte Wirkung, dass man auch Weltbestseller machen konnte. Es gab den Moment, als Javier Marías mit „Mein Herz, so weiß“ besprochen wurde, da war Reich-Ranicki völlig außer sich vor Jubel, die anderen mit ihm, und das wurde dann nicht nur in Deutschland ein Nummer-1-Bestseller, sondern auch in Spanien. Der Autor war damals auch dort kaum bekannt, das erzählte mir mein spanischer Verleger immer noch fassungslos: Dass das deutsche Fernsehen einen spanischen Autor in Spanien durchgesetzt hat. Ähnlich war es bei Cees Nooteboom.

Eigentlich muss eine Fernsehsendung nur dem Anspruch genügen, dass die Leute sie gerne sehen. Das „Literarische Quartett“ soll außerdem noch etwas für die Literatur tun.

Das ist heute verschärfter als damals. Heute spielt die Literaturberichterstattung in den Zeitungen im gesellschaftlichen Leben eine geringere Rolle. Dadurch ist der – gar nicht mal offen ausgesprochene – Druck auf so eine Sendung größer als zu Reich-Ranickis Zeit: Es geht um die Verantwortung, auch wirklich die richtigen Bücher auszuwählen, um dann für die etwas zu tun.

Diese Last hast du auch gespürt?

Ja, weil es ja auch im Fernsehen kaum noch Programme dafür gibt. Es ist immer noch der prominenteste, wichtigste Programmplatz für Bücher.

Kein Natural Born Fernsehmensch

Wie kommt du mit dem Fernsehen zurecht? Bist du mit ihm warm geworden?

Es gibt eine Schwierigkeit: Ich habe natürlich immer das alte „Literarische Quartett“ vor allem auch für den Streit geliebt, für die scharfe Kritik, für die Ungeduld. Mir ist im Fernsehen nochmal deutlicher geworden, was ich eigentlich auch vorher schon wusste: Die Freude am Streit ist mir nicht in die Wiege gelegt; ich bin eher ein harmoniesüchtiger Mensch. Und dann ist es auch noch so: Es gibt Menschen, die aufleuchten, wenn das Fernsehlicht angeht, als wenn sie gerade innerlich angezündet würden. Ich denke eher: Geht es nicht etwas dunkler? Ein Natural Born Fernsehmann bin ich wirklich nicht. Ich habe mich da rangetastet. Andererseits glaube ich auch, dass genau das eine Qualität sein kann im Fernsehen, wenn es um Literatur geht.

Auch Reich-Ranicki war zwar fantastisch unterhaltsam, aber auch er saß da nicht wie jemand, der professioneller Fernsehmensch war.

Das war ja auch bei ihm das Großartige. Wenn man den gecoacht hätte, hätte man alles kaputt gemacht.

Wie alles begann: Die Premierensendung vom Oktober 2015 mit Maxim Biller und als Gast Juli Zeh Foto: ZDF/Jürgen Detmers

Du warst nicht nur unerfahren als Fernsehmoderator, du hattest gleichzeitig noch besonders schwierige und besonders unterschiedliche Mitstreiter, zwischen denen du moderieren musstest – damit die Sendung nicht auseinanderfliegt. Das war anstrengend, oder?

Ja, in jedem Sinne. Es ist eh eine anstrengende Doppelrolle: In den meisten Talkshows gibt es einen Moderator, der Fragen stellt. Ich bin aber nicht nur Gastgeber und muss die Sendung zusammenhalten, sondern will natürlich auch so stark wie möglich meine Meinung vertreten. Maxim Biller ist von vornherein reingekommen mit seiner ganzen Angriffslust und Streitlust und Kritiklust. Das war gerade am Anfang für mich eine Verdoppelung der Schwierigkeit. Es ist mir ein paar Mal passiert, dass er so brutale Vorwürfe gegen Bücher geäußert hat, an die ich vorher im Traum nicht gedacht hatte. Die Schnelligkeit des Mediums, verglichen mit meiner Bedachtsamkeit, das hat mich schon oft erstaunt.

Und es waren nicht nur Rollen, die ihr da eingenommen habt?

So wie ich Fernsehen erlebt habe, bin ich schon geschockt, wie wenig man da spielen kann. In einer Sendung, in der nichts vorher abgesprochen ist, wo es keinen Teleprompter gibt, musste ich am Ende immer wieder feststellen: Man sieht fast alles.

