Relotius und die Folgen

Ein gescheiterter Versuch, in der „Welt“ für besseren Journalismus zu plädieren

Verächtlich gemacht
Ausriss: „Welt“

„Das Fehlverhalten des Claas Relotius sollte Anlass sein, über unseren Journalismus grundsätzlich nachzudenken.“ Dieser Satz steht heute in der „Welt“, aber deshalb ist er noch nicht falsch. Nur voll unfreiwilliger Ironie.

Geschrieben hat den Satz Joachim Bauer in einem Gastkommentar auf Seite 2 der Zeitung. Bauer ist Neurowissenschaftler, und er hat ein Problem mit dem „Spiegel“. Sein Artikel beginnt so:

Ob die Fälschungen von Claas Relotius wirklich nur eine alleinstehende Einzeltat darstellen, ist keinesfalls geklärt. (…)

Vieles spricht dafür, dass Relotius auf die Spitze getrieben hat, was der Arbeitsweise seines journalistischen Umfeldes entsprach. Bizarr war etwa sein mit „Tabubruch“ überschriebener Beitrag über den grünen Tübinger Oberbürgermeister. Der Artikel lieferte zwar keinen Beleg für einen Tabubruch durch Boris Palmer, machte den Leser dafür aber mit der Ansage vertraut, dass angeblich ganz Deutschland über den Politiker lache. Behauptungen einfach einmal in den Raum zu stellen, in der Erwartung, dass sie zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden, ist ein bewährtes Arbeitsprinzip von Stimmungsmachern.

Ja, schlimme Sache, nur, kleines Detail: Der Artikel ist gar nicht von Claas Relotius. Der Artikel ist von Felix Bohr und Anna Clauß. Ihre Namen stehen deshalb auch über bzw. unter dem Artikel.

Irgendwann muss auch jemand bei der „Welt“ den Fehler bemerkt haben. Die Online-Version des Artikels wurde daraufhin geändert. Sie nennt Relotius nun nicht mehr als Urheber der schlimmen Stimmungsmache.

Stattdessen steht dort ein Absatz, in dem weitere schlimme „Spiegel“-Artikel aufgezählt werden und ein anderer Zusammenhang zu Relotius hergestellt wird:

Vieles spricht dafür, dass Claas Relotius auf die Spitze getrieben hatte, was der Arbeitsweise seines journalistischen Umfeldes entsprach. Um dies zu vermuten, reicht ein Blick auf einige zufällig herausgegriffene Reportagen im „Spiegel“-Heft 52/2018, welche nicht dem Übeltäter, sondern verschiedenen anderen Themen gewidmet sind und die öffentliche Hinrichtung des ehemaligen Jungstars durch seine bisherigen Arbeitgeber sozusagen einrahmen (…).

Ja, das liest sich etwas angestrengt.

Worauf die „Welt“ bei ihrer Korrektur verzichtet hat: Darauf hinzuweisen, dass sie sich korrigieren musste. Dass sie dem Meister der falschen Geschichten eine falsche Geschichte zugeschoben hat.

Im Artikel steht kein Hinweis darauf, dass hier ein Fehler passiert ist. Aber nach wie vor der schöne Satz:

„Das Fehlverhalten des Claas Relotius sollte Anlass sein, über unseren Journalismus grundsätzlich nachzudenken.“

Mit einem transparenten Umgang mit eigenen Fehlern wollte man bei der „Welt“ nicht gleich beginnen.


Hier könnte dieser Text enden, doch dann habe ich den vermeintlich von Relotius stammenden, aber unabhängig davon offenbar kritikwürdigen „Spiegel“-Artikel über Palmer gelesen. Und es fällt mir schwer, das „Bizarre“ darin zu erkennen, das der Gastautor der „Welt“ anprangert.

Der Tabubruch
Ausriss: „Der Spiegel“

Es fängt damit an, dass der „Spiegel“-Artikel keineswegs behauptet, dass „ganz Deutschland“ über Palmer lacht. Im Vorspann heißt es:

Deutschland lacht über Oberbürgermeister Boris Palmer und seine Tiraden, seine Parteifreunde schimpfen. Seine Heimatstadt aber verteidigt ihn gegen jede Kritik.

