Der Autor
Lukas Heinser ist freier Journalist und Autor. Seit 2007 betreibt er das Popkultur-Blog coffeeandtv.de, von 2010 bis 2014 leitete er das BILDblog.
Bierkrüge, Lederhosen, Dirndl und vielleicht die eine oder andere Achterbahn – man muss nicht auf einem Oktoberfest gewesen sein, um recht genaue Vorstellungen davon zu haben, wie es dort zugeht; bildlich wie akustisch.
Und insofern ist es vielleicht auch wenig überraschend, was unter anderem die „Tagesschau“ am Montag auf ihrem Instagram-Kanal vermeldete:
Grundlage des Insta-Posts ist eine Pressemitteilung der Hochschule München vom vergangenen Donnerstag: Eine Studentin hatte für ihre Bachelor-Arbeit eine Befragung unter Wiesn-Kellnerinnen durchgeführt und war dafür mit einem hochschulinternen Wissenschaftspreis ausgezeichnet worden.
Lukas Heinser ist freier Journalist und Autor. Seit 2007 betreibt er das Popkultur-Blog coffeeandtv.de, von 2010 bis 2014 leitete er das BILDblog.
Vor dem Hintergrund, dass konservative Stimmen immer wieder so tun, als seien übergriffige Männer vor allem ein „importiertes“ Problem, könnte man hier tatsächlich mal kurz innehalten. Aber der Post lässt noch aus einem anderen Grund aufhorchen – vor allem, wenn man Frauen kennt, die mal irgendwo in der Gastronomie gearbeitet haben: Zumindest ich habe wirklich von keiner Freundin gehört, die nicht irgendwann mal auf die eine oder andere Art belästigt worden wäre.
Vielleicht ist es also gar kein spezifisches Oktoberfest-Problem, sondern ein grundsätzliches in der Gastronomie? Und da fehlt der krassen Zahl, die „Tagesschau“, aber auch Medien wie „Süddeutsche Zeitung“ (hinter der Paywall) und „Bild“ vermelden, dann plötzlich etwas Entscheidendes: Kontext.
In ihrer ausgezeichneten Bachelor-Arbeit setzt sich die Studentin konkret mit dem Oktoberfest auseinander: Sie arbeitet neben ihrem Studium selbst in einem der Bierzelte und hat mit ihrem Arbeitgeber ein Schutzkonzept erarbeitet. Umfassende Studien zu Belästigungen in der Gastronomie allgemein gibt es in Deutschland offenbar keine. Aber die Redaktionen könnten ja trotzdem mal wenigstens kurz googeln.
Im Frühjahr dieses Jahres sorgte eine Umfrage der Arbeiterkammer Wien für einige Schlagzeilen in Österreich, die zu dem Ergebnis kam, dass in der Gastronomie der Hauptstadt 79 Prozent der Arbeitnehmerinnen schon sexuell belästigt wurden bzw. Vorfälle beobachtet haben. Wenn man unterschiedliche Methodiken und Gruppengrößen berücksichtigt, kommt das dem Ergebnis der Münchner Befragung erstaunlich nahe — das heißt, der Alltag Wiener Kellnerinnen ist ähnlich gefährlich wie der vermeintliche Ausnahmezustand auf der „Wiesn“.
Doch womöglich ist das nicht mal ein Gastroproblem, sondern eines, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Denn laut einer Studie des Instituts für Angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule Merseburg (Zahlen bei Statista, ganze Studie als PDF) haben 97% aller Frauen mindestens schon mal irgendeine Art der sexuellen Belästigung erlebt; 89 Prozent durch anzügliche Kommentare, 86 Prozent durch unerwünschte körperliche Berührungen.
Das macht die Zahlen vom Oktoberfest und aus Wien nicht weniger schlimm, aber es würde einen Kontext schaffen. Denn dem Anschein, das Oktoberfest sei einfach ein außergewöhnliches Hochamt der Übergriffigkeit, könnte so nicht mehr entstehen – vielmehr müssen Frauen (bzw. weiblich gelesene Personen) immer damit rechnen, Opfer solcher Übergriffe zu werden, egal ob gerade Tausende Betrunkene in einem Bierzelt sitzen oder ein einzelner Mann in der Nähe ist.