Wie sehr spielte die Quote eine Rolle?

Wenn ich die Zahlen am Morgen bekommen habe, dann, wenn sie besonders gut waren. Sonst hat man mich damit in Ruhe gelassen.

Die vorerst letzte Sendung mit Matthias BrandtFoto: ZDF/Svea Pietschmann

Der schönste Moment

Wenn du jetzt nach der letzten Sendung eine Schleife für dich ans „Quartett“ machst, woran erinnerst du dich gern zurück?

Was ich wirklich schön fand: die Überraschung der Gäste. Thomas Gottschalk liebt Handke und redet darüber. Martin Schulz war ein wahnsinnig schöner Besuch, weil das auch so eine politische Sendung war, über Italien, aber auch deutsche Literaturgeschichte, er hat Arthur Koestler vorgestellt. Oder wie Ulrich Matthes das Wort „tröstlich“ ausgesprochen hat, als er die Erzählungen der Schriftstellerin Maeve Brennan rühmte. Ich glaube sogar: Das war mein schönster Moment. „Trööööstlich“! Das war so wundervoll und aus dem Herzen wahr. Andererseits auch der Moment, als ein womöglich unter Drogeneinfluss stehender Gast den Faden verlor und sich entschloss zu schweigen, und ich dann die Buchverstellung übernehmen musste.

Es gab andererseits auch Vorwürfe, dass ihr vor allem die Sendung eines einzelnen Verlages seid, weil drei Teilnehmer bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlichen und auch noch gern über Bücher aus dem Verlag sprechen.

Seit es nur noch wenige Leute gibt, die Leidenschaft für Literatur haben, besteht der Literaturbetrieb vor allem aus Beamten, die ständig Proporz bemessen: Wieviel Frauen, welche Verlage? Das nervt mich immer. Aber ich habe das falsch eingeschätzt, denn natürlich kann man diese Fragen stellen, wenn es um die wichtigste Fernsehsendung über Literatur geht. Obwohl ich mich subjektiv immer frei gefühlt habe, auch Bücher von KiWi zu verreißen.

Was ist dein Kriterium, welches Buch du vorstellst?

Keine Frage wird mir in meinem Leben häufiger gestellt!

Ach, Mist.

Und natürlich gibt es darauf keine Antwort. Reich-Ranicki hat immer gesagt: „Das hab ich so noch nicht gelesen“, das war sein Kriterium. Das ist so ähnlich bei mir auch. Es muss entweder neu sein, eine neue Geschichte oder in einer neuen Art geschrieben; es darf nicht langweilig sein. Das ist der Hauptteil meines Jobs. Ich kriege jeden Tag 20 Bücher und sitze da und denke nach. Ein Buch muss mich einfach gefangennehmen. Und mir ist wichtig, dass es relevant ist in einem gesellschaftspolitischen Sinne.

Die für mich perfekte Mischung haben wir jetzt in der letzten Sendung: Einerseits ein Klassiker, „Effi Briest“ von Fontane; dann eine Art Fan-Buch, eigentlich ein Sachbuch, aber so literarisch geschrieben, über Dirk Nowitzki; ein Buch über eine Fußpflegerin in Ost-Berlin. Meins ist das literarischste: „Über Liebe und Magie“ von John Burnside, ein schottischer Autor, der so wundervoll ist.

Eine Ehre und eine Last

Warum hörst du jetzt auf?

Es war eine tolle Chance, die mir wahnsinnig Spaß gemacht hat, aber auch eine gewisse Last. Ich habe zwei volle Jobs, bin Redakteur beim „Spiegel“ und schreibe Bücher, da war der dritte auf Dauer ein bisschen viel. Und wenn die Frage ist, was mir jetzt am meisten Spaß macht, ist es das Schreiben.

Das erste „Literarische Quartett“ 1988 mit Sigrid Löffler, Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Jürgen Busche. Screenshot: Youtube

Du hast zum Beginn gesagt, eigentlich wäre es Wahnsinn, die Sendung wieder „Das Literarische Quartett“ zu nennen. Wie siehst du das heute?

