Wochenschau (35)

Porträt eines Porträt-Journalisten

Er müsse noch den letzten Zug nehmen, bläst den Rauch in den Regen: „Gehen wir ins Café Einstein?“ Es klingt wie ein szenischer Einstieg, aber der Laden ist eine dem Leser bekannte Referenz und heißt tatsächlich auch so.

Wenn der Porträt-Journalist im Café die Diktierfunktion seines iPhones anmacht, was er nicht immer, aber eigentlich gern tut, weil er wahrscheinlich momentan mehr in Cafés rumhängt als irgendwo sonst, dann kann es schon mal passieren, dass man die Klischees in seinen Porträts entdeckt. Ihm selbst ist daran nichts peinlich. Er blickt einen an, als seien Klischees in Porträts das Normalste auf der Welt. Sind sie auch. Der Porträt-Journalist schaut erst mich, die Leserin, dann die Stilblüten in seinem Text und schließlich wieder mich an. Sein Blick versucht mir zu verbieten, sie bemerkt zu haben. Und natürlich habe ich sie nicht bemerkt.

Der Porträt-Journalist sagt, er sei keiner, der sich auf schlichte Interviews einlassen könne, er habe keinen Spaß daran, seine Beobachtungen ganz ohne ferndiagnostische Bewertung auskommen zu lassen. Erst durch die Brille seiner Wahrnehmung entfalte sich das, was er für eine differenzierte Abbildung der Realität hält. Es ist eine nachdenkliche Mischung aus den vermuteten Vorurteilen der Leser gegenüber dem Porträtierten, die er mit pittoresken Alltags-Beschreibungen bestätigt. Dem fügt er, wie ein Impressionist der Worte, ein paar Tupfer gefühliger Interpretationen hinzu, welche die Erwartungen brechen und so dem Leser das Gefühl geben, etwas ganz Neues über den Porträtierten und über seine Vorurteile erfahren zu haben.

Zarte Hände

Der Porträt-Journalist zeigt mir, nicht ohne Stolz, einen Kommentar im Internet, der einen seiner Texte lobt: „Danke, ich habe durch die Beschreibung ihrer Traumata die Porträtierte nun viel besser verstanden und muss ihre Texte fortan nicht mehr hassen.“ Seine Journalisten-Hände streichen dabei zärtlich über die kalte, glatte Oberfläche seines Telefons. Zum ersten Mal geht eine Wärme von ihm aus, zum ers­ten Mal ahnt man, dass dieser Porträt-Journalist unter einem enormen Druck steht und dass er auch ganz anders sein kann. Nicht nur Chronist, sondern jemand, der sich danach sehnt, dass sein Text beim Leser etwas bewirkt. Seine Texte sollen unterhaltsam sein, aber nicht ausgedacht.

Zudem vereint der Porträt-Journalist in seiner Person ein paar interessante Widersprüche. Er spricht einerseits Menschen an, die an schnellen, faktischen Informationen über einen Menschen interessiert sind, und damit vielleicht jene Klientel, die die Printmedien an Wikipedia verloren haben. Andererseits kommt er nicht besonders nachrichtlich daher, benutzt ornamentale Beschreibungen, atmosphärische Prosaik, viel Raum für Interpretationen. Offenkundig will er gar nicht objektiv wirken. Vielleicht täuschen seine Haare eine grübelnde Ernsthaftigkeit auch nur vor.

Es gibt Porträt-Journalisten, die machen in ihren Porträts ein Geheimnis aus sich, keine persönlichen Kommentare, keine subjektive Einfärbung, der Schreibende als Reporter, Protokollant. Andere Porträt-Journalisten sind das Gegenteil: der Autor als offenes Buch, wertend, kommentierend, aber auch ein bisschen selbstverliebt und in unglücklichen Momenten berauscht von sich selbst.

Katzengold

Es ist eine Kunst, so zu porträtieren, dass ein Zauber in der Luft liegt. Man muss dafür kein Romanautor sein, aber der Ton, der muss stimmen. Es kommt darauf an, selbst im Lot zu bleiben und gleichzeitig den anderen nie ganz aus dem Blick zu verlieren. Eleganz und Beweglichkeit sind von Vorteil, außerdem das Talent, leicht zu wirken, auch wenn es kompliziert ist. Ein guter Porträt-Journalist kann mit Eloquenz und Augenmaß, Empathie und Deskriptionen glänzen – ein Traum für die Leser.