Die Formulierung „Deutschland lacht“ ist dämlich, keine Frage. Aber festzuhalten, dass hier nicht behauptet wird, dass ganz Deutschland lacht, ist mehr als nur eine Spitzfindigkeit: Der Artikel beschreibt nämlich ausführlich die Zustimmung, die Palmer in der Stadt erfährt, deren Bürgermeister er ist.

Und der Artikel liefert durchaus Belege für den in der Überschrift behaupteten „Tabubruch“ – was angesichts von Palmers Flüchtlings-Aussagen, die von der AfD begeistert aufgenommen werden, auch nicht schwer ist. Mit den Tabus sind natürlich die üblichen Grenzen grüner Politik gemeint, so formuliert es auch der „Spiegel“-Artikel:

Er reüssiert mit dem Tabubruch grüner Themen und erreicht nicht nur die grüne Kernwählerschaft.

Dass Palmer insbesondere mit seinem Vorgehen gegen einen Studenten, der ihn spätabends auf offener Straße beschimpft haben soll, bundesweit Hohn und Spott ausgelöst hat, ist auch nicht nur eine bloße Behauptung oder gar Prophezeiung des „Spiegel“, die erst im Nachhinein wahr werden würde.

Erstaunlich: Joachim Bauer, der Gastkommentar der „Welt“, stellt in einem Artikel, der die verzerrte Darstellung der Wirklichkeit durch Journalisten kritisiert, einen Artikel grob verzerrt dar. Der „Spiegel“-Artikel ist das Gegenteil dessen, was Bauer anprangert.

Bauer geht es vorgeblich um die Unart eines „zynischen, einseitig und unsachlich auf die angeblichen Mängel unserer Demokratie und ihrer politischen Akteure ausgerichteten Journalismus“, wie ihn nicht nur der „Spiegel“ betreibe:

Wenn Medien den Politikbetrieb in Schwarz malen und seine Akteure nur als inkompetent und lächerlich darstellen, wird die Politik für den normalen Menschen zu einer Projektionsfläche. Ein dann auftretendes Phänomen ist eine Spaltung der Welt in Schuldige und Opfer, in böse Politiker auf der einen und „Wir“, die Guten, auf der anderen Seite.

Das ist richtig und sicher auch ein Problem vieler „Spiegel“-Artikel – aber genau das tut der „Spiegel“-Artikel über Palmer nicht. Er belässt es keineswegs dabei, das Kopfschütteln über den Tübinger Oberbürgermeister zu beschreiben oder gar herbeizuschreiben.

Felix Bohr und Anna Clauß malen Palmer und sein Wirken gerade nicht Schwarz, im Gegenteil:

Kommunale Anliegen hat Palmer aber auch als Hardliner nicht vergessen. Selbst seine schärfsten Kritiker bescheinigen ihm, dass er als Bürgermeister seinen Job gut mache. Kollegen berichten, Palmer hocke häufig von morgens acht bis abends 22 Uhr in seinem Büro im Rathaus. Um Strom zu sparen, sitze er dann im dunklen Zimmer, erleuchtet nur vom Desktop seines Computers.

Unter Palmers Ägide wurde die Universitätsstadt zum Wirtschaftsstandort, Start-ups haben sich angesiedelt, Amazon plant am Stadtrand ein Forschungszentrum. Seit seinem Amtsantritt 2007 entstanden in der Stadt 10 000 neue Arbeitsplätze, Wirtschaftsleute schwärmen vom kurzen Dienstweg zum Bürgermeister: „Eine SMS reicht.“

Eigentlich könnte die Welt für Boris Palmer in Ordnung sein, denn auch fürs grüne Stammpublikum fällt in Tübingen noch etwas ab. Neue Fahrradwege führen durch die Stadt, der kostenlose öffentliche Personennahverkehr ist samstags bereits Realität, Palmer fördert E-Mobilität und verpflichtet Häuslebauer zur Nutzung von Solarenergie. Der CO2-Ausstoß sinkt, obwohl die Bevölkerung kontinuierlich wächst. „Ich bin Grüner aus größter Überzeugung“, beteuert Palmer.

Ein Artikel mit diesen Passagen soll ein Beispiel sein für einen Journalismus, der Politiker nur als inkompetent und lächerlich darstellt? Der zynisch auf die Verächtlichmachung der Akteure in unserer Demokratie zielt? Das grenzt an Verleumdung.

