Wochenschau (11)

Rest in Facebook-Post

Öffentliches Trauern sieht ja meistens so aus: Eine dunkle Masse gesenkter Köpfe, die mit gravitätischer Diktion in Zimmerlautstärke ihr Bedauern ausspricht, läuft hinter einem Sarg her. Eine wagnerianische Betroffenheit verknüpft alle Leidenden zu einem sachlichen Trauerkranz kollektiver Affektkontrolle. Und irgendwo rollt eine Träne eine Frauenwange hinunter.

Online jedoch fehlt bisher die Erfahrung einer rituellen Folklore, die das Protokoll des Trauerns für die Beteiligten handhabbar machen könnte, weshalb der brutale Beschnitt durch das Sterben immer mit der Alltäglichkeit vertrauter und daher profaner Mediennutzungsriten kollidieren muss.

So wird die unbeholfene Hand auf der Schulter der Witwe zum Herz-Piktogramm unter einem Trauer-Post; irgendwer macht schnell noch ein Beerdigungs-Selfie; und das inflationär gebrauchte „RIP“ spiegelt in seiner Verknappung die SMS-Kommunikation, die man sowohl mit Menschen pflegt, die einem sehr nahe stehen, als auch mit Menschen, die einem egal sind.

Online, wo das Schriftliche eine Renaissance hat und die Unmittelbarkeit eines humanen Ausdrucks fehlt, tun die Menschen das, was in der Linguistik als das Bezeichnen eines Sprechaktes beschrieben wird. Sie formulieren nicht die Trauer, sondern paraphrasieren sie mit deren emotionaler Konsequenz: „Ich bin geschockt“, „Ich bin fassungslos“, „Ich bin betroffen“ – oder online mit ? ? ?. Und „RIP“ ist das Artefakt bezeichneter Anteilnahme einer kommunikativen Situation, die noch keine Parameter hat, wie richtig getrauert werden darf. Weshalb alle immer finden, alle machen es immer irgendwie falsch.

(Hier möchte ich in meiner unendlichen Kolumnistinnen-Hybris erst einmal eine generelle Absolution erteilen: Alle machen nichts falsch! Es gibt kein falsches Trauern im digitalen Leben. Traurig sind allein die Kommentatoren, die sich post mortem über das Leben eines Verstorbenen auskotzen oder über die Gründe eines Suizids spekulieren. Das sind einfach nur Arschlöcher. So.)

Kollektive Trauer: Stan Lee, Malle-Jens und die „Lindenstraße“

Vergangene Woche gab es gleich drei Momente kollektiver Traurigkeit, die viel über das öffentliche Traurigsein aussagen, und obwohl die Gründe dafür unterschiedlich waren, ähnelte sich die digitale Trauerarbeit. Viele Menschen kommentierten den Tod der Comic-Legende Stan Lee, den Tod des Reality-TV-Stars und fleißigsten Mallorca-Auswanderers Jens Büchner, genannt „Malle-Jens“, und die angekündigte Einstellung der ARD-Serie „Lindenstraße“.

Ohne das Ende eines fiktionalen Werkes mit dem Tod eines Menschen gleichsetzen zu wollen, hat das Aus der „Lindenstraße“ viele Zuschauer ähnlich erschüttert, wie etliche Abschieds-Postings vermittelten. In jahrelanger parasozialer Interaktion haben Fans eine Verbindung zu den Figuren und Schauspielern aufgebaut, eine Beziehung, die so intensiv und so liebevoll sein kann, dass das Serienende dem Tod eines gemochten Menschen mindestens ähnelt.

Egal über wen oder was getrauert wird, an erster Stelle steht immer das Bedürfnis, seine Empfindung öffentlich zu teilen: als Posting auf Facebook oder als Tweet. Die externalisierte Empfindsamkeit, das kuratierte Dauer-Morsen des eigenen Befindens, ist Teil sozialnetzwerklicher Interaktion und mittlerweile Usus. Ebenso ist der Tod alltäglicher Teil unserer Wirklichkeiten, weshalb sich eine Verflechtung dieser beiden Sphären nicht vermeiden lässt.

