Erregung und Ärgernis (8)

WTF: Wenn Medien Social-Media-Posts nacherzählen

Irgendjemand meckert auf Social Media herum und klassische Medien machen daraus sofort eine Story. Das Problem: So werden gesellschaftlich relevante Themen wie Arbeit oder Soziales auf ihr Empörungspotenzial reduziert. Über eine beliebte Form journalistischer Arbeitsverweigerung.
Screenshots: BZ, Stern.de, Watson, t-online; Montage: Ü

Ende Januar setzte Kai-Gunnar Hering, Geschäftsführer der Hamburger Dewon Media GmbH, einen Post auf LinkedIn ab. Dieser beginnt emotional und grundsätzlich: „Ich bin sauer! 😡 Wir müssen endlich aufhören, so zu tun, als wäre Homeoffice jemals eine gute Idee gewesen.“ Eine Mitarbeiterin habe, behauptet Hering, im gemeinsamen Bürokalender „Friseur Strähnchen machen“ eingetragen, und das mitten in ihrer Arbeitszeit. Dazu gibt es ein angebliches Beweisfoto des Kalenders, wo der Eintrag rot umkringelt und mit „WTF“ kommentiert wird.

Für Hering ist die Geschichte Anlass für theatralische Entgeisterung („Wie bitte?“ „Irrsinn. Einfach Irrsinn.“), ein Beispiel dafür, was wohlmeinenden Arbeitgebern in der heutigen Zeit alles angetan wird. Er arbeite jeden Tag hart, stehe früh auf, sorge dafür, dass die Dinge laufen: „Und dann gibt es Menschen, die das Homeoffice als Freifahrtschein nutzen, um Termine in die Arbeitszeit zu legen und möglichst wenig zu arbeiten.“

Ein viraler Post zieht Medien sofort an

Herings Wutausbruch löste auf LinkedIn eine heftige Debatte mit tausenden – oft auch kritischen – Kommentaren aus. Unter anderem meldete sich Carsten Maschmeyer zu Wort. Ein solcher viraler Erfolg rief dann auch die Medien auf den Plan, die über den Fall berichteten. Neben Watson, T-online, Blick, Standard, Stern und BZ gehörte dazu auch der NDR, der dem erzürnten Unternehmer direkt einen Besuch abstattete.

Im Beitrag darf Hering dann noch mal streng in den Computer schauen und sein Leid klagen; dazu ein paar O-Töne von den Hamburger Straßen („Alle schummeln bei der Arbeitszeit“), ein Mini-Interview mit einem Anwalt für Arbeitsrecht und einer Kulturwissenschaftlerin und dann sind die zwei Minuten auch schon wieder um. Bleibt nur noch Zeit für ein paar letzte Bilder aus Herings Unternehmen und den Schlusskommentar, der Hering als strengen, jedoch gnädigen Chef erscheinen lässt: „Der Mitarbeiterin im Homeoffice mit den frischen Strähnen hat der Unternehmer Kai-Gunnar Hering aus Hamburg nicht gekündigt. Aber mit seinem Team ein ernstes Gespräch geführt.“

WTF: Mit diesem Screenshot illustrierte Unternehmer Hering seinen Post. Foto: LinkedIn/Hering

Umfangreicher kommt Hering dann in einem Interview bei Zeit Online zu Wort. Auch hier hat man ein ausgesprochen offenes Ohr für die Sorgen und Nöten des wütenden Chefs. Überschrieben ist das Interview mit einem Zitat, das direkt aus dem LinkedIn-Post in das Qualitätsmedium herübergerettet wurde: „Für manche ist das Homeoffice ein Freifahrtschein.“

