Immer wieder

Profit statt Aufklärung: Wie Medien den Amoklauf von Graz ausschlachten

Sie verbreiten reißerische Videos und belagern traumatisierte Menschen: Einigen Medien geht es nach dem Grazer Amoklauf nicht um sachliche Berichterstattung, sondern darum, im Rennen um exklusive Content-Schnipsel vorne zu liegen. Wie immer bei solchen Ereignissen.

Viele Blumen und Trauerkerzen vor der Schule in Graz, an der es am 10.6.2025 einen Amoklauf gegeben hat.
Nach dem Amoklauf: Trauer an der Schule in Graz Foto: IMAGO/Pixsell

Kaum mehr als 48 Stunden ist der Amoklauf an einer Schule in Graz nun erst her, doch schon jetzt ist klar: Medien haben auch anlässlich dieser schrecklichen Tat wieder viele Grenzen überschritten – und das Leid der Menschen vor Ort kühl ausgeschlachtet. Zehn Menschen wurden bei der Tat getötet, etliche weitere schwer verletzt und traumatisiert; der mutmaßliche Täter beging anschließend Suizid.

Die Videos

Fangen wir mit den Videos aus der Schule an. Auf einem ist ein Klassenzimmer zu sehen, zu hören sind Schüsse. Auf einem anderen sieht man Schüler, die panisch ins Freie laufen. Ein weiteres zeigt anscheinend abgedeckte, aufgebahrte Leichen.

Verschiedene Medien haben einzelne oder mehrere dieser Videos in Artikel eingebaut oder in eigene Filme geschnitten: „Bild“, heute.at, „oe24“, auch die „Kronen Zeitung“, die ihrem Logo Trauerflor angeheftet hat – um darunter dann reißerisch zu titeln:

„Horror-Szenen: Video zeigt, wie Jugendliche um ihr Leben rennen“.

Die Bilder zu publizieren, hat keinerlei informativen Mehrwert, es bedient lediglich die Schaulust des Publikums. Verbreitet hat die Videos zunächst der rechtsextreme österreichische Internet-Sender Auf1: auf seiner Webseite, bei X und bei Telegram, teilweise als „exklusiv“ oder von irgendwoher „zugespielt“ gekennzeichnet.

Auf1 war auch so pietätlos, die Szenen der flüchtenden Schüler mit treibender Musik zu unterlegen, wie in einem schlechten Action-Movie. Auch „Bild“ wollte auf ein Musikbett nicht verzichten. Als müsste man die furchtbaren Bilder zusätzlich dramatisieren.

Was soll man da sagen? „Unsere Boulevardmedien am Tiefstand“, kommentierte der Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung „Falter“, Florian Klenk. Und die Medienethikerin Claudia Paganini von der Universität Innsbruck sagte der Zeitung „Standard“:

„Hier werden Klicks auf Kosten der Opfer generiert.“

Es werde einzig ein „marktwirtschaftlicher Profit“ erzielt – zu dem Preis, „dass andere Schülerinnen und Schüler traumatisiert werden und eine Ängstigung erfahren“.

Dass die Videos in Sozialen Medien kursierten, sei auch kein Grund, dass Medien sie ebenfalls zeigen könnten, sagt Paganini. Journalisten sollten in der Lage sein, medienethisch einzuordnen, was veröffentlicht werden darf und was nicht.

Netter Gedanke. Und, sicher, in der Lage wären sie. Es aber zu tun, würde voraussetzen, dass Verlage und Redakteure medienethische Verantwortung übernähmen und willens wären, Profit- und Sensationsinteresse unterzuordnen. Doch so wünschenswert das ist, so unvorstellbar ist es auch. Weil es ja immer wieder so läuft. Weil Medien bei solchen Ereignissen, auch bei Terroranschlägen, immer wieder Grenzen überschreiten.

Die Interviews

Gerade in Fällen, in denen junge Menschen involviert sind, ist Zurückhaltung besonders geboten. Doch Reporter diverser Medien haben sich in Graz nicht zurückgehalten, im Gegenteil: Sie haben den Schock der Schüler und auch der Opfer-Angehörigen ausgenutzt, um ihnen ein paar Sätze abzusaugen, die sie dann exklusiv vermelden können.