Man diskutiert hingebungsvoll über Politik, Sport oder Kultur, und dabei ergibt es sich zwingend, dass auch über das Ableben von Menschen gesprochen wird, über die man gerade noch stritt. Trotzdem haftet dem digitalen Raum stets der Vorwurf mangelnder Redlichkeit an in Bezug auf den Umgang mit dem Tod. Spätestens seitdem Youtuber wie Logan Paul es hingekriegt haben, dass professionelles Vloggen auf ewig auch mit dem Filmen toter Körper für möglichst viele Klicks assoziiert sein wird, scheint das nicht ganz abwegig.

Das Beerdigungs-Selfie als Ausdruck tiefster Hilflosigkeit

Ein Phänomen, das als falsches Trauern im Internet empfunden und vor allem den Millennials und heutigen Teenagern angelastet wird, ist das Beerdigungs-Selfie. Das Selbstporträt vor dem Sarg der toten Oma oder lediglich auf der Trauerfeier riecht beim Betrachten geradezu nach Schwefel, so sehr gilt es als blasphemisch und unflätig. Es ist eine Grenzüberschreitung.

Runtergebrochen ist das Beerdigungs-Selfie natürlich auf komplett idiotische Art unbeholfen, wie das Fotografieren von Toten generell und sowieso spätestens seit Susan Sontag. Aus Sicht des Überforderten aber ist es der wohl naheliegendste Umgang mit einer verstörenden Situation. Das Selfie ist die fotografische Übersetzung des Impuls-Kicherns auf Beisetzungen – Ausdruck tiefster Hilflosigkeit. Selbst Barack Obama hat so ein Trauer-Selfie schon gemacht.

Dass viele so ein Selfie für ungehörig halten und eine ganze Generation deshalb für gleichgültig, speist sich auch aus der Unterstellung, so ein Bild entstünde aus einem rein narzisstischen Impuls. Selbst­verliebtheit und die Todeszeremonie um einen verstorbenen Menschen stehen sich auf einer imaginären Achse der Gepflogenheiten so unvereinbar gegenüber wie diese Fahrradfahrerin und dieser Müllwagen auf einer Fahrradstraße.

Dabei ist Narzissmus im Angesicht des Todes anderer geradezu zwingend. Der Moment der Trauer und der Traurigkeit eines Verlassenen ist mit großer Ich-Bezüglichkeit und Egoismus getränkt. Man beweint ja nicht nur den Tod eines Menschen. Bei verstorbenen Prominenten, die man verehrte, trauert man um die Musik, die Filme, die Texte, die sie nicht mehr produzieren können. Man vermisst die Herzensbildung, um die man durch den Tod betrogen wurde.

Die Timeline als kollektiver Altar der Verehrung

Online reminiszieren dann alle ihre persönlichsten Momente mit dem Verstorbenen, machen seinen Tod zu ihrem Tod. Die Timeline wird zu einem kollektiven Altar der Verehrung, ein virtuelles Mausoleum, in das jeder ein Bild, ein Video oder eine Anekdote als Trauerstrauß niederlegen kann. Und über „RIP“-postende Nutzer zu urteilen, heißt, sich über eine säkularisierte Gesellschaft zu wundern. Sie scheute die Auseinandersetzung mit dem Tod und ist nun gekränkt, dass ausgerechnet Smartphones die Sehnsucht nach Trauerarbeit und Transzendenz stillen sollen.

Konventionell wird das Trauern hierzulande als individueller Akt empfunden, als Prozess des Privaten, eine Phase größter Fragilität, die nicht gesellschaftsfähig ist. Die empfindsame Innerlichkeit, die plötzlich ungefiltert aus einem entgleisten Ich rausfällt, wird als übergriffig und exhibitionistisch gewertet. Kritische Betrachter stellen die Aufrichtigkeit der Traurigkeit in Frage und unterstellen niedere Beweggründe. Billig sei es, heißt es dann, wenn die eigene Trauer sich einreihe zwischen Essen, Urlaubsfotos und Cartoons von Ralph Ruthe. Dabei versteht der den Tod besser als die meisten.