Der konkrete Fall steht für ein größeres Problem, das man immer wieder bei Social-Media-Posts, auch von eigentlich seriösen Medienmarken, beobachten kann: Dort stehen dann irgendwelche Zahlen, die auf den ersten Blick beeindruckend, schockierend oder einfach nur hoch (oder niedrig) wirken, aber die wenigsten Zahlen helfen einem, irgendetwas zu verstehen, wenn sie ganz alleine auftreten.
Dass der Amazonas-Regenwald in den letzten 40 Jahren um 88 Millionen Hektar „geschrumpft“ ist, wird durch die Formulierung „Das entspricht der Fläche Deutschlands und Frankreichs“ zwar deutlich greifbarer, aber wäre es nicht auch interessant zu erfahren, dass das fast 15 % seiner Gesamtfläche sind?
Dass das Porto für einen Standardbrief im kommenden Jahr um 10,5% steigen soll, ist vielleicht ein bisschen besser einzuordnen, wenn man erstens dazu schreibt, was das in absoluten Zahlen bedeutet (von aktuell 85 Cent auf dann wahrscheinlich 94 Cent), und zweitens Vergleiche mit anderen europäischen Staaten zieht, wo Deutschland selbst nach einer solchen Preiserhöhung immer noch im unteren Drittel läge.
Aber vielleicht muss man auch Social-Media-Posts im Kontext sehen: Womöglich sind die Arbeitsbedingungen in den Redaktionen einfach nicht so, dass man auf Instagram oder anderen Portalen Journalismus im klassischen Sinne erwarten darf.
Offenlegung: Ich arbeite frei für den Norddeutschen Rundfunk, der auch die Angebote der „Tagesschau“ verantwortet.
Muß man das nicht auch in einen zeitlichen Zusammenhang bringen?
Belästigung von 76% der Wiesn-Kellnerinnen über einen Zeitraum von (wie lange dauert die Wiesn?) vielleicht vier Wochen erscheint mir doch deutlich mehr (schlimmer), als 97% aller Frauen während ihres ganzen Lebens (ja, diese Zahl finde ich auch erschreckend und will ich hiermit nicht kleinreden).
Ich denke „Wiesn-Kellnerin“ zu sein, ist schon gefährlicher als generell Frau zu sein.
Und deshalb glaube ich, dass es zwar nicht nur ein Gastroproblem ist, aber in der Gastronomie und vielleicht auch speziell auf solchen Großveranstaltungen ein deutlich größeres Problem ist, als im täglichen Leben.
Ja, danke dafür.
Was soll „schon mal“ denn überhaupt heißen? Einmal im letzten Jahr? Mindestens auf einem Oktoberfest? Einmal in ihrem Berufsleben als Kellnerin? Einmal in ihrem Leben?
Apropos Kontext:
Könnte es sein, dass sexuelle Belästigung eine andere Schwellenhöhe auf der „Wiesn“ und/oder im Fasching hat, als in der Durchschnittsgastronomie?
Ich weiß ja nicht, wie das heute ist, aber früher war jedes Schützenfest oder jede Karnevalssitzung immer auch ein Hochamt für pädophil veranlagte Lustgreise, die Teenager abfüllten.
Vielen Dank für diesen Artikel.
Zugegeben, ich hatte das schon fast vergessen. Deshalb umso erfreulicher, wenn es mal wieder in Erinnerung gerufen wird. Es war ja schon 2016, als nach den wenigen Ordnungswidrigkeiten zu Silvester auf der Kölner Domplatte die Hochintelligenz des aufgeklärten urbanen Milieus darauf aufmerksam machen musste, dass das dort Kindergeburtstag war im Vergleich zu den tausend … auch, was sag ich … millionenfachen Vergewaltigungen beim Oktoberfest.
Und übergriffige Männer sind natürlich kein „importiertes“, sondern vorwiegend ein zugewandertes Problem.