Bauers Gastkommentar in der „Welt“ endet mit dem Appell:

Wir brauchen kritischen Journalismus, der uns deutlich macht, woran unser System (noch) krankt, und der aufdeckt, wo unsere politischen Akteure Fehler machen, der aber nicht so weit geht, dass Menschen sich nach selbst ernannten populistischen Rettern sehnen müssen.

Komisch, dass diese Differenzierung nur für die Fehler im politischen System, nicht für die im medialen System gelten soll. Da scheint blindes Draufschlagen völlig in Ordnung zu sein.

(Ganz zu schweigen von dem Witz, dass ein Text, der sich gegen das systematische, zynische Verächtlichmachen des Politikbetriebs ausspricht, ausgerechnet in der „Welt“ erscheint, die Henryk M. Broder beschäftigt, den wohl profiliertesten zynischen Verächtlichmacher des deutschen Politikbetriebs.)

Nachtrag, 4. Januar. Die Redaktion der „Welt“ hat dem Artikel inzwischen eine Anmerkung hinzugefügt:

In einer früheren Version des Textes ist durch eine unglückliche Kürzung des Beitrags der Eindruck entstanden, Claas Relotius hätte den „Spiegel“-Artikel „Tabubruch“ geschrieben. Dies bedauern wir ebenso wie die Tatsache, dass wir die Korrektur zunächst nicht transparent gemacht haben.

35 Kommentare

  1. Oh, grad mal bei Wikipedia nachgelesen, wer dieser Koachim Bauer ist. Da steht, er „leitete den Gutachtenbereich“ an einer psychosomatischen Ambulanz der Uni Göttingen. Ich hoffe mal, seine Gutachten waren da besser als dieser Artikel. Das Gericht ließ an seinem Zschäpe-Gutachten allerdings kein gutes Haar.

    Seine wissenschaftl. und populärwissenschaftl. Publikationen werden auch eher kritisch gesehen. Seine Thesen „zeigten tiefstes Unverständnis und oberflächlich angelesenes Halbwissen“. Oha.

  2. Verpasste Chance. Die Ganze Relotius-Sache hätte dem Journalismus in DE echt guttun können, wenn man es denn mit der Aufklärung und Folgemaßnahmen ernst genommen hätte. So reitet man das Pferd m. E. eher noch tiefer ins Moor.
    Außer Stefan Niggemeier scheint niemand groß Interesse an einer Trockenlegung zu haben.
    Schlimm schlimm schlimm.

  3. Wo ich gerade diese Floskel „Vieles spricht dafür,…“ in einem der Zitate lese: Wenn vieles dafür spricht, impliziert das, dass auch etwas/einiges/weniges dagegen spricht. Im Sinne des Falsifikationismus sollte die These also eher verworfen werden, zumindest wenn Stichhaltiges dagegen spricht – es geht ja in der Regel nicht um Naturwissenschaft.

    Letztlich ist „Vieles spricht dafür…“ Ausdruck von Bequemlichkeit vor der Anforderung, eine These wirklich zu prüfen.

  4. @Wolf

    Ja, dieses „…..vieles spricht dafür…“……….
    Wahlweise auch: „viele sind der Meinung“ oder „Experten sagen“.

    Schmuddeljournalismus, bei dem einfach Behauptungen in die Welt gesetzt werden, die zu beweisen sich der Autor aber auf diese plumpe Art zu entziehen können glaubt.
    Hauptsache, die richtige „Haltung“ im Artikel wird klar.

    Ich halte es auch für keine gute Idee von Herrn Niggemeier, das Systemsymptom Relotius mit einem einzelnen stümperhaft abgefassten Artikel relativieren zu wollen.
    So kommt es zumindest für mich rüber.

    Erinnert mich an Leute, die „Bilderberger“ mit „Chemtrails“ in einen Satz packen.
    In der Hoffnung, die Ernsthaftigkeit des einen würde durch die Lächerlichkeit des anderen irgendwie abgeschwächt.

  5. @Gereon: Ich relativiere gar nichts. Mein Text handelt von keinem einzigen Relotius-Artikel. Aber warum soll man der „Welt“ so einen in jeder Hinsicht misslungenen Text und ihre fehlende Fehlerkultur durchgehen lassen?

    (Ich würde „Bilderberger“ und „Chemtrails“ durchaus in einen Satz packen. Haben Sie ja auch gerade.)

