Warum Sie von den angeblich 3.527 Feinstaub-Toten in Berlin keinen persönlich kannten
Medien berichteten zuletzt über Tausende Todesfälle durch Feinstaub – mit exakten Zahlen für jeden deutschen Landkreis. Doch diese Toten gibt es so konkret nicht. Quelle ist eine Pressemitteilung der Deutschen Umwelthilfe, in der entscheidender Kontext fehlt.
Wichtiger Kontext: Die Luftverschmutzung erhöht zwar das Risiko für tödliche Erkrankungen, aber niemand stirbt an der Todesursache „Feinstaub“ Foto: Canva
In den vergangenen Wochen waberte über Deutschland ein Feinstaubteppich. Das Umweltbundesamt (UBA) warnte, die Luftqualität sei in Deutschland gerade außergewöhnlich schlecht, wegen wenig Wind und Regen. Zahlreiche Medien griffen die Warnung auf, erklärten, was Feinstaub ist und übernahmen die Empfehlung des UBA, lieber gemütlich spazieren zu gehen, anstatt zu joggen.
So weit, so nachvollziehbar. Weniger nachvollziehbar waren die sehr konkreten Todeszahlen pro Jahr, die sich kurz darauf in verschiedenen Medien fanden. Quelle war eine Umweltschutzorganisation, die Deutsche Umwelthilfe (DUH), die am 12. Februar vermeldete:
„Bundeshauptstadt mit den meisten Todesfällen: Allein in Berlin sterben 3.527 Menschen durch Feinstaub und 1.414 durch Stickstoffdioxid.“
Damit sei die Bundeshauptstadt trauriger Spitzenreiter bei den Todesfällen durch Luftschadstoffe. Mehr noch: Der Pressemitteilung hingen zwei Excel-Tabellen mit Todeszahlen für alle deutschen Landkreise und Städte an – eine praktische Hilfestellung für Redaktionen, um das Thema mit regionalem oder lokalem Bezug aufzugreifen.
NDR-Grafik zeigte Todesfälle für verschiedene Landkreise
Der NDR berichtete daraufhin: „Konkret starben demnach 759 Menschen in Schleswig-Holstein durch Stickstoffdioxid, die meisten von ihnen (104) im Kreis Pinneberg.“ Aus den Daten erstellte der NDR außerdem zwei Grafiken zu „Todesfälle[n] durch Luftschadstoffbelastung“. Eine Einordnung der Zahlen suchen Leser:innen vergebens.
Die Nachrichtenredaktion im Deutschlandfunk rundete immerhin großzügig und relativierte, es seien „mehr als 32.000 Menschen an den Folgen von Feinstaubbelastung frühzeitig gestorben“. Unter der Meldung findet sich zwar ein Korrekturhinweis in anderer Sache, aber auch hier kein Hinweis auf das Zustandekommen der Zahlen.
„Hunderte Tote durch Luftschadstoffe in Duisburg“ entnahm die WAZ dem „Bericht der DUH“. Die „Abendzeitung“ vermeldete für München ebenfalls alarmierende Zahlen: „703 NO2-Todesfälle“ springen den Leser:innen im Titel entgegen. Man musste schon ein Weilchen scrollen, um zu lesen, „dass die Zahlen einen Wahrscheinlichkeitsbereich darstellen, die (sic!) auf statistischen Modellen beruht“.
Der Fairness halber: Auch die WAZ ergänzte in einem Absatz gegen Ende des Textes: „Bei den DUH-Zahlen handelt es sich um Berechnungen auf Basis bestimmter Annahmen, über die sich laut Experten streiten lässt, und nicht um reale Todesfälle.“
Niemand stirbt an „Feinstaub“
Denn: Die Toten, die die DUH beziffert, gibt es so konkret nicht. „Genauso wenig wie ein Pathologe auf einen Totenschein ‚zu viel Sahnetorte‘ schreibt, schreibt er ‚ultrafeine Partikel‘“, sagt die Umweltmedizinerin Claudia Traidl-Hoffmann im Gespräch mit Übermedien. Sie leitet das Institut für Umweltmedizin und Integrative Gesundheit der Universität Augsburg.
Die Autorin
Foto: Valeska Achenbach
Sigrid März arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin für verschiedene Medien zu Medizin, Biotechnologie und Insekten. Gemeinsam mit Martin Rücker hat sie die Investigativstation gegründet, ein Recherchekollektiv für evidenzbasierten Medizinjournalismus. Als Dozentin versucht Sigrid, (angehenden) Journalist:innen die Angst vor Zahlen und Studien zu nehmen. Skeptisch wird sie immer dann, wenn eine Studie zu „perfekt“ scheint.
