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Menschen essen leider keine Spinnen

Das Kindermagazin „Leo“ will mit festem Griff aus dem Zeitungsständer gehoben werden. Sonst würde allerhand Plunder aus der Mitte purzeln. So viele Beileger gibt es sonst nur in der „Cosmopolitan“, aber im Kindermagazin der „Zeit“ ist es keine Tagescremeprobe: Stattdessen gibt es eine Abo-Karte, eine dicke Rabatt-Karte von „mini Boden“, dem Akademikerkinder-Ausstatter, und einen 28-seitigen Ostsee-Prospekt der dänischen Tourismuszentrale. Dazu noch ein 16-seitiges Extraheft für die mitlesenden Eltern.

Kindermagazin "Leo" Titelseite

Der Umschlag von „Leo“ ist auf mattgestrichenem Papier gedruckt, der Innenteil auf offenporigem Naturpapier mit robustem Griff. Die knalligen Farben stehen satt auf dem gebrochenen Weiß, und das Layoutraster des Magazins hat nur vier markante Hilfslinien – den oberen, unteren, linken und rechten Rand der Seiten.

Womit es auch schon inhaltlich wird. Denn trotz der vielen Gestaltungselemente ist „Leo“ sehr gut lesbar. Die Breite der Textspalten richtet sich an unterschiedliche Lesealter: Kurze Texte für jüngere Kinder sind schmal genug gesetzt, um dem Auge einen besseren Anschluss an den nächsten Zeilenanfang zu geben; bei einem längeren Lesestück dürfen es auch ein paar Buchstaben mehr sein pro Zeile.

Die Sprache von „Leo“ ist aktiv, die Sätze kurz und unverschachtelt. Relativsätze, Konjunktive und Einschübe, die – das sieht man an diesem Satz ganz gut – nur den Lesefluss stören würden, sucht man vergeblich. Mit wörtlicher Rede werden im Text die Beispiele lebendig. Zwischendurch verstärken rhetorische Fragen einzelne Aussagen, und offene Fragen regen zum Nachdenken an. Was für Kinder geschrieben wurde, macht in seiner kraftvollen Art auch Erwachsenen Spaß. Der Sound ist weder doof, noch onkelhaft, und die Texte verzichten auf Ironie, um sich nicht unnötig in doppelten Botschaften zu verheddern.

Kindermagazin "Leo"

Die Titelgeschichte „Kein Stress mit den Eltern“ widmet sich den Konflikten, die zwischen Kindern und Eltern zwangsläufig und seit dem Pleistozän auftauchen. Am Rand der Bildstrecke werden die Kinder- und Elternsicht typischer Streitsituationen gleichberechtigt nebeneinander gestellt – beide Seiten haben Argumente für ihre Positionen, und die gut austarierte wörtliche Rede erzeugt nicht von vornherein eine sprachliche Fallhöhe zwischen Erwachsenen und Kindern.

Gewertet wird nichts, das Ergebnis ist im Idealfall ein Denkanstoß oder eine Argumentationshilfe für den nächsten Krach. Der Text von Sarah Schaschek sagt nicht windelweich „Versteh doch auch mal Deine Eltern, die meinen es doch nur gut!“, sondern zeigt Freiräume auf und regt an, Dinge anzusprechen. Schöner Schlusssatz: „Wenn man viel miteinander redet, kriegen Eltern mit, was ihren Kindern wichtig ist. Man könnte auch sagen: Sie wachsen dann mit einem mit.“

Es gibt eine gut geschriebene Reportage des Indien-Korrespondenten der „Zeit“, Jan Roß, der den elfjährigen Suraj durch seinen Alltag an einer besonderen Schule begleitet: Ein indischer Ladenbesitzer wurde zum Gründer und Rektor einer Schule mit freiwilligen Lehrkräften. Seine „Schule unter der Brücke“ unterrichtet die Kinder, deren Eltern nicht genug Geld für eine der teuren Eliteschulen haben, aber auch das schlechte Niveau der staatlichen Schulen nicht hinnehmen wollen.

Kindermagazin "Leo" Reportage

„Leo“ untersucht den Zustand des Verliebtseins, fragt sich, was hinter dem Wunsch steckt, als schön wahrgenommen zu werden, und der Kinderbuch-Autor Hartmut El Kurdi erklärt, warum Erwachsene immer so ernst sind. Für die „Stimmt’s“-Frage ist, wie in der erwachsenen und ernsten „Zeit“, der Autor Christoph Drösser zuständig – und er sorgte für meine erste große Enttäuschung in diesem Heft.