  6. „Spiel‘ nicht mit den Schmuddeljournalisten“
    Die von Rückständigkeit und Standesdünkel zeugende „Schmudddel“-Polemik hat F. J. Degenhardt schon vor über 50 Jahren karikiert.

  7. …Aust; Steingart; Broder; Matussek; Blome; Fleischhauer:
    vermutlich unvollständige Liste derer, die im Alter alles andere als weise geworden sind und z.T. immer noch beim „Spiegel“.
    Eher wohl alle mindestens dem AfD-Lager zuzuordnen…
    H.Niggemeier war in dieser illustren Gesellschaft die wohltuende Ausnahme.
    Puh…

  8. @8: Wow, schon wieder ein neues Narrativ? So langsam komme ich nicht mehr mit. Das „war“ impliziert, dass Niggemeier jetzt also auch AfD ist oder wie habe ich das zu verstehen? Und das „mindestens“ heißt, dass Fleischhauer eigentlich schon NPD ist, oder wie? Hat ihm das auch schon einer gesagt?
    Vermutlich habe ich mal wieder in meinen falschen Gesinnungshals bekommen, gell ;)

  9. @9:
    Ihren „Gesinnungshals“ (was ist das?) kenne ich nicht. Impliziert ist auch nichts.
    Wer Lesen kann, der lese…
    Danke

  10. Um es mit der „Bild“ zu sagen: Irrer Porsche-Fahrer (51) hat „Welt“-Redaktion gekapert.

    Möglicherweise gibt es da einen Zusammenhang.

  11. In einem Medium des Axel Springer-Verlages von „sollte Anlass sein, über unseren Journalismus grundsätzlich nachzudenken.“ zu reden, ist an Ironie kaum zu überbieten.
    Bei Welt, Bild und Co wird kein bisschen Journalismus betrieben, ergo wird auch nicht darüber nachgedacht.

  12. @12
    Sehe ich ähnlich.

    Die dort vertriebenen Medien dienen dem Zweck der Verbreitung von Weltanschauung.
    Die journalistische Komponente dient nur als Vehikel, um die Beiträge unter falscher Flagge an den Mann zu bringen.
    Durch die Mischung von halben und ganzen Wahrheiten (Sport, Verbrauchertips, Promigequatsche) wird der Eindruck erweckt, ein Informationbringer zu sein, der dem Leser gegenüber einen mitteilenswerten Wissensvorsprung besitzt.
    Wenn „a)“ stimmt, muß nach der Schlußfolgerung der oberflächlichen Leser folglich auch „b)“ stimmen.
    Ein simpler Trick, wie ich weiter oben schon schrieb.

    Wer sich die Mühe macht, und das nachprüft, wird sehen, daß von der Selbstdarstellung der Medien als Informationsdienstleister fast nichts übrig bleibt.
    Und der ist dann anschließend auch von Relotius so sehr überrascht wie jemand, der eine Fischdose öffnet und darin Thunfisch findet.

  13. …neulich gelesen und leuchtet ein:
    Abitur, Studium und Doktorarbeit beweisen nur, dass man Denken muss.
    Nicht, dass man es auch zukünftig will.
    NSDAP-Grössen sollen sehr feinsinnige Charaktere gehabt haben.
    Tja…

  14. @EKKEHARD:
    Sorry, aber ich verstehe #8 tatsächlich nicht. Lesen kann ich, denke ich.
    Lesen und vertehen sind zwei Paar Schuhe. Denken dann noch ein weiterer.
    Auch #14 verstehe ich nicht.

  15. @Gereon
    Die Axel-Springer-Medien halten sie für Gesinnungsvehikel, die journalistische „Gegenseite“ sehen Sie ähnlich.

    Welcher Medien bedienen Sie sich denn, um Ihren Wissensvorsprung zu erhalten, wenn ich fragen darf?

  16. @15:
    …ist jetzt aber nicht wirklich mein Problem.
    Oder wollen Sie mit Hilfe meiner Beiträge ein wenig trollen?
    Geschenkt.
    S.Niggemeier übrigens mag Trolle, jedenfalls die aus Norwegen.

    Zurück zum Ursprungsthema, bitte.

  17. Zum Vorwurf der Relativierung: Übermedien hat ja den Claim „Medien besser kritisieren“. Hier geht es um einen kritikwürdigen Beitrag zu einem aufmerksamkeitsstarken Thema, der in einem (Massen-)Medium veröffentlicht wurde. Warum sollte man ihn hier nicht thematisieren?