Was ich im Artikel vermisst habe:
1. Es fehlt der Hinweis, dass sexuelle Belästigung immer noch ein Tabuthema ist.
2. Zwar hat die Studie des Instituts für Angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule Merseburg festgestellt, 97% aller Personen mit Uterus haben mindestens schon mal irgendeine Art der sexuellen Belästigung erlebt. Man sollte aber nicht verschweigen, dass dies nur der kleinste Teil ist. Die meisten gebärfähigen Körper sind nämlich aus Angst und Scham nicht bereit, über ihre traumatischen Erfahrungen zu sprechen; deshalb müssen wir davon ausgehen, dass die tatsächlichen Fallzahlen um ein Vielfaches höher sind.
@FrankD:
„Es war ja schon 2016, als nach den wenigen Ordnungswidrigkeiten zu Silvester auf der Kölner Domplatte die Hochintelligenz des aufgeklärten urbanen Milieus darauf aufmerksam machen musste, dass das dort Kindergeburtstag war im Vergleich zu den tausend … auch, was sag ich … millionenfachen Vergewaltigungen beim Oktoberfest.“
Ich gratuliere zu Ihrem Humor ( würg ).
Man merkt zuverlässig, dass jemandem nicht an Information-, sondern an Agitation gelegen ist, wenn diese Person meint, so einen Vorfall „scherzhaft“ aufgreifen zu müssen. Mir wäre auf jeden Fall kein Beispiel bekannt, wo das jemals anders gewesen wäre.
Und natürlich war der Ablauf ein anderer:
Darauf, dass angeblich sexuelle Gewalt nur ein importiertes Phänomen sei, wurden Beispiele dafür, dass sie auch in unserer Kultur ein weit verbreitetes Übel sind angebracht.
Im Prinzip ist es derselbe Impuls, aus dem heraus Antisemitismus, ausgerechnet von Deutschen, als ein rein importiertes Übel ge“framed“ wird.
Bei solchen „nackten Zahlen“ fehlen regelmäßig noch mehr Differenzierungen. Meist sind diese in den zugrundeliegenden Studien zwar enthalten, aber in die Schlagzeilen kommt nur die große, angeblich schockierende Zahl.
1. Differenzierung: Lebenszeitprävalenz (also einmal im ganzen zurückliegenden Leben) oder Anzahl der Vorkommniss(e) in einem bestimmten Zeitraum (zB letzte Woche, auf der Wiesn, also 16 Tage Oktoberfest oder im letzten Jahr).
2. Differenzierung: WAS ist passiert? Jede sexuelle Beläsztigung und jeder Übergriff ist per se „schlimm“, aber zum Konrext gehört auch, WIE schlimm es war. Zwischen einer Vergewaltigung, sexuellen Nötigung, einer übergriffigen Körperberührung oder einer verbalen sexuellen Belästigung bestehen Unterschiede im Schweregrad, die fortfallen, wenn man nur die Gesamtzahl aller Belästigungen zitiert. Kriminologische Erfahrung: Die weniger schwerwiegenden Übergriffe sind häufiger, am häufigsten sind verbale Attacken.
Wenn die angegebenen 3/4 aller Wiesn-Kellnerinnen also Lebenszeitprävalenz (mind. ein Vorfall auf allen Oktoberfesten, bei denen sie bedient haben) und alle sexuellen Übergriffe – einschl. verbaler Angriffe – bedeuten, dann ist das tatsächlich ein eher geringer Wert. 1/4 haben so etwas wirklich NIE erlebt? Das Oktoberfest ist nüchterner als ich dachte.
Als Münchnerin kann ich zumindest sagen, dass sexuelle Belästigung einfach allgegenwärtig ist auf der Wiesn. Ja, das ist sie auch im täglichen Leben, leider immer noch. Aber wenn man sich im Festzelt durchs Gedränge schiebt, hat man mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit mindestens eine Hand am Hintern. Und ich kenne keine andere Situation, in der das so weit verbreitet auch als „mei, des is halt so, irgendwas geht immer, gell?“ wahrgenommen wird. Wehrt man sich gegen Übergriffigkeiten, bekommt man zu hören „jetzt hab di halt ned so, is doch Wiesn“. Mich wundert eher, dass nicht 100% der Bedienungen sexuelle Übergriffe angegeben haben. Ich kann mich an keinen Besuch in einem überfüllten Festzelt erinnern, an dem ich nicht mindestens einmal angegrapscht worden wäre. Ich gehe deshalb längst nicht mehr hin. Dass sich das seither gebessert hat, halte ich für unwahrscheinlich.