Dem Skeptiker gilt der Alltagskontext als pietätlos. Er oder sie würdigt ihn zu Social-Media-Content herab, weil er den Tod eines Menschen auf eine Ebene stellt mit Facebook-Werbung. Hier ist Ambiguitätstoleranz gefragt, das Nachempfinden, dass man erst ehrlich erschüttert sein kann über den Tod einer Person, die man nicht mal persönlich kennen muss – und im nächsten Augenblick dann wieder überglücklich ist über die Ankunft des Lieferando-Kuriers.

Die ehrliche Begeisterung für Katzen, die Xylophon spielen, darf nicht gegen die Ernsthaftigkeit des Schmerzes ausgespielt werden, den man bei einem Verlust empfindet. Das würden die Toten auch nicht wollen.

Emojis überbrücken die Sprachlosigkeit

Die „Vogue“ beklagte sich mal, dass Instagram einfach zu öffentlich sei, um bedeutsam trauern zu können – aber wo sollte man aufrichtiger fühlen, wie das Herz aufgrund des Todes eines berühmten Comic-Zeichners schwer wird, als auf einer visuellen Plattform? Wenn Fotos an die Stelle konventionellen Kondolierens treten, dann eben auch, weil Fotos (oder Emojis) die artikulatorische Sprachlosigkeit überbrücken, die ein Kloß im Hals verursachen kann.

Die unterstellte Dichotomie von echter und unechter Trauer ist, wie bei dem anfangs erwähnten Unterschied zwischen dem bezeichneten Sprechakt und dem durchgeführten, das „Ich trauere“ vs. das „Ich bin betroffen“. Es unterstellt eine Trennung zwischen dem Leiden und der Demonstration des Leidens und behauptet einen qualitativen Unterschied. Aber „Ich trauere“, „Ich bin betroffen“ und der traurige Smiley ?wollen und sagen eigentlich dasselbe, nur mit unterschiedlichen Zeichen: Bitte like mich mal kurz.

5 Kommentare

  1. >Online, wo das Schriftliche eine Renaissance hat und die Unmittelbarkeit eines humanen Ausdrucks fehlt, tun die Menschen das, was in der Linguistik als das Bezeichnen eines Sprechaktes beschrieben wird. Sie formulieren nicht die Trauer, sondern paraphrasieren sie mit deren emotionaler Konsequenz: „Ich bin geschockt“, „Ich bin fassungslos“, „Ich bin betroffen“ – oder online mit ? ? ?.

    Naja, das Bezeichnen eines Sprechaktes ist das bei Prädikativen ja wohl eher nicht – Prädikative bezeichnen ja keine (Sprech-)Handlungen, sondern Zustände. „Ich trauere mit dir“ wäre dagegen ein Beispiel dafür, wie das aussehen könnte.

  2. „Eine dunkle Masse gesenkter Köpfe, die mit gravitätischer Diktion in Zimmerlautstärke ihr Bedauern ausspricht, läuft hinter einem Sarg her.“ Echt? Dann mache ich das falsch. Mir hat man nämlich beigebracht, dass auf Trauerzügen am besten gar nicht gesprochen wird, oder wenn doch, dann nur ganz leise.
    Kondoliert wird am Grab, wenn in der Todesanzeige nichts anderes steht, oder beim Trauergottesdienst, oder in Kondolenzbüchern – online oder in Papier -, oder man schickt Karten.
    Und das ist vllt. der Hauptgrund, was manche beim Online-Trauern stört: Die Beileidsbekundung im richtigen Leben geht standardmäßig von Bekannten in Richtung der Angehörigen. Nicht von Leuten, die die oder den Verstorbenen nicht persönlich kannten, an Leute, die die oder den Verstorbenen auch nicht persönlich kannten, was aber bei FB und Twitter meist 99,9% der Adressaten sind.
    Das Äquivalent wäre, dass bei eine Beerdigung zwei Leute, die sich da zum ersten Mal begegnen, einander die Hand geben oder gar umarmen und dann _gegenseitig_ „Mein Beileid“ sagen. Kann man machen, klar…