Das liegt weniger am Text selbst, als an der Entzauberung des urbanen Mythos, jeder Mensch würde im Laufe seines Lebens sieben bis zehn Spinnen im Schlaf essen. Drösser zählt sachlich all die Gründe auf, die dafür sorgen, dass wir nachts keine Gliederfüßer verzehren. Man hätte es sich in seinem Wunsch nach Sensationen vielleicht anders gewünscht, aber „Leo“ verzichtet seriös auf die gute Story und bleibt bei der Wahrheit.

Zum Ausgleich darf Christoph Drösser dann allerdings über Fiktion schreiben. Beziehungsweise darüber, wie Fiktion entsteht. Am Beispiel von „Zoomania“ beschreibt er, wie genau die Bewegungsabläufe des Hasen Judy beobachtet wurden, um in der Animation so hakenschlagend echt auf die Leinwand zu kommen. Samt der Spezialabteilung in Hollywood, die allein für das dabei wehende Haar zuständig ist.

Kindermagazin "Leo"

In „Leo“ gibt es natürlich auch Rubriken, die in keinem Kindermagazin fehlen dürfen – etwa die Bastelanleitung einer einfachen Codiermaschine aus Pappe oder eine vorösterliche Biologiestrecke der unterschiedlichen Ei-Ablage-Varianten im Tierreich. Besonderes Highlight ist die Geburtshelferkröte. Hier trägt das männliche Tier eine Art Perlenkette aus Eiern an den Beinen. Das sieht herrlich skurril aus. Und diese Welt ist zum Glück auch verrückt, ohne dass jemand im Schlaf Spinnen verzehren müsste.

Was „Leo“ besonders macht, ist die Art und Weise, wie die Zielgruppe ernst genommen wird. Wenn vier Kinder zwischen zehn und elf aktuelle Bücher rezensieren, dann sind das keine Jubelarien, und die Kritik ist handfest: „Zwischendurch war ich allerdings verwirrt, denn in einem Kapitel habe ich ein paar Sachen nicht verstanden. Und auf Seite 101 gibt es einen Tippfehler.“ Oder: „Witzig fand ich die Kommentare zum Blog. Die Leute, die da schreiben, sind etwas nervig. Das kenne ich von den Kommentaren auf YouTube.“

Die Chefredakteurin von „Leo“, Inge Kutter, hat mit „Überall schlimme Nachrichten?“ einen langen Text geschrieben, der einfühlsam darüber spricht, warum Kindern (und Erwachsenen) die Nachrichten dieser Tage Angst machen. Sie setzt Dinge ins Verhältnis, relativiert dabei nicht und spricht aus, wie aus Meldungen entstehen und warum manches, was weiter weg ist, trotz seiner größeren Tragweite bei uns weniger prominent erscheint.

Auch wenn es naiv erscheint – ihr Beispiel einer Nachrichtensendung, die niemals mit den Worten: „Heute war ein guter Tag. In Deutschland ist alles friedlich geblieben, außerdem hat die Sonne geschienen“ beginnen könne, weil Journalisten dringend Neuigkeiten brauchen, ist leider sehr wahr.

ZEIT LEO 4/2016
84 Seiten, 4,90 Euro
Zeitverlag Hamburg

5 Kommentare

  1. Da wird man fast traurig, dass dieser Artikel erst jetzt erscheint…. und der eigene Sohn schon 19 Jahre alt ist.

  2. Das ist richtig, richtig schön und ich bin gerade betrübt, selbst zu alt zu sein und keine Kinder im Umfeld verfügbar zu haben, mit denen ich das mal durchblättern könnte.
    Hübsch gemacht und klug, das sieht man leider zu selten.

  3. Hm, nun, liebe Alte, ich hab erst letztens wieder ein Lustiges Taschenbuch zur Hand genommen, obwohl ich schon viel älter als 19 bin und erfreute mich daran. Also was soll das Lamentieren? Herr Breuer hat sich das Ding doch auch angesehen und fand Vergnügen daran. Was ist das für eine seltsame Ich-Grenze, Selbstzensur, vorauseilende Selbstdiziplinierung oder doch nur Melancholie?

  4. @3.: Bei mir liegt es hauptsächlich daran, dass mir das Heft zwar sicher Vergnügen bringen würde, aber was mich wirklich interessiert, ist die Reaktion und Meinung eines Kinds, das ich kenne, wenn man das Heft mit ihm zusammen durchgeht.

    @4.: Eventuell hätte es ja geholfen, den Artikel ganz zu lesen, um festzustellen, dass genau dieser Mythos im Heft widerlegt wird.

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