Bahnhofskiosk

Objektiv unverständlich, aber unfehlbar

Wer in Deutschland als Fußball-Fan aufwächst, kennt den „Kicker“ als einzige zuverlässig unfehlbare Instanz neben Gott.1)Für Fans des HSV ist es tatsächlich ausschließlich der „Kicker“. Ich bin als Fußball-Fan in Deutschland sozialisiert und habe trotzdem in dieser Woche zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass es „Kicker – Sportmagazin“ heißt, nicht „Fußballmagazin“, und tatsächlich ist ja gar nicht nur Fußball im Heft: Auf zwei von 96 Seiten der aktuellen Ausgabe sind Tennisspielerinnen das Thema, nämlich auf den Seiten 92 und 93, und auf der letzten Seite des auf Zeitungspapier gedruckten, tagesaktuellen Mittelteils ist ein Bericht über das Formel-1-Rennen vom Sonntag. Das wirkt wie ein Porno mit Handlung, bei dem die Handlung aber nur die allerletzte Minute einnimmt, nachdem alles andere vorbei ist. Ich musste ein bisschen lachen.

Der Rest ist Fußball.2)Es gibt vom „Kicker“ allerdings auch Sonderhefte etc. zum Beispiel zu Motorsport. Genau genommen ist das Heft so vollgestopft mit Fußball, dass alles andere komplett egal ist. Die Gestaltung zum Beispiel folgt im Prinzip nur dem spürbaren Drang, so viel Text wie möglich auf den Seiten unterzubringen, und zwar ausschließlich Text, den nur Menschen verstehen, die zumindest halbwegs auf dem Laufenden sind in Bezug auf das, was „im Fußball“ gerade passiert.

Da ist ein Interview mit Karl-Heinz Rummenigge, dem Vorstandsvorsitzenden des FC Bayern München, in einer Reihe zum Thema „50+1“, in dem es in weiten Teilen um eine Veranstaltung in Frankfurt geht, bei der es Streit gab. Rummenigge regt sich einigermaßen bullig über eine Initiative des FC St. Pauli auf jenem Frankfurter Treffen auf, und wer nicht weiß, worum es ging, der erfährt es hier auch nicht – weder, was „50+1“ bedeutet, noch was der FC St. Pauli will, noch was die Implikationen welcher Position zum Thema sind.3)Supersuper kurz, weil: Wen es bisher nicht interessiert hat, den interessiert es wahrscheinlich jetzt auch nicht.:„50+1“ steht für den Versuch, festzuschreiben, dass die Vereine im Verhältnis zu Investoren in den Clubs eine Mehrheit der Anteile halten müssen sollen, nämlich quasi 50 Prozent plus einen Anteilsschein. In anderen Ländern können zum Beispiel Scheichs und Oligarchen ganze Clubs kaufen und durchregieren, und das tun sie teilweise mit gigantischem sportlichen Erfolg, und da entsteht ein Spannungsfeld, weil deutsche Clubs (mit Ausnahme des FC Bayern) gerade international abkacken. Dem FC St. Pauli ist erwartungsgemäß sportlicher Erfolg aber nicht so wichtig wie der Erhalt von etwas, das ich mal als Vereinskultur umschreibe.

Stattdessen erfährt man, dass zwei Profivereine an diesem Treffen nicht teilgenommen haben, aber nicht, welche. An anderer Stelle werden europäische Liga-Top-Torschützen vorgestellt, aber die Vereine, in denen sie spielen, nur als Logo gezeigt. Wer die nicht erkennt, der weiß (bevor er den ganzen Lauftext liest) nicht, wo diese Superstars gerade spielen – andererseits weiß wahrscheinlich jeder „Kicker“-Leser sogar ohne Logo, wo Lionel Messi spielt.

Er wird wahrscheinlich auch nicht bemerken, dass das Layout ein wildes Durcheinander ist und allein auf dem Cover schon sechs Zitate, so dass die An- und Abführungen herumfliegen wie Erdbeer-Stücke aus einem Mixer, wenn deine zehnjährige Tochter von einer YouTuberin angefixt wurde, sich einen „leckeren und gesunden Smoothie“ zu machen.4)Ich möchte nicht darüber sprechen. Das ist schon alles nicht schön, und dann wird es beim „Kicker“ auch noch erschwert durch die wirklich begrenzte Fotoauswahl, denn natürlich sind auf den allermeisten Bildern im Heft Fußballer beim Fußballspielen, und da ist – vor allem, wenn man aktuell sein muss oder will – die Vielfalt doch einigermaßen eingeschränkt. Das sieht nunmal aus, wie es aussieht, und das zigmal, wenn nicht hundert Mal in einem Heft.