Es passt zum Porträtjournalisten, dass er eine Festanstellung anstrebt, man kann ihn sich gut in einer Kantine mit einem Plastiktablett in der Hand vorstellen. Der Porträtjournalist ist ein Alchemist der biographischen Schlüsselmomente. Mit zur Seite geneigtem Kopf und seinem hartnäckig gespitzten Bleistift erschafft er das Katzengold des Journalismus: Bedeutsamkeit. Bedeutsam werden alle profanen Alltäglichkeiten, im Nachhinein, indem er sie porträtiert. Er ist einer, der seinen Schreibtisch vor vielen Jahren verlassen hat, weil es ihm dort wahrscheinlich zu langweilig wurde. Man muss davon ausgehen, dass er es genießt, für seine Texte ordentlich bezahlt zu werden.

„Für mich ist der Porträt-Journalist beides auf einmal“, sagt eine Person, die den Porträt-Journalisten kennt, „ein genauer Beobachter und ein gefälliger Belletrist.“ Andere, auch Journalisten, sagen, der Porträt-Journalist verfestige die postfaktischen Storytelling-Schwächen modernen Journalismus, beschreibe zu wenig und empfinde zu viel. „Ich halte das Mittel der Übertreibung für falsch“, sagt die Publizistin Thea Dorn.

Wie im Film

Beim Porträt-Journalisten wirkt es bisweilen, als wäre ihm gar nicht richtig bewusst, welchen Einfluss er auf das Außenbild einer porträtierten Person und die Deutungshoheit über sie nimmt. Aber das mag täuschen. Vielleicht ist der Porträt-Journalist zu sehr Homo Narrans, Geschichtenerzähler sind wir ja alle.

Der Literaturprofessor John Niles erklärte mir mal, dass Geschichten zu erzählen und das In-Geschichten-Denken Grundmerkmal und Grundbedürfnis des Menschen seien. Die Erzählung ordnet den Menschen in der Welt für sich ein und konstituiert sein Verhältnis zu ihr.

Aber damit aus einer Reihe Beschreibungen auch die Erzählung einer Person werden kann, inszeniert der Porträtautor die Momente wie Szenen, die filmisch Sinn zueinander ergeben, auch wenn die Realität eher wie eine Arbeit von Samuel Beckett oder Harold Pinter aussieht. In der biografischen Nacherzählung wird ein Beitrag zur Gestaltung eines Lebens tendenziell übertrieben, während die Rollen von Zufall und Unfall heruntergespielt werden. Ist der Porträt-Journalist vielleicht nur deshalb Journalist geworden, weil er seine erste Freundin beim Fußballspielen kennenlernte? Inkonsistenzen und Brüche werden wahlweise verrationalisiert, um ein stimmiges Bild zu schaffen. Oder aber überbetont, um als differenzierte Betrachtung zu gelten. Ein willkürliches Leben ergibt durch die Exegese des Porträtjournalisten einen fiktionalen Sinn.

Ich stelle meine Tasse mit dem Kaffeesatz weg, und während die halbe Presselandschaft darüber rätselt, was sie aus Relotius lernen kann und wie sie die Überhöhung situativer Umstände zur Bereicherung von Reportagen vermeiden kann, schauen wir noch um kurz vor 23 Uhr in der McDonald’s-Filiale im S-Bahnhof Friedrichstraße für einen menschelnden Moment vorbei. Das soll der Abschluss für das Porträt werden.

Pommes rot-weiß

„Wird geil“, sagt der Porträt-Journalist über sein nächstes Porträt, während er die grellen Menütafeln studiert, als wüsste er nicht schon längst, was er gleich nehmen würde, um für das Porträt nahbar zu wirken. Und für einen Moment wirkt es tatsächlich, als gäbe es nichts Wichtigeres für ihn als seine Sicht der Dinge.