Schon lange ist bekannt – und wissenschaftlicher Konsens –, dass Feinstaub dem Menschen schadet. Vor allem Partikel, deren Durchmesser kleiner als 2,5 Mikrometer ist – kurz: PM2,5 –, dringen ungehindert bis tief in die Lunge ein und können dort Entzündungen auslösen. Langfristig drohen Erkrankungen wie Asthma, Krebs und Schlaganfälle. Besonders gefährdet sind Menschen, die durch Vorerkrankungen belastet sind, sowie ältere und sehr junge Menschen.
Aber: Umweltforschung sei immer multifaktoriell, erklärt Traidl-Hoffmann. „Wir wissen, dass jemand, der hohen Feinstaubkonzentrationen ausgesetzt ist, zusätzlich raucht und sich ungesund ernährt, eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen Herzinfarkt hat.“ Es kämen stets viele Dinge zusammen, es geht um Risiken und Wahrscheinlichkeiten.
Die Zahlen sind grobe Schätzungen
Anders gesagt: Kein Mensch stirbt direkt an Feinstaub. Ethische Gründe verbieten es, Menschen in Experimenten gezielt und langfristig Feinstaub auszusetzen und zu schauen, was dann mit ihnen geschieht. Das wäre eine Kausalität: Jemand macht etwas und als direkte Folge daraus geschieht etwas anderes.
Die errechneten Risiken, an Luftschadstoffen zu erkranken oder sogar zu sterben, basieren auf hochkomplexen statistischen Modellen. Sie nutzen Daten zur Häufigkeit von Erkrankungen in bestimmten Regionen, Versuche mit Zellkulturen und Tierstudien. Kurzum: Die Zahlen sind Schätzungen.
Die Zahlen und Excel-Tabellen, die die DUH verbreitet hat, wurden im Dezember 2024 von der Europäischen Umweltagentur (EEA) veröffentlicht. Für die 27 Mitgliedsstaaten der EU schätzt die EEA beispielsweise eine Zahl von 239.000 Todesfällen, die im Jahr 2022 hätten vermieden werden können, wenn der aktuelle Richtwert der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für PM2,5 eingehalten worden wäre. Gleichzeitig schreibt die EEA aber auch, es gebe eine statistische Unsicherheit: Es könnten auch 182.000 oder 267.000 Menschen sein.
Von drei Szenarien nutzte die Umwelthilfe das drastischste
Auch für deutsche Landkreise veröffentlichte die EEA entsprechende und sehr genaue Zahlen, die sich auf die Feinstaubwerte 2022 beziehen. Für jeden Landkreis beziehungsweise kreisfreie Stadt errechnete die Umweltagentur, wie viele Todesfälle statistisch hätten vermieden werden können, wenn
(a) die aktuell geltenden Richtwerte oder
(b) die ab dem Jahr 2030 EU-weit geltenden Richtwerte eingehalten worden wären oder
(c) es schlichtweg gar keinen Feinstaub in der Luft gegeben hätte.
Für Berlin heißt das im letzteren Fall: Gäbe es gar keinen Feinstaub, wären „konkret“ geschätzt 3.527 Todesfälle potenziell vermeidbar gewesen. In den Szenarien (a) und (b) kämen die Schätzungen „nur“ auf 2.034 beziehungsweise 483 Menschen, die im Jahr 2022 möglicherweise weniger gestorben wären.
Die DUH nutzte für ihre Pressemitteilung den höchsten Wert, bezog sich also auf die möglichen zusätzlichen Todesfälle im Vergleich mit einer Welt ganz ohne Feinstaub. Auf Anfrage von Übermedien schreibt Robin Kulpa, bei der DUH stellvertretender Leiter Verkehr und Luftreinhaltung, das von ihnen betrachtete Szenario analysiere nicht nur Belastungen oberhalb der Grenzwerte, sondern die Gesamtwirkung aller Luftschadstoff-Konzentrationen – jedes Mikrogramm weniger sei gut für die Gesundheit.
Eine Welt ohne Feinstaub gibt es nicht
Es liegt im Interesse der Umwelt- und Verbraucherschutzorganisation, die Situation so dramatisch wie möglich darzustellen, um umso dringlicher bessere Maßnahmen gegen Luftverschmutzung zu fordern. Aber dass es gar keinen Feinstaub gibt, ist schlicht unrealistisch, weil es auch natürliche Emissionen gibt, die sich gar nicht verhindern lassen, zum Beispiel aus Vulkanen, durch Bodenerosion oder wegen Wald- und Buschfeuern. Diese Einordnung fehlte in der Pressemitteilung und in der Berichterstattung.
