Die Kolumne

Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und BILDblog. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“. In seinem Notizblog macht er Anmerkungen zu aktuellen Medienthemen.
Vielleicht habe ich dem von mir gelegentlich als „Müllportal“ bezeichneten Online-Angebot „Der Westen“ jahrelang unrecht getan. Vielleicht dient die Seite, die ihre Leserinnen und Leser mit ihren Schlagzeilen konsequent in die Irre führt, in Wahrheit der Aufklärung. Vielleicht handelt es sich bei dem, was hier betrieben wird, wirklich im Wortsinne um Clickbaiting wie aus dem Lehrbuch – weil Menschen hier lernen können, Medien wie „Der Westen“ nicht zu trauen.
Nehmen wir eine Geschichte wie diese:
Merz wird von Bundeswehr-Soldaten angebrüllt – es ist im ganzen Kanzleramt zu hören
„Der Westen“ hat den Artikel spätestens am 17. Mai veröffentlicht, datiert ihn aber immer wieder um, sodass er aktuell noch auf der Startseite und im sogenannten „Newsticker“ steht und neu wirkt.
Hinter der spektakulär klingenden Schlagzeile steckt ein Ritual: der Morgengruß des Wachbataillons der Bundeswehr vor dem Kanzleramt. Der Kanzler sagt: „Guten Morgen, Soldatinnen und Soldaten“; die Soldaten rufen zurück: „Tag, Herr Bundeskanzler!“
Bei „Der Westen“ aber lässt man es in der Überschrift wirken, als sei es ein Vorfall, bei dem Friedrich Merz von Soldaten aus Wut angebrüllt wurde. Und das zahlt sich aus. Mutmaßlich durch Klicks, nachweisbar durch Interaktionen in den Sozialen Medien.
Jens Schröder, der in seinem Newsletter „Trending“ Social-Media-Daten für den Branchendienst „Meedia“ auswertet, hat ermittelt, dass das Stück der journalistische Artikel mit den meisten Social-Media-Reaktionen in der vergangenen Woche war. Auf Facebook wurde der entsprechende Post von „Der Westen“ über 1500-mal geteilt und über 5000-mal kommentiert; hinzu kommen über 17.000 Reaktionen.
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und BILDblog. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“. In seinem Notizblog macht er Anmerkungen zu aktuellen Medienthemen.
„Gut so!“, kommentierte einer. „Der Kerl muss die ganze Wucht der Abneigung zu spüren bekommen!!! Schmutz muss beseitigt werden, sagte schon meine Oma immer.“
„Ich weiß nicht was der Soldat gesagt hat aber er hat recht!“, schrieb ein anderer.
„Super! Respekt dem Soldaten!“, forderte eine weitere.
Es sind viele kleine Demonstrationen, dass die Überschrift in ihrer Irreführung funktioniert.
Man könnte nun denken, dass dahinter skrupellose Geschäftemacherei steckt. Der Versuch, Leute mit falschen Schlagzeilen auf eine Internetseite zu locken, und dabei in Kauf zu nehmen, dass viele, die in den Sozialen Medien oder Suchmaschinen nur die Überschrift wahrnehmen und nicht auf den Link klicken, einer Lüge aufsitzen. Aber das kann nicht sein, denn „Der Westen“ gehört zur Funke-Mediengruppe. Und deren Verlegerin Julia Becker wird nicht müde, in Interviews und auf Veranstaltungen zu betonen, wie wichtig verantwortungsvolle Medien für die Demokratie sind.
In einem Interview mit dem Branchenblatt „Journalist“ wurde sie vor zwei Jahren als „Medienmanagerin mit Haltung“ gerühmt, weil sie sich „für hochwertigen Journalismus“ einsetze. „Clickbaiting besteht“, sagte sie damals, „wenn eine Überschrift verspricht, was der Text nicht hält. Als mir bewusst wurde, dass das auf Portalen wie derwesten.de geschieht, hatte ich meine ersten Fremdschäm-Momente im Aufsichtsrat.“
Der „Journalist“ schloss damals daraus, dass Julia Becker solches Clickbaiting abschaffen wollte, aber das war offensichtlich ein Irrtum. Stattdessen wirbt sie nun für Medienkritik. In einem Monat hält sie auf dem European Publishing Congress die Keynote zum Thema: „Unabhängige Medien und kritische Leser als Säulen unserer Demokratien“. Laut Ankündigung will sie Überlegungen formulieren, „warum es nicht nur wirtschaftlich unabhängige Medien braucht, sondern auch eine medienkritische Gesellschaft.“
Eine Antwort auf diese Frage: Damit die Leute nicht mehr so dumm sind, auf Produkte wie den „Westen“ hereinzufallen. Und wo haben sie die Chance, schlauer zu werden? Richtig: in den Kommentaren unter den Facebook-Posts des „Westen“, wo zwischen all denen, die auf die Clickbait-Schlagzeile hereinfallen, nun Leute sind, die die Clickbait-Schlagzeile anprangern oder sich über die anderen lustig machen:
„Meine Güte wie Doof hier manche sind 🤣🤣 Hauptsache negativ kommentieren,nix gelesen nix begriffen“, schreibt eine.
„die liebe Überschrift hat noch nie zum Inhalt gepasst das war schon immer so aber das wird extra so gemacht damit wieder eine Diskussionsrunde entsteht wo der ganze Hass der Menschen ausgetragen wird“, weiß eine andere.
„Eine lautstarke Respektbekundung- aber die Überschrift suggeriert etwas anderes“, schreibt ein Dritter.
Eine medienkritische Gesellschaft, hier entsteht und wirkt sie.
Der zuletzt zitierte Kommentator fügte hinzu: „Schmeißt euren Praktikanten endlich raus!“ Dahinter steckt allerdings ein Irrtum. Der vermeintliche Praktikant heißt Marcel Görmann und ist Verantwortlicher Redakteur Politik bei „Der Westen“. Und er macht seinen Job offenbar ganz im Sinne seines Unternehmens.
Die Psychohistorik sagt, dass diese Art Journalismus unvermeidlich ist. Es ist auch egal, welche Individuen ihn anwenden.
Dieses und andere Baitportale werden ja auch mittlerweile in vielen Aggregatoren, wie Pocket oder Google News (Standard auf Android) gefeatured. Man kann die einzelnen Portale oder ganze Themen deaktivieren, wozu ich nur raten kann. Das sind gut investierte 5 Minuten.
Ein wichtiger Schritt in Richtung ordentlicher Medienkritik, ist das fördern von Medienkompetenz. Bei Jung und Alt wohlgemerkt.
Trotz allem Interessanter Ansatz.