„Darauf, dass angeblich sexuelle Gewalt nur ein importiertes Phänomen sei, wurden Beispiele dafür, dass sie auch in unserer Kultur ein weit verbreitetes Übel sind angebracht.“
Die Frage bei solchen Argumenten ist aber regelmäßig, was die Konsequenz sein soll: „Weil ‚wir‘ uns nicht um die eine Sache kümmern, brauchen ‚wir‘ uns nicht um die andere zu kümmern“, oder „Weil ‚wir‘ uns nicht um die andere Sache kümmern, brauchen ‚wir‘ uns nicht um die eine zu kümmern.“? Kann ja sein, dass das anders gemeint ist, aber effektiv wird dergleichen von beiden Seiten als Derailing verwendet.
Disskläimar:
Ich will das Oktoberfest keineswegs verteidigen; meinetwegen kann jede Veranstaltung, die nur mit Alkohol erträglich ist, mangels Besucher(innen)zahlen gecäncelt werden.
Zitat Mycroft:
„Weil ‚wir‘ uns nicht um die eine Sache kümmern, brauchen ‚wir‘ uns nicht um die andere zu kümmern“, oder „Weil ‚wir‘ uns nicht um die andere Sache kümmern, brauchen ‚wir‘ uns nicht um die eine zu kümmern.“?“
Wer kümmert sich und wer kümmert sich nicht?
Was ist denn Ihr Anteil am Kümmern?
Menschen, die aktiv gegen sexualisierte Gewalt sind, machen keinen Unterschied, ob der Herkunft der Täter.
Menschen, die einen Unterschied machen, sind nicht aktiv gegen sexualisierte Gewalt, sondern suchen einen Vorwand, um gegen Menschen aktiv zu sein, die ihnen nicht passen, egal ob Täter oder nicht.
Wer das nicht begreift, kann zu diesem Thema auch nichts beitragen.
„Wer kümmert sich und wer kümmert sich nicht?“
Keine Ahnung? Sie erzählten weiter oben, wie Sie früher zugesehen haben, wie Pädophile bei Karneval und Schützenfest Jugendliche abfüllten.
„Was ist denn Ihr Anteil am Kümmern?“
Ich bin kein Polizist, und ich besuche besagte Veranstaltungen auch nicht privat. Man könnte sagen, ich boykottierte sie. Umgekehrt bin ich aber auch nicht gegen Migranten. Sexuelle Gewalt oder Gewalt allgemein ist mWn strafbar, egal von wem sie kommt, also sollte man vllt den Ansatz weiterverfolgen.
„Menschen, die aktiv gegen sexualisierte Gewalt sind, machen keinen Unterschied, ob der Herkunft der Täter.“
Das mag so sein, aber die meisten gehen nur passiv gegen sexualisierte Gewalt vor. Bzw., sie instrumentalisieren sie, um auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu schimpfen. Und dann kommt der Einwand „Wer nur Übergriffe durch Moslems kritisiert, aber nicht durch Oktoberfestbesucher, ist rassistisch.“ der in dieselbe Schiene geht, weil er auf die Gruppe abzielt, nicht auf die Individuen. Darauf kommt möglicherweise die Reaktion: „Ok, dann kritisiere ich auch das Oktoberfest.“ oder aber „Ok, dann kritisiere ich am besten gar keine Übergriffe, um auf Nummer sicher zu gehen.“, aber am aktiven Kampf ändert sich nichts.
„Wer das nicht begreift, kann zu diesem Thema auch nichts beitragen.“
Das habe ich durchaus begriffen. Aber gerade, weil das so ist, bringen solche Vergleiche wie „Karneval schlimmer als Oktoberfest!“ oder „Schützenfest schlimmer als Silvester in Köln!“ nichts.
Persönlich bin ich der Auffassung, dass zumindest ein Bierzelt auf dem Oktoberfest das Problem leicht lösen könnte, wenn es wollte, aber ich bin ja nur ich.