Die wichtigste Frage fehlt

Wer nur das Interview liest, ohne den Post zu kennen, der gewinnt den Eindruck, dass es sich bei Herings Wortmeldung um eine nachdenkliche Reflexion über die Vor- und Nachteile des Homeoffice handelt und nicht um eine rasende Polemik. Hier darf er sich als nachdenklicher, humorvoller Chef inszenieren, der einfach nur eine Debatte anstoßen wollte. Er sei nicht grundsätzlich gegen Homeoffice, halte Bürokultur aber nun einmal für wichtig: „Der Austausch untereinander, das gemeinsame Mittagessen oder Feierabendbier. Das ist alles zentral fürs Teamgefühl und wird heutzutage oft vernachlässigt, weil es so normal geworden ist, remote zu arbeiten.“

Man hätte spätestens an dieser Stelle einhaken können, um zu fragen, was es mit dem Teamgefühl macht, die eigenen Mitarbeiterinnen in öffentlichen Posts zu demütigen. Aber kritische Fragen sind in diesem Interview nicht vorgesehen. Vor allem wird die vielleicht wichtigste Frage gar nicht gestellt, nämlich, ob sich das wirklich so zugetragen hat. Es bleibt dem Bericht auf T-online überlassen, zumindest darauf hinzuweisen, dass in den Kommentaren auch vermutet wurde, es könnte sich um eine Erfindung, also um reines ‚Rage Bait‘ (auf Deutsch etwa: Empörungsköder) handeln.

Selbst zu Wort kommt die Mitarbeiterin jedenfalls nur über den Umweg der Rollenprosa ihres Arbeitgebers: „Ich habe sie gefragt, ob ich das Bild anonymisiert und geschwärzt teilen darf. Sie fand das sinnvoll für die Debatte.“ In der Erzählung des Chefs, die hier ungeprüft übernommen wird, macht die faule Mitarbeiterin plötzlich alles richtig, zeigt Verständnis und nimmt die Debatte „mit Humor“. Es ist erstaunlich, wie kohärent, ja märchenhaft eine Geschichte ausgehen kann, wenn man eine einzelne Person das Narrativ allein bestimmen lässt.

Kurze Zeit später veröffentlichte Hering auf LinkedIn ein Bild, auf dem er mit triumphierendem Grinsen einen eingerahmten Ausdruck seines Posts an die Wand hängt. Das Foto zeigt einen Mann, der sein Glück über seinen viralen Erfolg kaum fassen kann. Zu diesem Glück gehört allerdings auch, dass „Zeit Online“ und NDR diese Geschichte mit medialer Aufmerksamkeit ausstatten und mit Relevanz adeln, ohne sie auch nur ansatzweise zu hinterfragen. Im Kommentar zu dem Foto scherzt Hering, er müsse sich bei der gesamten LinkedIn-Community entschuldigen: „Ich lag falsch. Es heißt heute natürlich nicht mehr ‚Strähnchen‘, sondern ‚Balayage‘. Mein Fehler.“ Aber, fügt er feixend hinzu: „Ob Strähnchen, Balayage oder Babylights – mal ehrlich, ich bin kein Friseur, ich bin Marketingexperte.“

Social-Media-Posts werden einfach nacherzählt

Nun könnte man direkt anmerken, dass es ja nicht sein Fehler gewesen sein sollte, sondern der jener Mitarbeiterin, die ‚Strähnchen machen‘ angeblich in den Bürokalender eingetragen hat – aber solche Feinheiten wirken geradezu pedantisch in einem medialen Umfeld, in dem es vor allem darum zu gehen scheint, den emotionalen Vibe einer Debatte aufzugreifen.

Dabei wäre der Auftritt Herings ein Fall, an dem man mit tieferer Analyse sehr viel zeigen könnte. Etwa über die wundersame Welt von LinkedIn, in der die Rollenvermischung von Arbeitgeber, Manager und Life Coach eine Kultur hervorbringt, in der jeder Mensch der Guru seiner eigenen kapitalistischen Sekte sein kann, ein Prophet leistungsbasierter Marketingideologie. Stattdessen wird aber einfach nur über ein schnelles Interview oder einen kurzen Beitrag das Ressentiment abgefragt, das im LinkedIn-Post bereits zum Ausdruck kam. Aus Mediensicht heißt das: Frau lässt sich während der Arbeitszeit Strähnchen machen, Chef war sauer – das ergibt eine schnell umzusetzende Fallgeschichte, die ein kontroverses Thema wie „Homeoffice“ auf eine witzige und interessante Art und Weise zu illustrieren vermag.