Es gibt aber auch Kritik an den Schätzungen selbst. So rechnet die EEA unter anderem mit der Kennziffer „Verlorene Lebensjahre“ und definiert diese als „eine Schätzung der durchschnittlichen Anzahl zusätzlicher Jahre, die Menschen in einer Bevölkerung statistisch gesehen gelebt hätten, wenn sie nicht vor Erreichen einer bestimmten statistischen Lebenserwartung gestorben wären“. Das ist – vorsichtig ausgedrückt – recht schwammig und für Nicht-Statistiker kaum greifbar.
So funktionieren Modellierungen aber nun einmal: Forschende definieren Grundannahmen und Kennziffern, beziehen Studien, Ergebnisse von Experimenten und viele weitere Faktoren mit ein und – schätzen. Das ist durchaus legitim. Umweltmedizinerin Traidl-Hoffmann ist überzeugt, dass die Todes- und Erkrankungszahlen wahrscheinlich noch viel höher liegen, weil zurückhaltend gerechnet werde. Sie sagt: „Das Erkrankungsrisiko durch Umweltfaktoren wird selbst von Ärztinnen und Ärzten bis heute unterschätzt.“
In der DUH-Meldung hapert es allerdings an entsprechender Einordnung: Sie schreibt konsequent von „Todesfällen“, „Feinstaub-Toten“ und „konkreten Zahlen“. Mehr noch, der Verband macht sich zwei Effekte zunutze: Die bis auf die Einerstelle exakten Zahlen suggerieren eine Genauigkeit, die Vertrauen schafft. 3527 Tote klingen glaubwürdiger und verbindlicher als „rund 3500 Tote“. Und: Wenn diese Menschen auch noch in „meiner“ Stadt „gestorben“ sind, in meiner Hood, schafft das Nähe, Identifikation und – erneut – Verbindlichkeit. Diese Zahlen gehen direkt ins Herz.
Auf die Übermedien-Anfrage an die DUH, warum sie den Eindruck von tatsächlichen Todesfällen erweckt, schreibt Kulpa, man habe das Wording und die Zahlen der EEA übernommen. Auch die schreibe von „durch Luftschadstoffen verursachten Todesfällen“ und nenne konkrete Zahlen. Die Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung und gesundheitlichen Folgen seien eindeutig belegt.
Die einseitige Verbreitung von Zahlen kann man einem Lobbyverband durchaus nachsehen, der eigene Interessen verfolgt. Nicht jedoch Medien, die solche Zahlen und Aussagen aufgreifen und unkritisch wiedergeben. Journalist:innen und Redakteur:innen haben eine Sorgfaltspflicht, Quellen genau zu prüfen – auch auf deren mögliche Interessen. Dass gerade Studien und Statistiken oft unkritisch übernommen werden, haben wir bei Übermedien allerdings schon oft berichtet, ob es nun um Femizide, das Oktoberfest oder repräsentative Umfragen geht.
Die Verlockung ist groß, keine Frage. Dramatische Schlagzeilen werden häufiger geklickt. Selbst bei Texten, die minimal einordnen, bleiben am Ende die (angeblichen) Todeszahlen hängen. Das ist grob irreführend – und verspielt das Vertrauen der Leser:innen.
Wie gute Einordnung aussieht
Es geht übrigens auch anders: Die „Hessenschau“ des Hessischen Rundfunks hat einen Arzt um Einordnung der DUH-Zahlen gebeten, der bestätigt: „Es seien Schätzungen, die das Problem verdeutlichten, aber keine direkte Kausalität belegen könnten.“
Die „Braunschweiger Zeitung“ erklärte, wie die Zahlen zustande kommen, und kritisierte zugleich: „Die exakte Angabe von Todesfällen als Folge von Luftverschmutzung gaukelt wissenschaftliche Genauigkeit nur vor.“ Eine solche Einordnung sollte jedoch nicht als Kommentar – und dementsprechend Meinungsbeitrag – erscheinen, sondern den Zahlen direkt zur Seite gestellt werden – wenn Redaktionen sich entscheiden, solche Zahlen unbedingt aufgreifen zu müssen.