Man könnte das kritisieren, aber ich möchte das Gegenteil tun und es feiern, weil es nämlich die Perfektion eines zerknüllten Anzugs an einem irren Wissenschaftler hat, der in seinen Klamotten schläft, weil er keine Zeit zu verlieren hat bei seiner genialischen Suche nach irgendeinem Dings, das die ganze Welt und das Universum so weiter. Der redet auch nicht so, dass man ihn versteht. So ist der „Kicker“. Schon die Titelzeile ist objektiv betrachtet unverständlich:

„Es ist kein Tagtraum mehr“ – Vor dem Klassiker gegen Brasilien spricht Shootingstar Timo Werner

Was ist kein Tagtraum mehr? Man würde denken, gegen Brasilien zu spielen, und mir sind die Gedanken sogar ein bisschen weiter verrutscht und ich habe sofort assoziiert, seine Tagträume wären wie meine, nämlich explizit der, beim 7:1 gegen Brasilien bei der WM mitgespielt zu haben, aber in Wahrheit kann die Zeile für Nicht-„Kicker“-Leser auch das Gegenteil bedeuten, nämlich „Ich träume nicht mehr davon, bei der WM mitzufahren“ oder ähnliches.

Im Interview sagt er den Satz in Bezug darauf, mit der Elite mitspielen zu dürfen. Zwischen Thomas Müller und Messt Özil zu sitzen, sei plötzlich kein Tagtraum mehr, sondern Realität. Und das für mich bei längerem Nachdenken Bizarre ist, dass ich glaube, absolut jeder „Kicker“-Leser versteht das intuitiv ziemlich haargenau richtig, obwohl man es möglicherweise und mit einigem bösem Willen als miss- oder unverständlich kritisieren könnte.

Scheißegal, es wird verstanden, weil „Kicker“-Leser und diese völlig fußballnerdige Redaktion eine Art Symbiose eingegangen sind, die nach außen unverständlich sein mag, aber wen interessiert schon das Außen, wenn er weiß, was „die Außen“ sind.

Kicker
Olympia Verlag GmbH
2,80 Euro

Fußnoten

Fußnoten
1 Für Fans des HSV ist es tatsächlich ausschließlich der „Kicker“.
2 Es gibt vom „Kicker“ allerdings auch Sonderhefte etc. zum Beispiel zu Motorsport.
3 Supersuper kurz, weil: Wen es bisher nicht interessiert hat, den interessiert es wahrscheinlich jetzt auch nicht.:„50+1“ steht für den Versuch, festzuschreiben, dass die Vereine im Verhältnis zu Investoren in den Clubs eine Mehrheit der Anteile halten müssen sollen, nämlich quasi 50 Prozent plus einen Anteilsschein. In anderen Ländern können zum Beispiel Scheichs und Oligarchen ganze Clubs kaufen und durchregieren, und das tun sie teilweise mit gigantischem sportlichen Erfolg, und da entsteht ein Spannungsfeld, weil deutsche Clubs (mit Ausnahme des FC Bayern) gerade international abkacken. Dem FC St. Pauli ist erwartungsgemäß sportlicher Erfolg aber nicht so wichtig wie der Erhalt von etwas, das ich mal als Vereinskultur umschreibe.
4 Ich möchte nicht darüber sprechen.

12 Kommentare

  1. Fun Fact: Der Kicker heißt nicht Kicker-Sportmagazin, weil er ein Sportmagazin ist, sondern weil er mal mit dem „Sportmagazin“ fusioniert wurde, das aber eigentlich auch der Kicker war und auch keinen anderen Sport außer Fußball drin hatte.

  2. …jetzt bitte noch ein Erklärstück zum Thema „Abseits“ und ich kann ruhig schlafen gehen.
    Irgend ein Marcel, Bela o.ä. oder eine Dagmar usw. wird doch hier mitlesen: Nein? Schade!
    Von mir aus: Auch egal.
    Fußball finde ich schön: Schön doof!
    Federball finde ich schön fluffig :D

  3. Abseits ist, wenn alle der folgenden Bedingungen gleichzeitig zutreffen:

    1. der den Ball annehmende Spieler befindet sich in der gegnerischen Hälfte

    2. Zwischen seiner Position und der gegnerischen Grundlinie befindet sich nur noch ein gegnerischer Spieler/Torwart

    3. Der den Ball abgebende Spieler ist ein Mitspieler, kein Gegenspieler

    4. Der abgebende Spieler spielt den Ball in Richtung gegnerische Grundlinie (bei Rückpässen gibt es kein Abseits)

    Fehlt eine der Bedingungen, ist es kein Abseits.