    Das wäre so, als würde man den Autorinnen und Autoren des oben zitierten „Spiegel“-Beitrages vorwerfen, ihre Kritik an Palmer zu „relativieren“, indem sie auch seine offenbar solide handwerkliche Arbeit zur Sprache bringen. Gerade wenn man alle „nicht ins Bild passenden“ Sachverhalte unerwähnt ließe, würde man sich doch dem Vorwurf der Agenda-getriebenen Berichterstattung aussetzen…

  18. @17: Jau, jeder der Ihr wirres Geschreibsel nicht versteht und sich sogar die Mühe macht, nachzufragen, ist ein Troll.
    Passt scho‘ ;)

  19. @19
    …nicht jeder: Sie waren gemeint. Sollte man feinsinnig auseinanderhalten(können).
    Egal
    Ich liebe es, zu trollen. Wie Sie.
    @18:
    Ist wohl ein immer schwieriger zu beschreitender Grat, auf dem sich Journalismus heute befindet.
    Auch hier auf Übermedien.
    Die Aufforderung, mich über sog. „Soziale Medien“ hier zu beteiligen unterbleibt nur, weil mich der „Tor-Browser“ davor schützt.

    Aber das ist schon wieder ein ganz anderes Thema.

  20. Ich habe den Bauer-Artikel bei Welt online gelesen und meine, ihm in einigen Punkten folgen zu können. Keinesfalls aber in der Einschätzung über Relotius, der nach dem Urteil von Herrn Bauer ein noch sehr junger Mensch mit Verrücktheiten sei. Damit führt sich der Autor ad absurdum. Oder schlichter: Er überführt sich selbst der Ahnungslosigkeit darüber, was ein Journalist an Charaktereigenschaften und Primärtugenden mitzubringen hat, will er Mitbildner der öffentlichen Meinung sein. Dass allerdings Sie, verehrter Herr Niggemeier, Broders Satiren (in den meisten Fällen sind sie das) als verächtlichmachenden Journalismus bezeichnen, finde ich schade. Oder sollen wir uns jetzt jetzt jedem politischen Kabarett rsp. jeder politischen Satire entziehen?

  21. @ Wolf, 4:

    „Wo ich gerade diese Floskel ‚Vieles spricht dafür,…‘ in einem der Zitate lese: Wenn vieles dafür spricht, impliziert das, dass auch etwas/einiges/weniges dagegen spricht.“

    Nö, tut es nicht. Es heißt nur, dass es gute Argumente, aber keine eindeutigen bzw. zwingenden Beweise gibt. Ob es auch Gegenargumente gibt, bleibt da erst mal offen.

    Oftmals bedeutet eine solche Formulierung einfach auch, dass es in deutlich höherem Maße wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist, dass eine These wahr ist.

    „Im Sinne des Falsifikationismus sollte die These also eher verworfen werden, zumindest wenn Stichhaltiges dagegen spricht – es geht ja in der Regel nicht um Naturwissenschaft.“

    WENN mehr dagegen spricht als dafür. Ansonsten aber müsste man fast alle Thesen aus einem sozialen oder politischen Zusammenhang verwerfen – denn eindeutig beweisen kann man sie nicht. Und eindeutig beweisen kann man gerade nach dem Falsifikationismus eh nichts (Allgemeingültiges) – auch nicht in den Naturwissenschaften. Was aber nach dem Falsifikationismus noch kein Grund ist, eine These zu verwerfen.

    Im Übrigen sind ähnliche Formulierungen oft auch in wissenschaftlichen Zusammenhängen zu finden (z.B. ‚…there is good evidence that…‘).

    @ Gereon, 5:

    „Ich halte es auch für keine gute Idee von Herrn Niggemeier, das Systemsymptom Relotius mit einem einzelnen stümperhaft abgefassten Artikel relativieren zu wollen.“

    Ich will da jetzt nicht lange drauf rumreiten, aber der Fehler, den Sie machen, ist so weit verbreitet, dass ich wenigstens kurz etwas dazu anmerken möchte:

    Wer ein bestimmtes Argument A, das für eine These T vorgebracht wird, kritisiert, muss die These T selbst nicht kritisieren. Er kann ihr gegenüber völlig neutral sein oder ihr sogar zustimmen.

