„Stern“-Frühlingserwachen: Und es brummt der Schädel
Nach der Lektüre der aktuellen Titelgeschichte würde man die Leute vom „Stern“ am liebsten kurz an die frische Luft schicken. Bisschen atmen. Bisschen beruhigen. Bisschen nachdenken über gute Titelgeschichten.
Blöd nur, dass sie genau dort schon waren. Jedenfalls einer von ihnen.
„Endlich wieder raus!“, ist die Geschichte überschrieben, Untertitel: „Mehr Licht, mehr Luft, mehr Grün: Warum die Natur gerade jetzt unsere Seele streichelt“. Dazu das langweiligste Foto aller Zeiten: ein See, viel Grün, und am Ufer sitzt ein mittelaltes Pärchen. Nein, nicht nackt. Sinnierend.
Breaking News: Es wird Frühling! Mitten im Frühling!
Eigentlich vermelden Journalistinnen und Journalisten ja Neuigkeiten, Unerwartetes. Das ist ihre zentrale Aufgabe, weil: Hund beißt Mann interessiert keine Sau – Mann beißt Hund hingegen alle Welt. Die Breaking News im „Stern“ dieser Woche ist, ganz überraschend: Es wird Frühling! Mitten im Frühling!
Allein der Teaser: ein Gedicht! Was hier allerdings kein Kompliment ist.
„Bald wird die Wiese wieder brummen. Werden Bienen summen und Hummeln säuseln. Knospen springen und Blüten blühn, was ist das Leben schön. Nach trüben Tagen freuen wir uns auf Ostern, das Fest des Frühlings. (…) Wohlan und raus mit euch, an die frische Luft, aus der Welt Getümmel ins satte Grün. Die Wälder warten, und auch die Vöglein sind schon da, Amsel, Drossel und der Specht. Er pocht auf eine neue Zeit.“
Tirili, tirila, der Stil ist gesetzt, und genau so geht es weiter:
„Jetzt ist die Zeit. Das Wunder der Schöpfung wiederholt sich aufs Neue, der Vorhang lichtet sich für ein Feuerwerk des Lebens.“
„Und unser Körper, träge geworden über die dunklen Wochen und wintermüde, will sich recken und teilhaben an jenem Zauber, der jedem Anfang innewohnt. Verwandeln wollen wir uns, in linden Lüften und frischem Duft.“
„Was weit weg war, findet jetzt wieder Heimat. Lebenslust, alles.“
Ich erwähne es nur ungern: Aber wir sind erst in Absatz zwei der großen Geschichte. Die Zwischenüberschrift „Ach du grüne Neune“ kommt erst noch, weil sie beim „Stern“ kein Klischee, keine Floskel und auch kein schon hunderttausendmal zitiertes Hermann-Hesse-Gedicht ausgelassen haben, um sich vor dem Frühling dankbar in die brummende Wiese zu werfen. Aber das ist nicht das einzige Problem dieser Geschichte.
Geschrieben hat sie Uli Hauser, langjähriger „Stern“-Redakteur, Mitgründer des Nazi-Aussteigerprogramms „Exit“ und, unter anderem: Theodor-Wolff-Preisträger. Sprachlich zieht er gerne alle Register, die seit den erfundenen Reportagen von Claas Relotius in der Kritik stehen. Eigentlich ist Hauser Dichter – auch wenn es hier nur um Frühling geht, und nicht, wie bei Relotius, um verzerrt dargestellte Trump-Wähler und Holocaust-Überlebende. Aber in Sachen Schönschreiberei besteht eine gewisse Ähnlichkeit.
Selbst in einem ein Spendenaufruf für die Opfer des Zyklon Idai in Mosambik winkt Hölderlin mahnend aus Hausers Zeilen: „Der Wind kam vom Meer, mit einer Geschwindigkeit von wohl 160 Kilometer in der Stunde. Und fegte hinweg, was war. Tausende Tote, über zwei Millionen obdachlos, die meisten von ihnen Kinder. Kein Essen, kein Strom, keine Hoffnung. Sie wissen nicht, wie es weitergeht, weitergehen kann. Und warten so sehnlich auf Hilfe.“
Dann versuchen wir es mal mit Poesie!
Journalismus sollte nicht Literatur sein wollen, das wurde seit dem Fall Relotius nun oft beteuert. Aber, hey, wenn der Lenz da ist, kann man ja noch mal was wagen. Die Antwort des „Stern“: Versuchen wir es mal mit Poesie!
Für seinen allzu lyrischen Text ist Hauser durch deutsche Wälder gewandert, er hat Menschen getroffen und dazu frei assoziiert. Wenn er mitteilen möchte, dass moderne Menschen zu viel sitzen, schreibt er beispielsweise:
„Raus-Zeit, endlich. Und jetzt: Steh auf. Und geh. Der Muskel, der uns dabei helfen könnte, den sitzen wir die längste Zeit platt. Der Gluteus maximus, klingt wie der letzte große Dinosaurier, lebt aber noch, da am Gesäß, und langweilt sich.“
Das System natürliches Frühlingserwachens klingt bei ihm so:
„In Wurzelstöcken oder Knollen gespeicherte Energie gibt den Frühblühern Kraft, rasch zu sprießen. Und wo Pflanzen, da Insekten, wo Insekten, da Vögel. Das Spiel kann neu beginnen, und das Leben nimmt seinen Lauf.“
Auch der „Stern“ kämpft mit sinkender Auflage, und seit das Magazin Anfang des Jahres mit Anna-Beeke Gretemeier und Florian Gless neue Chefredakteure bekam, landen immer wieder eher gefühlige Themen auf dem Titel.