  3. „Hier ist Ambiguitätstoleranz gefragt.“
    There is no such thing in social media.
    Wenn ich öffentlich trauere, dann soll man mich bitte mindestens mit einem engen Angehörigen des Prominenten verwechseln, ja ich möchte erscheinen wie der, der Robin Williams höchstpersönlich vom Strick geschnitten hat. Meine Trauer, mein Schock sind so tief, daß mein Leben praktisch zu Ende ist.
    So die Einen.
    Die Anderen so:
    Spielt euch nicht so auf, ihr habt ihn nicht gekannt und es ist obszön, wenn einer um Guido Westerwelle nun tief trauert, der zu seinen Lebzeiten nur dessen neoliberales Ungeschick verhöhnte.
    Die Dritten?
    Die nun die Mittlerposition vergeblich einzunehmen trachten?
    Nihil nisi bene, d a s und n u r das soll man nach dem Tode von der öffentlich vorgeführten Leiche nun erzählen. Und vergessen natürlich das nihil, denn zumindestens könnte dann ein Westerwelleverächter auch einfach NICHTS sagen.
    Doch steht dem zweierlei entgegen:
    1. Wir trainieren, in selbstüberholendem Gehorsam, alleweil das richtige und politisch korrekte Verhalten zu jedem Anlaß und Trainierende übertreiben zumeist sehr:
    Also führen wir auch unsere Pietätskundigkeit öffentlich Gassi.
    2. Niemand ist auf sozialen Netzwerken, um NICHTS zu sagen. Es mag welche geben, die still und gelassen nur l e s e n, was auf Facebook und Twitter tobt, aber eben weil sie schweigen, so fallen sie uns nicht auf.
    Heißt: Heuchelei allerorten, Ambiguität nirgends, und die politische Korrektheit, die ist die Mutter aller Falschheit. Bis zum Tode.
    Apropos Ambiguitätstoleranz:
    Können @niggi und @der_rosenkranz eventuell meine penetrante Ambiguität in Sachen
    DAS BILDNIS DER SAMIRA EL OUASSIL
    ansatzweise tolerieren? Ich habe ja vor kurzem öffentlich um das Verschwinden ihres Abbilds getrauert, dessen blosses Dasein ich davor in Frage stellte. Weil der anderen Schönheit uns nie im Bild gezeigt wird. Und nie eine offizielle Erklärung des Herausgeber zu ihrem lookistischen Vorgehen erfolgt ist.
    Und nun war sie beim vorigen Mal weg und jetzt ist sie wieder da. Und ich werde den Verdacht nicht los, daß sich die beiden heimlich über mich bekringeln, und randommässig das schöne Bild rein und rausmachen, nur um zu sehen, was ich diesmal wieder erzähle.
    Macht nur so weiter, ich bleibe dennoch

    @LucianoCali_2, Übonnent

  4. Nur mal so als Anmerkung: Die Lindenstraße ist nicht tot, ihr Ableben wird nur von den ‚Machern‘ für übernächstes Jahr angekündigt. Und auch wenn die Gleichsetzung geschriebenerweise nicht gewollt sei, so wird sie doch im Absatz zuvor vorgenommen.
    Ganz abgesehen davon geht mir das sozialmediale Anteilnahmeheucheln ziemlich auf die Nüsse. Pure Selbstinszenierung auf Kosten Toter, zu denen allzu oft jeglicher Bezug fehlt und in deren Folge oft auch jedwede pietätvolle Distanz flöten geht. „Ich kannte ihn nicht und habe mich mit seinem Schaffen nicht beschäftigt, aber RIP XYZ, auch ich trauere…“ – kommt leider immer häufiger vor, weswegen meine Schreibtischplatte zunehmend Kontakt zur Stirn sucht.

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