Glitzerdiagnosen und ihre Schattenseiten
Immer mehr Prominente sprechen offen über ADHS oder Depressionen – und Medien berichten darüber. Das hilft einerseits, Vorurteile abzubauen, kann aber auch ein falsches Bild vermitteln: als wäre Erfolg trotz psychischer Erkrankung kein Problem. Wie diese verzerrte Wahrnehmung entsteht und was Medien besser machen können.
Exklusiv für Übonnenten

Vermutlich bin ich auch mit schuld. Obwohl ich keine Prominente bin, ich bin nur Journalistin. Doch diese beiden Gruppen prägen das gesellschaftliche Bild von psychischen Krankheiten – und sie verzerren es.
Seit vielen Jahren, Jahrzehnten eigentlich, habe ich immer wieder schwere Depressionen und darüber auch geschrieben. Wer so etwas heutzutage macht, bekommt sehr viel Applaus für seinen Mut und fast ausschließlich positive Rückmeldungen. Das Stigma von Depressionen ist nicht mehr so groß wie früher – oder, naja, zumindest sieht es so aus, wenn man Texte in „Spiegel“, „Zeit“, „Süddeutscher Zeitung“ etc. darüber liest oder durch Social Media scrollt.
Für mich ganz klar ein Social-Media-Phänomen. Da versuchen halt manche, verblassender Prominenz/Nachfrage nochmal Wichtigkeit entgegen zu setzen. Klassische Medien greifen das auf, weil es Seiten und Formate zu füllen gilt. Aber wessen Leben ändert sich durch das Wissen, dass der Hirschhausen was am Kopf hat?
Mehr als Sichtbarkeit schaffen die Promis damit tatsächlich nicht. Aber das ist schon enorm wichtig.
Zu viel Detail und Differenzierung klickt dann aber leider nicht mehr so gut. Und dieses Zurschaustellen der eigenen Neurodivergenz hat immer auch einen boulevardesken / voyeuristischen Beigeschmack.
Trotzdem bin ich sehr dankbar, weil die Themen dadurch besser akzeptiert werden.
Irgendeine schöne Geschichte, warum man es im Leben besonders schwer hat, gehört zur Promi-Selbstvermarktung inzwischen dazu. „XY spricht offen über…“-Artikel sind ein eigenes Genre geworden, mit dem nicht nur das Boulevard die Leserschaft füttert. Fraglich, ob das Berichtete dann immer so stimmt, oder ob nicht gerne mal eine harmlose Macke zur lebensprägenden „Betroffenheit“ aufgeblasen wird. Und wenn man gar nichts in der Richtung vorzuweisen hat, „beichtet“ man halt „schonungslos“, man habe als Student zu viel gekifft oder sei als Kind pummelig gewesen. Naja.
Was früher tabuisiert war, wird heute zunehmend als Identitätsmarker vor sich hergetragen – nicht nur von Promis. Auch Otto-Normal-User verkünden via SoMe-Profil, sie seien autistisch, „neurodivergent“ oder hätten ADHS. Dass das Tabu schwindet, ist zweifellos begrüßenswert. Aber diese Form von Seelenstriptease finde ich ziemlich distanzlos – und ich bezweifle, ob sie irgendwem hilft, dem es wirklich dreckig geht.
In Film/Fernsehen wird zudem noch das falsche Stereotyp vom autistischen Mathegenie verbreitet.
@Peter Sievert (#4):
Ja, Inselbegabung und Autismus werden gerne verwechselt. Nicht ganz grundlos, aber trotzdem falsch, wie die Wikipedia weiß:
Der einzige (selbsterklärte) Autist, den ich kenne, ginge – in Stereotypen gedacht – als Bilderbuch-Nerd durch. Etwaige genialische Anwandlungen sind mir noch nicht aufgefallen. Krasse Hemmungen im Sozialverhalten allerdings auch nicht. Man weiß es ja, es ist ein Spektrum…
Mal vom Thema ab, ich muss gestehen dieser Satzteil zieht meine Aufmerksamkeit: „Mathelehrerinnen, Maurer und Mechatronikerinnen“. Nach welchen Kriterien wurde hier Geschlecht zugeteilt? Es sind ja keine Binnen-Is oder Sternchen oder (…), also ist es nicht geschlechtsneutral, sondern feminin. Es ist aber auch kein generisches Geschlecht, weil der Genus ja mittendrin wechselt.
Sehr verwirrend und ich bin wirklich kein Gender-Mimimi-Kommentierer. Ich bevorzuge geschlechtsneutrale Sprache, mir ist egal nach welchem Prinzip und ich komme durchaus auch mit altmodisch gegenderter Sprache klar, ohne, dass mir die Biobrause aus dem Glas schwappt. Aber diese Kombi verwirrt nun doch, weil sie so spezifisch und von eigentlich jeder Norm abweichend ist, dass man vermuten muss, es würde etwas damit ausgesagt, aber ich kann nicht decodieren was das wäre.