Heute.at etwa hat Eltern angesprochen, die gerade erfahren hatten, dass ihr Kind bei dem Amoklauf getötet wurde. Das Portal „5min“ interviewte ein „junges Mädchen“ und schrieb: „,Mir geht es sehr schlecht’, weint die Schülerin, die immer noch darauf wartet, zu hören, was mit ihrer Schwester passiert ist.“ Und auch Auf1 ließ sich von einer traumatisierten Schülerin auf Stand bringen: „Die 16-Jährige“, schreibt der Sender auf X, „steht stark unter Schock und hat uns diese Information weinend übermittelt.“

Sowieso: Auf1. Abkürzung für: „Alternatives Unabhängiges Fernsehen, Kanal 1“. Der 2021 gegründete FPÖ-nahe Internet-Sender ist ein Hort für Corona-Leugner und Verschwörungsgläubige, die bibbernd den „Great Reset“ heraufbeschwören. Bei Auf1 werden sie zuverlässig mit immer neuem Verschwörungscontent versorgt.

Auf1-Chefredakteur Stefan Magnet und die Überschrift: "Glauben Sie nicht die Lügen!"
Auf1-Chef Stefan Magnet Screenshot: auf1.tv

Gründer und Chefredakteur Stefan Magnet, der bereits eine kleine Karriere bei extrem rechten Medien hinter sich hat, schaffte es am Dienstag tatsächlich, in einem 52-minütigen Monolog den Amoklauf und das Verbot des rechten Magazins „Compact“, über das seit Dienstag in Leipzig verhandelt wird, in einen Topf zu werfen. „Glauben Sie nicht die Lügen!“, steht auf dem Vorschaubild des Videos.

Der Amoklauf in Graz, prophezeite Magnet marktschreierisch, werde wieder „für Überwachung und Totalkontrolle“ ausgenutzt werden, „auf dem Rücken der Opfer“. „Das System“ benutze immer die aktuelle Entwicklung, um die „Globalisten-Agenda weiter voranzubringen“. (Und schreiben wir es ruhig noch mal ausdrücklich dazu: Wer von „Globalisten“ spricht, nutzt einen antisemitischen Code für – die Juden.)

Es ist der doppelte Bigotterie-Rittberger: Magnet instrumentalisiert die Opfer für billige Klicks und für die Theorie, dass „das Sytem“ die Opfer instrumentalisieren werde. Er hat offensichtlich erkannt, wie sich mit einem Ereignis wie dem in Graz schamlos Aufmerksamkeit erzielen und Werbung für den eigenen Telegram-Kanal machen lässt.

Die Belagerung

Aber Auf1 ist nur die Spitze medialer Amokausschlachtung. Journalisten haben seit Dienstag nicht nur den Tatort belagert, um dort Schüler und Angehörige zu belästigen, sondern auch das Haus, in dem der mutmaßliche Täter mit seiner Mutter wohnte.

Als erstes rannte offenbar das eigentlich seriöse Politikmagazin „Profil“ dorthin, um unter der launigen Zeile „Daheim beim Amokläufer“ unter anderem auf „Türmatten mit launigen Hunde-Sprüchen“ zu starren und Nachbarn anzusprechen: „Es sind die ersten Gespräche, die sie mit Journalisten an diesem Tag führen.“ Und nicht die letzten.

Die Nachbarn erzählen, was Nachbarn so erzählen, zumal wenn sie laut „profil“ den mutmaßlichen Täter zwar „oft sahen“, aber nicht kannten: Dass er „unauffällig“ gewesen sei, „in sich gekehrt“, „nie irgendwie ungut“, und dass er, wichtig, einen Rucksack und große Kopfhörer getragen habe.

Eine Nachbarin darf über das Motiv „rätseln“. Ein anderer Nachbar soll ein Familienmitglied bei dem Amoklauf verloren haben, hat „profil“ aufgeschnappt. Angeblich lebt er, schildert „profil“ dramatisch: „mit Blick in den Garten des Attentäters“.

Immerhin hat „profil“ es vermieden, auch Fotos des Wohnhauses zu zeigen. Das haben dann andere nachgeholt, etwa die „Bild“-Zeitung, die ebenfalls Nachbarn behelligt hat, um herauszukriegen, der mutmaßliche Täter sei „immer nach vorne gebückt gegangen“. Selbst zur Terrasse der betroffenen Familie ist „Bild“-Reporter Karl Keim vorgedrungen, um dort einen Mann anzuquatschen, der „laut Nachbarn“ der Bruder des Amokläufers sei. Er habe nichts sagen wollen, schreibt „Bild“.