Ende Februar wurde die Frage geklärt: „Wie geht gut?“ (Auflösung: Den Kaffee mal nicht im To-Go-Becher mitnehmen und Ökostrom abonnieren). Im März ging es um „Die Kraft der Affäre“ , mit der bahnbrechenden Erkenntnis:
„,Eine Beziehung ist wie ein Rohdiamant. Wenn man ihn schleift, kann ein Brillant daraus werden‘, sagt Ilka Hoffmann-Bisinger, die in Berlin das psychologische Fortbildungsinstitut „iska-berlin“ leitet (…). Manchmal jedoch hält der Brillant dem Schleifen nicht Stand und zerspringt. Das große funkelnde Projekt hat sich dann als Flop erwiesen – aus den Einzelteilen aber kann durchaus noch etwas Funkelndes werden.“
So viel aus der Vergleichs- und Metaphernhölle.
Zwei Wochen später folgte: „Mutter, Mama, Mami: Wie die Beziehung zur wichtigsten Frau in unserem Leben gelingt“. (Fazit: Es ist kompliziert, und Mütter sind auch Menschen.)
„Neon“ lebt nun im „Stern“ weiter
Mit „Neon“ hat Gruner+Jahr sein Fachmagazin für viel Gefühl, aber begrenzten Erkenntnisgewinn vorigen Sommer eingestellt. Der „Stern“ scheint dessen Geist nun, zumindest teilweise, zu übernehmen. Obwohl: Dass „Stern“-Leserinnen und Leser aus den mehr als 16.000 Zeichen seines Frühlings-Barden Hauser gar nichts lernen, stimmt auch nicht. Oder wussten Sie das hier schon:
- In Weißenbach beim Hohen Meißner, wo auch immer das sein mag, gibt es einen Bauern namens Matthias Pflüger, der gerade Blumen und Kräuter ausgesät hat.
- Wer mit Biologe Michael Succow durch die Natur zieht, hat schnell das Gefühl, im Bio-Unterricht nicht genug aufgepasst zu haben. (Was genau einem entgangen ist, wird aber nicht gesagt.)
- Japaner schicken kranke Menschen gerne zur „Forest Therapy“ in den Wald. Das beruhigt, löst Verdauungsprobleme und aktiviert Hirnregionen, die für Vorstellungsvermögen und selbstbezogenes Denken verantwortlich sind. Das muss man sich mal vorstellen.
- Birkensaft hilft gegen Gallenleiden und Gicht.
- Naturführerin Maria Salomé Hoffmann kocht gerne am Lagerfeuer Kräutersuppe.
- Im Hunsrück ist schön Wandern. Und auf einem ehemaligen Truppenübungsgelände bei Münsingen auf der Schwäbischen Alb auch.
Verschwiegen werden darf auch nicht der Serviceteil zum Titelthema: Da berichtet Fernsehmoderatorin Bettina Böttinger, dass nun Zeit ist, die Gartenmöbel abzuspritzen; Schauspieler Jürgen Vogel radelt mit dem E-Bike an einen See oder fährt Auto ans Meer; und der Musiker Dendemann schnappt frische Luft, wenn er Altglas entsorgt. Mal eben so. Verrückt.
Außerdem: ein Interview mit Förster und Autor Peter Wohlleben, das sich mit dem Zitat „Die Kombination aus frischer Luft, hellem Licht, Wärme, grüner Farbe – das ist das perfekte Wohlfühlpaket“ ganz gut zusammenfassen lässt. (Heute erscheint übrigens, so ein Zufall, die erste Ausgabe des neuen Personality-Magazins „Wohllebens Welt“, auch aus dem Hause Gruner+Jahr, wie den „Stern“). Ach ja, und: Allergiker sollten alarmiert sein! Der Frühling ist Pollenzeit. Falls Sie es noch nicht wussten.
„Die Luft ist blau, das Tal ist grün“
Uli Hauser schließt seinen Text inspiriert und musikalisch, wie sollte es anders sein:
„Und singen sollten wir auch, ein Einfall nur für ein neues Lied, die erste Zeile irgendwo in den Kopf gekrochen auf einem dieser herrlichen Wege (…). Das Lied fängt so an: Die Luft ist blau, das Tal ist grün, drum lasst uns in den Frühling ziehn. Und dann: wird die Wiese brummen.“
Herrlich. Hätte Hauser nach dem Umarmen diverser Bäume sein Smartphone gezückt, hätte er vielleicht gemerkt, dass der Anfang seines Liedes, der ihm irgendwo „in den Kopf gekrochen“ ist, gar nicht so neu ist. Aber, ach, dieser Frühling macht einen auch ganz wuschig, und wenn nach dieser „Stern“-Titelgeschichte irgendwas brummt, dann ist es mein Schädel.