Ich hätte es nicht so gemacht. Für die Öffentlichkeit hat der große Name wahrscheinlich nach zwei, drei Folgen keine Rolle mehr gespielt. Aber für mich, der ich das immer so fantastisch fand und dessen Lebenstraum schon als Jugendlicher war, da irgendwann mal zu sitzen, war das rückblickend vielleicht eine große Ehre – aber echt auch eine mächtige Last.

Hast du dir etwas vorgenommen für die letzte Sendung? Du hast dich bisher immer mit dem Ruf „Kopf hoch!“ verabschiedet.

Das war der Abschiedsgruß von Marcel Reich-Ranicki bei all meinen Gesprächen, die ich mit ihm führte, das hat mir so gut gefallen. Diesmal will ich es mir gönnen, seinen Abschiedsgruß zu sagen, den offiziellen, den Fernsehabschiedsgruß. Einmal möchte ich es sagen: „Und also sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Die letzte Ausgabe des „Literarischen Quartetts“ mit Volker Weidermann und Christine Westermann läuft heute um 23 Uhr im ZDF.

Offenlegung: Volker Weidermann und Stefan Niggemeier haben viele Jahre im Feuilleton der FAS zusammengearbeitet.

7 Kommentare

  1. In dem blauen Kasten „Zur Person und zur Sendung“ bitte Westerwelle durch Westermann ersetzen!

  2. Wenn ich jeden Abend um 20 Uhr auf dem Sofa einschlafe und wenige Stunden später aufwache , ist das Literarische Quartett die einzige Sendung, die mich davon abhält, ins Bett zu gehen. Volker Weidermanns Art physisch zu leiden, wenn es Streit gab, fand ich einen so tollen Kontrapunkt zum Leselücken übertobenden MRR, dass ich es echt schade finde, dass es die Sendung in der Konstellation nicht mehr gibt.

  3. Seit der leider verstorbene Reich-Ranitzki nicht mehr dabei ist, schaue ich die Sendung nur noch selten, da ist irgendwie die Luft für mich raus.

    So ein richtiger Streit ist das ja am Ende auch nicht mehr, oder sagen wir: „kaum noch“, ein paar wenige Ausnahmen gibt es ja manchmal mit etwas Glück.

    In der Regel stellt man sich aber vielmehr höflich und behutsam die unterschiedlichen Standpunkte vor und lässt es meistens dann auch dabei bewenden.

    Da war der Reich-Ranitzki aber von einem anderen Schlag. Seit der von uns gegangen ist, ist es im Quartett fast wie in der Politik:

    Statt Wehner, Strauss und Schmidt eine Debattenkultur a la … ach eigentlich braucht man sich die Namen heutzutage garnicht mehr merken, so lauwarm und austauschbar ist das alles geworden.

  4. Okay: ich habe gelernt: nicht nur in der Politik, sondern auch in der literarischen Fernsehunterhaltung blickt man wehmütig Richtung gestern und wünscht sich insgeheim einen “Leitwolf”, ein Alphatier zurück. Wir scheinen in einer Welt zu leben, in der fehlendes Testosteron bei den anderen Unbehagen bei uns selbst auslöst. So sad …

  5. Es ist naheliegend, dass die Frage, nach welchen Kriterien man die Bücher auswählt im Kontext so einer Sendung immer wieder gestellt wird. Dann folgt dem Statement, dass es auf diese Frage keine Antwort gibt, eine durchaus nachvollziehbare Frage auf diese Antwort.
    Und für alle, die diese Antwort nicht nachvollziehen können, bleibt stehen, dass es keine Antwort gibt.
    Der Mann mag den Streit nicht lieben, an rhetorische Begabung mangelt es ihm aber sicher nicht.

  6. Volker Weidermann war für mich ehrlich gesagt in dieser Sendung eine Offenbarung. Gerade die Tatsache, dass man erahnen konnte, dass er sich nicht hundertprozentig wohl fühlte vor der Kamera und unter den Scheinwerfern, machte seine Präsenz irgendwie magisch und unperfekt perfekt. Die Sendung hätte noch ein bisschen schöner inszeniert werden können, was die Ästhetik anging, aber ansonsten war es ein Genuss Menschen dabei zuzusehen, wie sie zivilisiert unterschiedlicher Meinung sind. Essentiell in diesen Tagen.

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