    Bitteschön ;-)

  4. Gute Analyse! Die Titelzeilen des Kicker (mehr kriege ich vom Heft nicht mit) sind mir auch immer wieder ein Rätsel. Mehrfach in den letzten Monaten lautete die Titelzeile einfach nur „Lewandowski“ oder „Marco Reus“, was wohl auf ein Exklusiv-Interview im Innern hindeutete. Einfach nur ein Name, teilweise sogar ein Nachname ohne jeden Zusammenhang, ohne dazugehöriges Zitat auf den Titel zu klatschen, wirkt schon arg einfallslos.
    Umso mehr wunderte mich dann eine Woche darauf, eine Titelseite zum BVB, wo die Zeile ein sehr blumiges Wortspiel war. An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht, aber es war irgendwas mit Pott oder Kohle.

    Seitdem schaue ich jedoche Woche aufs neues im Kiosk vorbei, ob die Redaktion sich nicht wieder etwas vollkommen Irres hat einfallen lassen.

  5. Der Hang zum Wortspiel-Kalauer in den Überschriften (meist mit Namenswitzen à la „Reck reckt sich vergeblich“, da kämen dann vermutlich selbst Fußballhasser Niggemeier und der kicker zusammen) ist tatsächlich ein Punkt, den ich in der Analyse vermisse, zumal die ja immer in Kontrast zu den wirklich ultranüchternen Texten stehen. In einer Diskussion zum kicker einigten wir uns einmal auf die Beschreibung „biederer Altherrenjournalismus“, was durchaus auch positiv gemeint war, gerade im Vergleich zum boulevardesken Sensationsgescheische, das großen Teile des restlichen tagesaktuellen Sportjournalismus durchzieht.

    Was mit dem Magazin selbst wenig zu tun hat, aber dennoch erwähnenswert ist: die kicker-App ist tatsächlich und mit großem Abstand die beste aller Fußballapps – übersichtlich und stabil. Auch wenn die Liveticker, da ist man dann wieder ganz beim Heft, den sprachlichen Charme einer Kühlschrankanleitung haben.

    Zum Abschluss noch das Übliche: täuscht es mich, oder wurden die Fußnoten weiter verschlechtert – sie funktionieren genau schlecht wie eh und je, stehen nun aber wieder weiter weg vom Text?

  6. In einem Fussballmagazin geht es überwiegend um Fussball?
    Danke für diese Erkenntnis.

    Was täte ich nur ohne Übermedien.

    (Ja, ich weiss, dass da auch Sportmagazin im Kleingedruckten steht)

  7. @3.: Punkt 4 stimmt so nicht. Der annehmende Spieler darf sich zum Zeitpunkt des Abspiels nicht vor dem Ball befinden, die Richtung des Passes ist vollkommen unerheblich für den Abseitspfiff.

    @5. Das mit dem biederen Altherrenjournalismus trifft es ganz gut. Kaum Boulevard und halberfundene Geschichten wie in SportBild, erwartet aber trotzdem, dass man voll im Thema ist. Vor allem ist das Blatt aber inhaltlich ziemlich konservativ, indem es sich z.B. bei Konflikten zwischen Clubs und Ultras (also den organisierten Fanszenen) fast immer auf die Seite der Clubs stellt, die Summen, die englische oder superreiche Clubs für Spieler zahlen, immer wahnsinnig findet, aber meist damit einverstanden ist, wenn Bayern 40 Mio. für einen ausgibt, und mit der voranschreitenden Professionalisierung des Sports einhergehenden Neuerungen wie dem Videobeweis oder tiefergehender Taktik- und Datenanalyse gegenüber fast grundsätzlich negativ eingestellt ist. Der Kicker steht zum Fußball quasi wie die Lokalzeitung zur Kommunalpolitik.

  8. Hab den Kicker nie gelesen…. meine Frau hatte ihn mal regelmäßig gekauft…. wenn was mit Scholl drin war…. bin entsetzt…hätte ich das mal vor der Hochzeit gewusst… auweia….

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