Überraschend ist für mich folgender Kommentar des Waldexperten (und künftigen Zeitschriftenpaten bei G+J) Ralf Wohlleben: „Etwa im Tiergarten in Berlin, der sich über Jahrhunderte einigermaßen unversehrt gehalten hat.“
Ihm (und den Faktcheckern des stern) scheint entgangen zu sein, dass es dem Tiergarten an Jahrhunderte alten Bäumen fehlt. Eine Folge des zum Glück nicht annähernd Tausendjährig gewordenen Reiches: https://www.berliner-zeitung.de/berlin/berlin-in-historischen-aufnahmen-als-der-tiergarten-noch-eine-baumlose-brache-war-28256844
Jürgen Vogel und e-Bikes, da klingelte doch irgendwas bei mir … https://uebermedien.de/27473/fahrrad-magazin-karl-hat-einen-werbe-vogel/
Die Schwäbische Alb schreibt sich übrigens mit b hinten.
Ups. Danke, ist verbessert!
Och,lasst sie doch spielen mit Worten und der Poesie!
Nächstes Jahr wird diese Ausgabe als Innovationsmotor der darbenden Printmedien gelten…
Demnächst ne ordentliche Spiegelversion der gegenwärtigen Shakespear`schen oder Got`schen Ausmasse der Politik!
„Winter is coming.“
Korrektur zu meinem Kommentar: Ein freundlicher Stern-Redakteur hat mich darauf hingewiesen, dass seine Zeitschrift den Förster Peter Wohlleben interviewt hat und natürlich nicht den Nazi Ralf Wohlleben. Danke! Und: Entschuldigung.
Lieber Werner Hinzpeter,
genau. Der Peter, und nicht der Ralf Wohlleben, ist Förster und Buchautor u.a. zum Thema „Leben in der Natur“ und bezieht sich hier einmal nicht auf die wechselvolle Geschichte des Berliner Tiergartens, sondern auf die Tatsache, dass dieser Ort durch die Jahrhunderte hindurch fast durchgehend eine grüne Lunge gewesen ist, wo der Städter Erholung finden konnte und noch immer kann, ob nun in Gesellschaft alter oder junger Bäume. Den Kontext bitte mitberücksichtigen. Und Grüße aus der Dokumentation.
Liebe Kollegin,
vielleicht lassen wir auch diejenigen mitlesen und sich eine eigene Meinung bilden, die den Kontext der Veröffentlichung nicht kennen:
Frage des stern: „Wo finden wir Natur in ihrer ursprünglichen Form?“
Antwort Peter Wohlleben: „In Kulturlandschaften vor allem auf einer Wiese mit möglichst verschiedenen Blumen – je artenreicher desto besser. Wir können aber auch in einen Stadtpark gehen, uns unter einen Baum legen und ausspannen, etwa im Tiergarten in Berlin, der sich über die Jahrhunderte nahezu unversehrt gehalten hat.“
Die Aussage, dass der Tiergarten seit Jahrhunderten eine grüne Lunge war, enthält weder diese Antwort Wohllebens noch die davor oder die danach. Im Tiergarten waren nach dem Krieg von 20.000 Bäumen noch etwa 700 übrig. Die Beschreibung „nahezu unversehrt“ wäre entbehrlich gewesen und ist hier m.E. so angebracht wie sie in 20 Jahren in einem Porträt über Notre Dame wäre. Oder in einem Porträt die Behauptung, dass dass der Körper eines Menschen, der eine Herz-Lungen-Transplantation hinter sich hat, lebenslang nahezu problemlos funktioniert hat.
Freundliche Grüße von einem, dem die stern-Dokumentation 17 Berufsjahre lang effektiv dabei geholfen hat, nahezu fehlerfreie Beiträge zu veröffentlichen.
Er schrieb aber: „Einigermaßen unversehrt“, nicht „nahezu“. Und im Gesamtkontext schien es uns ausreichend klar, dass es um den grünen Ort mitten in Berlin ging, der den Städtern eine lange Epoche hindurch Regeneration bot und bietet. Da es hier zudem nicht speziell um die Historie des Tiergartens ging, sondern um den Blickwinkel „Frühling und seine Wirkung“ ,schien es uns ausreichend, dass Herr Wohlleben mit dem relativierenden Wort „einigermaßen“ seiner Sichtweise Ausdruck verleiht. „Entgangen“ , wie Sie schreiben, ist uns dieser Punkt jedenfalls nicht.
Okay. Ich lerne zweierlei. Erstens: Ich sollte nicht, wie hier, spät am Abend öffentlich Meinungstexte posten, die ich nicht zumindest noch einmal Wort für Wort verifiziert habe. Zweitens: Wenn ich über Textpassagen stolpere, die ich auch nach mehrmaliger Lektüre ohne bösen Willen als echten Fehler verstehe, dann können andere Textprofis sie durchaus als geglückt und durchdacht wahrnehmen.