Wenn man sich fragt, wer eigentlich davon profitiert, dass unsere Gesellschaft in zahllose Milieus zersplittert ist, von denen jedes versucht, die größtmögliche Diskriminierung für sich zu beanspruchen, wer sich fragt, wer was davon hat, dass sich im Netz alle gegenseitig beschimpfen, beleidigen, bedrohen, die SUV- und die Radfahrer, die Veganer und die Fleischesser, die unzufriedenen Frauen und die selbstzufriedenen Männer, landet man schnell bei Pommes. Ihre rot-weiße Schranke ging auf, als die Dinge anfingen, unübersichtlich zu werden; ihr Bratenfett wurde zur Verheißung, als wir aufhörten, uns zu streiten, und begannen, uns mit Essensfotos glücklich- und fertigzumachen.

„Ich bin mir nicht sicher“, sagt ein Kolumnisten-Kollege, der den Porträt-Journalisten flüchtig kennt, „ich würde mich gerne durch eine küchenpsychologische Aussage als langjährigen Weggefährten profilieren, aber wir kennen uns ehrlich gesagt nicht wirklich. Ich glaube aber, er isst immer Pommes in der Kantine.“

Und in der Tat, hier im McDonald’s, als ginge es ihm darum, eine gelebte Daseinsbejahung zu mimen, isst er, mit weichem, wachem Blick eine Portion Pommes. Man ist versucht zu sagen: wie ein ganz normaler Mensch. Aber auch Pep Guardiola aß vor ein paar Jahren katalanische Pommes. Sie sind der fettige Gandhi unter den Nahrungsmitteln. Ihre Unangreifbarkeit vereint Porträtierte, Journalisten und Leser hinweg über Status, Geschlecht, Religionen und Laktoseintoleranz. Ob sie sich ihrer Verantwortung bewusst sind?

15 Kommentare

  1. „Seine Journalisten-Hände streichen dabei zärtlich über die kalte, glatte Oberfläche seines Telefons.“

    Ich kann leider den Rest nicht lesen – aber gewisse parodistische Elemente, oder wie verstehe ich dies?

  2. Herr Niggemeier: Danke, darauf habe ich gehofft!
    (nur, hätte ich ein Abo abgeschlossen, und es wäre dann tatsächlich „zufällig“ genau der angeprangerte Stil, wäre das etwa so peinlich wie der letzte Gastbeitrag von Frau Bonath auf KenFM, jedenfalls voll ärgerlich dann auch noch Geld ausgegeben zu haben..)

  3. Herr Niggemeier, stimmt.
    Aber gleichsam gibt es auf KenFM auch außergewöhnlich gute Beiträge, insbesondere Interviews. Und auch auf Übermedien habe ich schon .. naja, sagen wir mal mittel-Intelligentes/-Informiertes gelesen…

  4. …jaja, die BILD hat den besten Sportteil, EpochTime tolle Kreuzworträtsel und Erika Steinbach die knuddeligsten Katzenbilder.

  5. Als ich diesen Text von Samira El Ouassil zum ersten Mal gelesen habe, dachte ich, was soll diese umständliche und langweilige Drum-herum-Gerede? Dank eines Google Alerts bin ich jetzt auf die Lösung gestoßen, die sich vielleicht nicht jeden sofort erschließt. Quelle: https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-1016.html
    Zitat
    Samira El Ouassil reagiert bei Übermedien (€) auf Haberls Text, indem sie ihn satirisch mit dessen Waffen schlägt, sie verwertet die zahlreichen zur Persiflage einladenden Vorlagen in dem Artikel und macht daraus dann ein Porträt des “Porträtjournalisten“
    Zitatende
    Den Haberlschen Text brauche ich hier wohl nicht zu verlinken; interessant könnte es aber sein, zu fragen, warum SPIEGEL-Mitarbeiter ihn sehr unterschiedlich bewerten.

  6. Mal ganz grundsätzlich: vielen Dank für die Verpflichtung von Samira El Ouassil bzw. Dank an sie selbst für diese Kolumne, mir wären die tollen Texte anfangs fast durch die Lappen gegangen, weil ich die Gattung Kolumne oft nur so naja finde, aber die Texte sind ja viel mehr, so fundiert und geistreich, ein großer Gewinn für die Seite!

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