Die Podcast-Kritik (13)

Eine Herausforderung für Ohren und Kopf: ein Podcast wie ein Rausch

Podcast-Kritik: Love And Radio

Würde mich jemand auf eine einsame Insel schicken, mein Podcast-Koffer wäre voller Episoden von „Love + Radio“. Es gibt kaum einen anderen Podcast, den ich so oft in Gesprächen empfohlen habe. Der meine Ohren so geöffnet hat, meinen Geschmack so herausgefordert und damit geprägt hat. Zu dem ich seit Jahren immer noch regelmäßig zurückkehre, meistens sogar zu den immergleichen Episoden. Fast schon ritualisiert. Jedes Mal ein bisschen mehr verbunden mit einem beinahe feiertäglichen Gefühl, in eine unbequeme, aber trotzdem gemütliche Heimat einzukehren.

Beim Schreiben wird mir gerade klar, was das heißt: „Love + Radio“ ist für mein Erleben von Audio – neben „This American Life“ – ein Fixpunkt. Mit dem ich seit Jahren, mal mehr, mal weniger bewusst, alles Gehörte abgleiche und an dem ich meinen Geschmack immer wieder neu orientiere. Sowohl als Hörer als auch als Kritiker.

An einer allgemeingültigen Beschreibung dieses Podcasts kann man nur scheitern. Deswegen möchte ich meine zwei Lieblingsepisoden teilen, als mögliche Einstiegspunkte – und erklären, warum mir „Love + Radio“ in diesem Jahr trotzdem das Herz brach und damit auch exemplarisch für eine Entwicklung im Podcast-Bereich steht.

„Love + Radio“ polarisiert bei Inhalt und Klang

In der Regel ist es viel leichter, Podcasts über ihre Themen und Inhalte zu beschreiben als über ihren Klang. Bei „Love + Radio“ ist es andersherum. Die Themen sind schwer zu verallgemeinern, weil die Spannweite so gigantisch ist. Ein Versuch: Der Podcast erzählt Geschichten, die mal polarisieren, mal die Grautöne zwischen Schwarz und Weiß zeigen – und immer die eigene Wahrnehmung der HörerInnen heraufordern.

Der Journalist, der aus Versehen kurz in die Drogenszene abruscht. Die Frau, die Fotoautomaten liebt. (Also, wirklich.) Der Mann, der leidenschaftlich Schlangen sammelt. Die Dominatrix, die mit Demütigungen über Telefon und Chat ihren Lebensunterhalt verdient. Der Mann, der eine komplizierte Dreier-Liebesbeziehung mit zwei Objekten führt. Der überzeugte Demokrat, der zum Trump-Hardliner wird. Es sind oft Geschichten, die gefühlt eigentlich viel zu weit außerhalb der Norm, jenseits des Erwartbaren und Gewohnten liegen, um wahr zu sein. Gerade deswegen wirken sie so viel lebensechter sind als alle Geschichten, die Klischees erfüllen.

In Aufzählung klingt der Podcast jetzt natürlich boulevardesk, wie ein Zirkus der Absurditäten. Und manchmal ist er das auch. Aber er nimmt seine ProtagonistInnen ernst und führt höchstens die HörerInnen und ihre Vorurteile vor.

Das gelingt „Love + Radio“, indem es sehr viele, sehr lange Interviews mit den ProtagonistInnen kunstvoll in eine neue Form überführt. Die meisten Episoden kommen am Ende ohne eine zweite Stimme aus, ohne eine zusätzliche Erzähler-Ebene – die MacherInnen ziehen sich dann in den Hintergrund zurück. Die besten Episoden sind zum Schluss eine einzige Collage aus Zitaten der Interviewten, Geräuschen, Tönen, Effekten, Musik. Das wirkt mal sehr organisch und natürlich, manchmal auffällig künstlich. Aber es ist immer ein Rausch, ein Trip, ein Erlebnis für die Ohren. Jede Episode ist ein kleiner Audioplanet, mit einer ganz eigenen Klanglandschaft. Trotzdem trägt jede Ausgabe, und das trotz sogar wechselnder Podcast-Besetzungen in der Produktion, immer eine unverwechselbare „L+R“-Handschrift.

Zwei Episoden zum Einstieg

„Split Brain“ von 2008 ist die erste Episode, die ich jemals von „Love + Radio“ gehört habe. Der Plot ist schnell und ausnahmsweise spoilerfrei zu erzählen: Jill Bolte Taylor ist Neurowissenschaftlerin. Ein Blutgefäß platzt in ihrer linken Gehirnhälfte, sie hat einen Schlaganfall. Sie beschreibt, wie sie ihn sehr bewusst erlebt. All ihre Macht- und Hilfslosigkeit in diesem Moment. Sie merkt, was schiefläuft. Sie weiß, dass sie vor allem schnell Hilfe braucht – kann aber kaum reagieren, weil ihre linke Gehirnhälfte aussetzt.

Taylor ist eine begnadete, geübte Erzählerin. Aber was diese „L+R“-Episode von jedem anderen Podcast unterscheidet: Es ist die Arbeit mit dem Klang, die den Schlaganfall beinahe fühlbar macht. Die gekonnt eingesetzten Störgeräusche auf den Kopfhörern, die sich nach einiger Zeit schleichend wie Aussetzer im eigenen Gehirn anfühlen, gemischt mit desorientierenden Effekten, die mir irgendwann das Gefühl geben, selber eine nasse Stirn und zittrige Beine zu haben. Selbst beim x-ten Mal hören. Diese Wirkmacht von Audio erlebe ich in Podcasts selten so intensiv wie bei „Love + Radio“.