Das rechte Magazin exxpress.at, das mit dem deutschen Wutportal „Nius“ von Julian Reichelt eng verbandelt ist, betont in seinem Report vom Haus immer wieder, wie verängstigt die Nachbarn seien. Keiner wolle ein Interview vor der Kamera geben oder Handyfotos vom Polizeieinsatz teilen. Der „exxpress“ ist ein bisschen beleidigt:

„Zwei Männer mit Bier in der Hand rufen die Polizei. Es stört sie, dass Journalisten ihrer Arbeit nachgehen.“

Die Polizistinnen seien aber „freundlich“ gewesen. Sie hätten auch verstanden, „dass es die Aufgabe von Reportern ist, für die Öffentlichkeit wichtige Informationen zu recherchieren“.

Welche wichtigen Informationen noch mal? Was sagt uns das alles, was Reporter in und vor dem Wohnhaus in Erfahrung gebracht haben? Genau: Nichts sagt es. Es ist Tratsch am Gartenzaun, Hörensagen, Voyeurismus ohne jeden Erkenntniswert.

Das Motiv

Aber auch das ist das übliche Vorgehen von Journalisten, die nach einem Motiv fahnden. Schon kurz nach der Tat war für einige Medien klar: Es war Mobbing. Weil der junge Mann in der Schule gemobbt worden war, kehrte er zurück, um sich zu rächen. Das gehe auch aus einem Abschiedsbrief hervor, den die Polizei gefunden habe.

So war die Erzählung. Doch aus dem Abschiedsbrief, dementierte am Dienstagabend Franz Ruf, der Generaldirektor für Öffentliche Sicherheit, könne „kein Motiv entnommen werden“. Was einige Medien aber nicht störte, weiter so zu berichten. Weiter zu spekulieren. Weiter so genannte Experten zu befragen. Und Rainer Wendt. Und weiter zu wühlen: den Lebenslauf des Mannes zu sezieren, den früheren „Sitznachbarn“ aus der Schule zu interviewen. Es dauerte natürlich auch nicht lange, bis die ersten Fotos des mutmaßlichen Täters publiziert wurden, mal verpixelt, oft aber auch nicht.

Auch das alles kennt man von anderen Großlagen, Graz ist da kein Einzelfall. Dass Menschen wissen wollen, warum so etwas geschehen ist: normal, nachvollziehbar. Aber das meiste, was Boulevardmedien und TV-Sender kurz nach solchen Taten verbreiten, ist Gerede, das kein Stück weiterführt. Darum geht es auch nicht, um Aufklärung. Es geht vielen Medien schlicht darum, im Rennen um exklusive Content-Schnipsel vorne zu liegen.

Die Folgen

Es ist bekannt, dass Amokläufer es oft auch auf etwas abgesehen haben, woran es ihnen subjektiv vielleicht mangelte: Aufmerksamkeit und Beachtung. Mit ihrer Tat schaffen sie es, dass alle über sie reden und berichten. Ihr Bild, ihr Name: groß in vielen Medien.

Es ist ebenfalls bekannt, wie gefährlich diese mediale Abbildung ist. Das Leben des Täters werde „in den Vordergrund gespielt“, erklärte aktuell etwa der Psychiater Paul Plener im Interview mit dem ORF. Man müsse sehr darauf achten, was über einen Täter kolportiert werde, um wenig Identifikationspotential für etwaige Nachahmer zu bieten. „Je weniger Bildmaterial, je weniger Beschäftigung auch mit dem Täter passiert und mit seinen möglicherweise zugrunde liegenden Motiven, umso günstiger wäre es.“

Doch dafür ist es, nur kurze Zeit nach der Tat, schon zu spät. Mal wieder.


Nachtrag, 13.6.2025. Der „Standard“ meldet, dass dem österreichischen Presserat inzwischen rund 80 Beschwerden zur Berichterstattung über den Amoklauf vorliegen, etwa wegen veröffentlichter Videos. Der Presserat will sich am 1. Juli damit befassen.

1 Kommentare

  1. Das allertrübseligste dabei ist, dass das weder besonders neu noch irgendwie überraschend ist.

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