Und auch das hätte man erwähnen können: Nur eine Woche nach seiner Warnung wegen der hohen Feinstaubbelastung titelte das Umweltbundesamt: „2024 erstmals alle Grenzwerte zur Luftqualität eingehalten“. In Deutschland nahm außerdem die Belastung mit Feinstaub in den vergangenen 30 Jahren stetig ab. Das sind positive Nachrichten, auch wenn sie natürlich nicht alle Schadstoffprobleme der Welt über Nacht lösen.
Dass Feinstaub und auch andere Luftschadstoffe dauerhaft reduziert werden müssen, darin sind sich alle Expert:innen einig. Auch die WHO schreibt – trotz der vorhandenen Richtwerte –, dass Feinstaub vermutlich immer und bei jeder Konzentration Schäden verursacht. Sie empfiehlt deshalb, möglichst wenig Feinstaub zu produzieren.
Umso wichtiger, dass die Debatte faktenbasiert geführt wird – und keine Meldungen von Lobby-Organisationen ungeprüft verbreitet werden.
5 Kommentare
In dieser Excel (respektive LibreOffice Calc) basierten Welt, mit der eine Zahl auf dem Tabellenblatt als Ergebnis für jeden Menschen interpretierbar erscheint, ein prima Beitrag zum allgemeinen Verständnis von komplexen Zusammenhängen.
Ich erinnere mich noch gut an die Verwunderung – war es die WHO? – als die Aussage veröffentlicht wurde, dass rotes Fleisch krebserregend ist.
mein bruder ist, war asthamatiker.
er lebte nahe kiel.
da hing wochenlang eine glocke aus dreck…
mitte februar starb er bei einem astmaanfall.
da wird auf einmal „statistik“ sehr konrekt.
wie? man kann nicht beweisen, dass er gestorben ist wegen der wochenlangen dunstglocke?
okay. ist mir aber (un-)herzlich egal, dass man den zusammenhang nicht beweisen kann. dass er nur eine nummer, ein teilnehmer, in der statistik ist, das ist mir nicht egal…
Ist die DUH eine Lobby-Organisation? Wessen Interessen vertritt sie denn?
Hauptproblem hier, die Größenordnung ist korrekt. Man kann hin und her diskutieren, aber Feinstaub Sterberate liegt weit über den Verkehrstoten, weit weit über den Toten der Tötungsrate (terror mord etc).
Eigentlich ist des Thema also weit unterberichtet und unterbewertet.
naja ..
> Doch diese Toten gibt es so konkret nicht
das fällt eine höfliche erwiderung schwer. es gibt also keine feinstaub-toten. es gibt auch keine sonnenbrand-toten. auch keine tabakrauch-toten.
die tatsache, dass die DUH genaue zahlen verwendet, dazu zu benutzen, die aussagekraft solcher DUH-mitteilungen zu diskreditieren, ist sehr kleinkariert und mies.
In dieser Excel (respektive LibreOffice Calc) basierten Welt, mit der eine Zahl auf dem Tabellenblatt als Ergebnis für jeden Menschen interpretierbar erscheint, ein prima Beitrag zum allgemeinen Verständnis von komplexen Zusammenhängen.
Ich erinnere mich noch gut an die Verwunderung – war es die WHO? – als die Aussage veröffentlicht wurde, dass rotes Fleisch krebserregend ist.
mein bruder ist, war asthamatiker.
er lebte nahe kiel.
da hing wochenlang eine glocke aus dreck…
mitte februar starb er bei einem astmaanfall.
da wird auf einmal „statistik“ sehr konrekt.
wie? man kann nicht beweisen, dass er gestorben ist wegen der wochenlangen dunstglocke?
okay. ist mir aber (un-)herzlich egal, dass man den zusammenhang nicht beweisen kann. dass er nur eine nummer, ein teilnehmer, in der statistik ist, das ist mir nicht egal…
Ist die DUH eine Lobby-Organisation? Wessen Interessen vertritt sie denn?
Hauptproblem hier, die Größenordnung ist korrekt. Man kann hin und her diskutieren, aber Feinstaub Sterberate liegt weit über den Verkehrstoten, weit weit über den Toten der Tötungsrate (terror mord etc).
Eigentlich ist des Thema also weit unterberichtet und unterbewertet.
naja ..
> Doch diese Toten gibt es so konkret nicht
das fällt eine höfliche erwiderung schwer. es gibt also keine feinstaub-toten. es gibt auch keine sonnenbrand-toten. auch keine tabakrauch-toten.
die tatsache, dass die DUH genaue zahlen verwendet, dazu zu benutzen, die aussagekraft solcher DUH-mitteilungen zu diskreditieren, ist sehr kleinkariert und mies.