    Man kann also beispielsweise durchaus der Meinung sein, dass es „systematische“ Probleme im Journalismus gibt, die mitverantwortlich für den Fall Relotius sind – und dennoch etwa das „Beispiel“, das Bauer zur Illustration von mängeln im Journalismus anführt, für ungeeignet oder irreführend halten.

    Tatsächlich hat Herr Niggemeier in anderen Artikeln ja selbst argumentiert, dass vermutlich auch bestimmte „systematische“ Faktoren im Journalismus den Fall Relotius begünstigt haben mögen. Zudem schreibt er hier zustimmend zu einer Aussage von Bauer:
    „Das ist richtig und sicher auch ein Problem vieler ‚Spiegel‘-Artikel.“

    Niggemeier kritisiert hier einfach nur, dass Bauer den Artikel über Palmer falsch darstellt.

  22. Durch Relotius bekommt das alte Motto „Spielgelleser wissen mehr.” einen neuen Sinn… „Glück Auf!“ für 2019

  23. Alles sehr sachlich und strukturiert von Herrn Niggemeier, er befürchtet keine persönlichen Nachteile oder Probleme mit ehemaligen Kollegen. Ich denke so fast jedes Medium wird Fälscher in ihren Reihen haben, Danke

  24. NIEMAND HAT BEHAUPTET, DER BEITRAG ÜBER DEN TÜBINGER OBERBÜRGERMEISTER STAMME VON CLAAS RELOTIUS
    Mein Gastkommentar in der WELT weist in Zeile 11 der Druckversion einen Sinn-entstellenden Fehler auf, der nicht durch mich zu verantworten ist. Mein der WELT eingereichter Text Text lautete an dieser Stelle: „Bizarr war etwa ein mit „Tabubruch“ überschriebener Beitrag…“. Bei der Drucklegung wurde aus dem Wörtchen „…ein…“ das Sinn-entstellende Wörtchen „…sein…“. Durch diesen von niemandem beabsichtigten Fehler wurde der falsche Eindruck hervogerufen , dass Claas Relotius den Beitrag über den Tübinger Oberbürgermeister geschrieben habe. Nachdem ich die WELT noch am 2. Januar sofort auf den (nicht durch mich zu verantwortenden) Fehler hingewiesen hatte, hat die Redaktion ihn in der Online-Version sofort korrigiert. In der Druckversion bleib der Fehler leider stehen. Der Fehler beruht auf einem reinen Versehen.

    Der Jubel der „uebermedien“-Redaktion, einen Flüchtigkeitsfehler entdeckt zu haben und diesen großspurig zu einem „gescheiterten Versuch“ zu erklären, „in der Welt für besseren Journalimus zu plädieren“, zeigt, wie Recht ich mit meinem Gastkommentar hatte.

    Joachim Bauer

  25. @Joachim Bauer #26

    Es gab den Fehler, darüber wurde berichtet. Dass der Fehler korrigiert wurde, dass wurde auch abgehandelt.
    Dass das nicht transparent geschah, dass ich für die springer-Presse auch typisch, was aber nicht Ihnen anzulasten sein mag.

    Aber uebermedien hat sich dann ja auch noch dem weiteren Inhalt Ihres Textes gewidmet, der nichts mit einem Flüchtigkeitsfehler zu tun hat, sondern sich auf den Inhalt bezieht.

    Und dass Sie dazu offenbar keine Erklärung abzugeben haben, scheint darauf hinzudeuten, dass Sie mit Ihrem Gastkommentar wohl doch weniger Recht hatten, als Sie sich selbst eingestehen wollen.

  26. Nachtrag zu #27

    Irgendwie habe ich auch ein Problem mit dem „s“!

    Immer wieder schleicht sich der dass-das Fehler bei mir ein.
    Ärgerlich. Sorry.

  27. „Wir brauchen kritischen Journalismus, der uns deutlich macht, woran unser System (noch) krankt, und der aufdeckt, wo unsere politischen Akteure Fehler machen, der aber nicht so weit geht, dass Menschen sich nach selbst ernannten populistischen Rettern sehnen müssen.“

    Danke, Herr Niggemeier (und Co.!), dass Sie dieser Forderung von Herrn Bauer schon proaktiv vor über einem Jahrzehnt nachgekommen sind und uns seitdem über selbsternannte Heilsbringer – z. B. in Kommentarspalten reichweitenstarker Medien – informieren!