Survivorship bias at its best. Danke für diesen Artikel!!
@Soronume: Es gibt zwei Sätze davor auch „Notarzt, Polizistin, Reporter“. Dass Sie beim Lesen stutzen, welche Berufe mit einer weiblichen und welche mit einer männlichen Form belegt sind, ist vermutlich der gewünschte Effekt (es sei denn, es ist einfach Zufall) – denn bei Mechatronik ist vermutlich zunächst ein Kerl vor Ihrem inneren Auge erschienen und die Mechatronikerin bricht mit diesem Stereotyp.
@zum Text: Das gängige Bild vom ADHS-Schüler ist auch insofern irreführend, als dass man inzwischen weiß, dass sich AD(H)S bei Schülerinnen tatsächlich oft ganz anders äußert – geradezu gegenteilig, mit nach Innen gekehrtem Stress, der nach Außen aber weniger sichtbar ist und weniger Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wie hoch der Anteil anerzogenen, geschlechterstereotypen Verhaltens daran ist, ist allerdings unklar.
@Soronume:
Ich hatte die Stelle als „wahllose Liste nicht-journalistisch tätiger Personen zufälligen Geschlechtes“ gelesen; Bonuspunkt für die Frage, ob ein Maurer oder mehrere gemeint sein soll/en.
@KK:
Wenn von 100 Inselbegabten 50 autistisch sind, sind von zig Millionen Autisten 50 inselbegabt. Wer diese Mathe nicht selber machen kann, muss quasi alle anderen Menschen für Mathegenies halten. Natürlich stammt dieses Klischee aus Rain Man, wobei dessen reales Vorbild gar kein Autist war.
Ansonsten ist das Ganze ein Beispiel der generellen Tendenz der Medien, Narrative zu erzählen statt Fakten zu vermitteln. Statt zu sagen: „Manche Menschen ‚funktionieren‘ nicht so, wie man das von anderen gewohnt ist (und lieber hätte), aber damit kann man als neurotypischer Mensch klarkommen.“ lieber Heldenreise #8738 erzählen. Denn dabei muss/müssen nur der/die/etc Held/in/nen/usw was machen und der Rest darf zuschauen.
Martin Gommel schreibt auf krautreporter.de seit Jahren über Depression und andere psychische Erkrankungen, „Divergenzen“, mit einer sehr reflektierten Innensicht als Betroffener und einer höchst angenehm kritischen Sicht auf den gesellschaftlichen, politischen, medizinischen Umgang damit. Sei hier ans Herz gelegt.
Als Nichtpromi unter ebensolchen, von denen – die Lebensdauer erhöht die Chance und Gefahr – einige psychische Pakete von Depression bis Bipolarität, von Schizophrenie bis ADHS, von PTBS bis Esstörung bis Angststörung bis ASS tragen oder trugen: Das ist kein Spiel und kein Wettbewerb um „die coolste Erkrankung“, es geht um Alltagsprobleme und Lebensbedrohung: „Ich nerv mich selbst“, „Die Macken und das Chaos des Anderen nerven“, „kein Job mehr, arbeitsunfähig“, „kaputte Beziehung, die nächste“, „plus Sucht obendrauf weil…“, „EU-Rente“, „immer wieder Psychiatrie, Reha, Therapie“, „Suizid in Gedanken, im Versuch, als Ende“.
Gut, wenn wenigstens über manches gesprochen wird, blöd, wenn man was hat, was in der Coolnessrangfolge nicht oben mitspielt bei den leichten Ausprägungen von ADHS und Autismus und dem Burnout Mitte 40…
Ich beobachte in meinem beruflichen Umfeld eine leichte Häufung von Menschen mit Anzeichen einer Asperger-Diagnose. Nicht auffällig häufig, aber doch spürbar öfter als außerhalb der Informatik.
Das äußert sich durch gewisse Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion – besonders im Umgang mit Kunden –, während Gespräche mit anderen „Nerds“ meist problemlos verlaufen. Normale Kundenerwartungen bringen jedoch mitunter unerwartete Herausforderungen mit sich.
Ein Kollege hat mir auch offen von seiner Diagnose erzählt. Dabei geht es nicht um eine Inselbegabung, sondern vielmehr darum, dass Schwierigkeiten in einem Bereich oft durch Stärken in einem anderen kompensiert werden.
So fällt es ihm zum Beispiel leicht, komplexe Ordnungen zu erkennen – als eine Art Ersatz für die als chaotisch empfundenen, weil schwer verständlichen, sozialen Interaktionen.
KI sagt dazu:
Es gibt inzwischen viele Bemühungen, neurodivergente Menschen besser zu integrieren – nicht nur wegen Inklusion, sondern auch, weil ihre Fähigkeiten für viele Bereiche ein echter Gewinn sind. Firmen wie SAP, Microsoft oder IBM haben spezielle Programme für Autismus im Berufsleben gestartet.