So illustriert der Fall des viralen LinkedIn-Posts die Arbeitsverweigerung eines Debattenjournalismus, der Dingen, die in der (digitalen) Öffentlichkeit passieren, einfach nur hinterherberichtet, statt zu recherchieren oder zu analysieren. Indem man ein Reizthema wie „Homeoffice“ nur aufgreift, Social-Media-Posts und ihre Kommentare einfach nacherzählt, und die Akteure unhinterfragt zu Wort kommen lässt, beteiligt man sich zwar daran, das Thema in den Diskurs zu drücken, allerdings ohne das Nachdenken und Sprechen über dieses Thema in irgendeiner Weise aufzuwerten.

Ressentiments statt Recherche

Unsere Weltwahrnehmung wird die meiste Zeit von vagen Ressentiments und Vorannahmen gesteuert. Sie beruhen auf Geschichten, die wir in unserem Umfeld hören, oder durch Filme und Serien, die wir schauen, oder eben durch Dinge, die wir im Internet gelesen haben. Dabei entwickeln sich Reizthemen, die besonders viel Diskussion erzeugen, weil sie den Alltag zahlreicher Menschen betreffen oder politische Emotionen triggern.

Eine Geschichte über eine Mitarbeiterin, die sich während der Arbeitszeit die ‚Strähnchen‘ machen lässt, aktiviert zum Beispiel die Vorstellung, dass sich die Menschen im Homeoffice einen faulen Lenz machen, sie mobilisiert möglicherweise auch den Ärger über die faulen Kollegen, die viel weniger arbeiten als man selbst, oder ganz allgemein den Zorn auf Menschen, die in einer Gesellschaft, die den Wert einer Person über ihren Arbeitseifer definiert, nicht genug arbeiten.

Vielleicht aktiviert sie bei manchen aber auch ganz spezifische Ressentiments gegen die „Ladys“, die sich lieber „Strähnchen machen“ lassen, als in der modernen Arbeitswelt ihren Teil beizutragen. Es handelt sich dabei nicht um eine kohärente oder stabile Vorstellung, sondern um ein weiches Gemisch aus politischen und emotionalen Zutaten, das durch einen ständigen wirren Zustrom an Informationen, Meinungen und Narrativen angereichert wird.

Journalismus sollte sich an diesem Zustrom nicht einfach beteiligen. Er sollte die Ressource Aufmerksamkeit und den Status der Relevanz nicht wahllos an Geschichten verteilen, die ein Reizthema aufreizend machen und viele Kommentare generieren. Gerade Arbeit ist eines der wichtigsten Themen der Gegenwart und wird trotzdem viel zu oft auf eine eigentümliche Lifestyle-Art und Weise erzählt. Etwa in den unzähligen Artikeln zum Fantasiebegriff „Quiet Quitting“, oder in der Art, wie über den hohen Krankenstand berichtet wird. Die Arbeitswelten und Arbeitskämpfe, die den Alltag aller Menschen bestimmten, haben es aber verdient, auf eine ernsthafte, sorgfältig recherchierte und analytisch tiefgehende Art journalistisch behandelt zu werden.

8 Kommentare

  1. Ich frage mich ja auch, wie viel Prozent der Gesamtbevölkerung C. Lindner wohl mit „100% geben – auch für meinen Job!“ zu erreichen glaubt?
    Es können nicht alle Arbeitgeber sein, irgendwer muss ja auch arbeiten.