  28. Herr Bauer, ebenso wie den Palmer-Artikel scheinen Sie auch den hiesigen Beitrag nicht in Gänze gelesen bzw. gedanklich erfasst zu haben. Sich trotzdem selbst zu attestieren, Sie hätten recht, passt in die gleiche Denke, die Sie eigentlich kritisieren wollen, oder?

  29. Herr Bauer, ich verstehe ja, dass Sie sich ärgern, dass der „Welt“ erst so ein blöder Fehler an der blödest möglichen Stelle passiert und sie ihn dann zunächt nicht einmal vernünftig transparent korrigiert. Aber deswegen müssen Sie doch uns nicht anschreien.

    Und haben Sie zum inhaltlichen Kern meiner Kritik wirklich gar nichts zu sagen? Dass Sie schlicht unrecht haben, wenn Sie behaupten, der Artikel liefere „keinen Beleg für einen Tabubruch durch Boris Palmer“? Dass Sie dem „Spiegel“-Artikel massiv unrecht tun, wenn Sie am ihn eine Debatte über Journalisten aufhängen, die politische Akteure „nur als inkompetent und lächerlich darstellen“ – wenn der „Spiegel“-Artikel Boris Palmer ausdrücklich als kompetenten, erfolgreichen und bei den Bürgern Tübingen beliebten Lokalpolitiker beschreibt? Dass Sie mit Ihrem Gastbeitrag genau das getan haben, was Sie in Ihrem Gastbeitrag kritisieren?

  30. Ich verstehe ja auch nicht, wieso Herr Bauer beim Spiegel in die Ferne schweifen muss mit der Kritik am Journalismus, wo doch der Springer-Verlag eine Reihe an exquisiten Autoren beschäftigt, bei denen jede Kritik mehr als angemessen wäre. Zu nennen wären da etwa Don Alphonso/Rainer Meier, (der erwähnte) Henryk M. Broder, F.J. Wagner oder Gunnar Schupelius. Allesamt Prachtexemplare, deren Haupttätigkeit in der Verächtlichmachung nicht strikt konservativer Politiker, auch gerne der dritten und vierten, Reihe besteht. Aber vermutlich will die Welt das mit dem besseren Journalismus dann doch nicht so genau nehmen.

  31. Das ist ein schönes weiteres Beispiel für den Effekt, den ich unter dem Artikel über die „Kultur des Geschichten-Erzählens“ im Kommentar #54 beschrieben habe.

    https://uebermedien.de/33962/der-spiegel-und-die-gefaehrliche-kultur-des-geschichten-erzaehlens/#comment-91293

    „Das wohl die Problematik, wenn Journalisten sich in Gedanken die Geschichte schon vollständig zusammengesponnen haben, und jetzt nur noch die Bestätigung durch die Realität haben möchten. […]

    Da hat eine Journalistin sich doch so schön überlegt, was sie schreiben will – so rein in ihrer blühenden Phantasie. Und dann ist die Realität plötzlich doch nicht so schlimm und aufregend, wie sie sich das in ihren Träumen ausgemalt hat, sondern total harmlos und banal.

    Offenbar gewinnt im Zweifel der (zumindest gedanklich) bereits ausformulierte Artikel gegenüber der im widersprechenden Realität.“

    Da hat Joachim Bauer sich so eine schöne Beschreibung überlegt, wie tendenziös der Spiegel berichtet – und dann hält diese Beschreibung der Realität gar nicht stand. Soll er deshalb seine schöne Beschreibung deshalb einfach verwerfen? Nein, sie wird natürlich trotzdem veröffentlicht.

  32. Ich komme nicht drauf, ich komme nicht drauf, von welchem Nachrichtenmagazin wechselte der schon immer unerträgliche Henryk M. Broder doch wieder zu Springer?

  33. Nach dem ersten Durchlesen fand ich den Welt-Text durchaus gelungen. Obwohl auf welt.de. Als ich dann Minuten später ihre Kritik las, wurde ich nachdenklich. Es zeigt mir wie oberflächlich ich vieles immer wieder konsumiere. Obwohl ich auch Kollege bin. Danke für solche Beiträge. Dafür unterstütze ich Übermedien gerne.

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