„The Living Room“ ist eine preisgekrönte Episode aus der vierten Staffel des Podcasts und seit Jahren die Folge, die ich fast immer empfehle und die dann die größte Resonanz auslöst. Sie ist nach dem Maßstäben des Podcasts minimalistisch produziert und funktioniert auch ganz anders als „Split Brain“. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen: Diese Episode ist exemplarisch für die extreme Intimität, die „Love + Radio“ durch seine Collage von Ich-Erzählungen aufbauen kann. Streckenweise geht das soweit, dass ich als Hörer selber erschrecke, wie unangenehm nah ich da einem Menschen und seiner Geschichte auf die Pelle rücke. Das ist besonders großartig in der „The Living Room“-Episode, die sich mit sich mit einer sehr aufmerksamen, voyeuristischen Nachbarin beschäftigt.

Vom Indie-Label zur Bezahl-Plattform

„Love + Radio“ hat also seit Jahren mein Herz beständig höher schlagen lassen. Und so brach mir dieser Podcast auch das Herz, als er im März ohne echte Verabschiedung aus meinem Leben verschwand: „Love + Radio“ verließ das renommierte Indie-Podcast-Netzwerk „Radiotopia“, um freudig zu vermelden: „We’ve Joined Luminary!“. Ich konnte nicht mitjubeln. Auch wenn ich ein großer Fan bin, wenn sich ambitionierte, kreative Arbeit finanziell lohnt.

Denn der Widerspruch hätte für mich nicht größer sein können. Im Medium Podcast ist so vieles noch möglich, weil Podcasts eine der letzten nicht plattformisierten, nicht durchkommerzialisierten Ecken des Internets sind. Weil dieser merkwürdig schöne Anachronismus mitunter eben solche Verrücktheiten erlaubt, die nur entstehen, wenn Kreativität auch mal siegen darf  – über Rechenschieber, Quotenmesser und datengetriebene Entscheidungen. Wenn’s am Ende ziemlich unvernünftig ist, dafür aber idealistisch. Und schön. Dafür steht das Podcast-Netzwerk „Radiotopia“, das „Love + Radio“ verließ.

Die Plattform „Luminary“ ist für mich aber der Gegenentwurf dieser romantischen Vorstellung vom frei zugänglichen Medium. Sie ist einer von vielen Anwärtern, die Investoren-Erwartungen nur erfüllen können, indem sie am Ende das globale „Netflix für Podcasts“ werden. Wahrscheinlich ist die Plattform sogar der finanziell zweitstärkste Anwärter, nach dem Streaming-Dienst Spotify.

Übrig bleibt nur ein Archiv

Aber so wie bei einigen Konkurrenten ist auch bei „Luminary“ problematisch, dass es auf dem plattformneutralen Ökosystem Podcast aufwachsen will, von seiner Offenheit einseitig profitiert – aber nichts dazu beiträgt. Über die „Luminary“-App soll bitteschön jeder frei zugängliche Podcast der Welt hörbar sein. Andererseits soll jede andere Podcast-App dieser Welt eben nicht auf die exklusiven „Luminary“-Podcasts zugreifen können. Das ist nicht verboten und sicherlich kein ganz unkluges Finanzierungsmodell, aber eben ein Paradigmenwechsel. Die Podcast-Welt hatte sich bisher geeinigt, im gemeinsamen Haus die Türen nicht abzuschließen. Plattformen wie „Luminary“ nehmen sich aber gerade dankbar ein freies Zimmer und installieren als erstes ein Münz-Schloss an der Zimmertür.

Auch das bricht mir das Herz: Ich würde sogar gerne für einen Podcast wie „Love + Radio“ zahlen, nur eben nicht auf dieser Plattform. Und selbst wenn es anders wäre: Ich könnte es g<r nicht. Denn die Paywall sieht derzeit nicht vor, sie als Europäer überwinden zu können. Auf der Webseite heißt es nur: „Luminary is now available for podcast listeners in the US, UK, Canada, and Australia.“

Auch daran möchte ich mich bei Podcasts eigentlich nicht gewöhnen müssen: Geoblocking im Plattform-Internet. Und somit bleibt mir vorerst „nur“ das glücklicherweise umfangreiche Archiv von sieben Staffeln „Love + Radio“, ganz frei verfügbar. Falls ich eines Tages wirklich mal einen Podcast-Koffer für eine einsame Insel packen muss.


Podcast: „Love + Radio“
Erscheinungsrhythmus: bisher sieben Staffeln, Staffel 8 nur bei „Luminary
Episodenlänge: 20 Minuten bis 120 Minuten
Lieblingsfolgen: „Points Unknow“, „Choir Boy“, „Another Planet“

Offizieller Claim: „Love and Radio“ features in-depth, otherworldly-produced interviews with an eclectic range of subjects, from the seedy to the sublime. You’ve never heard anything like it before.
Inoffizieller Claim: Der offizielle Claim ist genauso anmaßend wie zutreffend. Ernsthaft.

Geeignet für: Menschen, die sich auf etwas einlassen können, ohne das Ziel zu kennen und unterwegs viel aushalten.
Nicht geeignet für: Kurze Aufmerksamkeitsspannen, Mit-Nur-Einem-Ohr-Zuhören.

Wer diesen Podcast mochte und Ähnliches findet: Lässt mich bitte davon wissen!

2 Kommentare

  1. Der Hinweis, dass der Podcast in englischer Sprache eingesprochen wird wäre in einem deutschsprachigen Artikel durchaus hilfreich gewesen.

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