    Aber Arbeitgeberverbände sind da wie Bauernverbände: Wenn die mal nicht klagen, ist was nicht in Ordnung.
    Unter „Deindustrialisierung“ machen die es ja auch gar nicht mehr. Wetten, die Vokabel wird ab Sonntag 4 Jahre lang niemand mehr beutzen, außer AFD?

    „100% geben“ ist übrigens die vertragsgemäße Erfüllung der Pflichten.
    Aka. „Dienst nach Vorschrift“, aka. „The bare minimum“
    Wenn mein Arbeitgeber mehr als 100% will, muss er auch mehr als 100% zahlen. Aber die Korrelation hören die Arbeitgeber nicht gerne.

    Das miese immer an diesem ragebait:
    Die Kommunikation ist immer, Schwache gegen Schwächere auszuspielen. Ausgenutzt wird das fehlgeleitete Gerechtigkeitsgefühl. Ähnlich, wie in der Bildzeitung: Den Arbeitslosen einreden, dass der Ausländer dran Schuld ist, weil er ja viel mehr vom Staat kriegt. *zwinkersmilie*

    Anekdotisch:
    A. darf seitens Abteilungsleiter 1 Tag HO machen. B. wollte auch am gleichen Tag HO machen, durfte nicht. B. rennt zu Ober-Chef „Die darf, aber ich nicht“. Jetzt darf keiner mehr, generell nicht.
    Schmankerl: B. ist im Personalrat.
    Wat willste mit solchen Leuten?

    Da denk ich dann auch direkt an den Deutschlandflüchtling vom Vermietertagebuch. Wie kann man sowas ernst nehmen?

  2. Was durchaus auch möglich wäre, ist dass die Frau in ihrer Freizeit, aka „nicht eingelogged“, zum Friseur gegangen ist und ihre Abwesenheit eben im Teamkalender verkündet hat.
    Kann dann natürlich auch sein, dass das gegen die vereinbarten Kernarbeitszeiten verstößt und deshalb genehmigt werden muss.
    Wissen wir leider alles nicht, weil da nur Journalismus vorgetäuscht wird.

  3. @Simon H

    So habe ich mir das auch in etwa gedacht. Wäre schon sehr seltsam, wenn jemand während seiner abgerechneten Arbeitszeit zum Friseur geht und das noch für den Arbeitgeber sichtbar einträgt. Das dürfte ja mal mindestens ein Abmahngrund sein, wenn es vielleicht noch in Verbindung mit anderen Vorfällen steht, fliegt man womöglich sogar. Und dem entsprechenden Ausgangspost lässt sich dann auch tatsächlich entnehmen, dass der Chef einfach nur infragestellt, dass seine Mitarbeiterin angesichts eines Friseurtermins von 9-13 Uhr auf die vereinbarte Arbeitszeit kommt. Der Titel müsste also lauten: „Chef vertraut Mitarbeiterin nicht“. Oder auch: „Chef vertraut Mitarbeiterin nicht und ist auch nicht in der Lage, ihre Arbeitsergebnisse aus dem Homeoffice zu bewerten“. Klingt nach einer vielversprechenden Story…

  4. Ich kenne einen Fall von: „Chef installiert Kontrollprotokoll auf HO-Laptop nicht. Chef misstraut Mitarbeiterin (angeblich). Chef droht, als diese den Aufhebungsvertrag nicht unterschreiben will, mit Strafanzeige wegen Arbeitszeitbetrug.“
    Ihr Arbeitsrechtsanwalt so: „Do, or do not. There is no Anzeigeandrohung.“
    Chefs sind oft auch einfach zu doof.

  5. Ob der Rage-Chef den LinkedIn-Post wohl in seiner Arbeitszeit oder in seiner Freizeit geschrieben hat? Und wann wurde das Interview geführt – bestimmt außerhalb der Bürozeiten, oder?

  6. Tja und wärend dessen stehen die lieben Kollegen und Kolleginnen im Büroflur und traschen ne Stunde jetzt und ne Stunde dann über die im Home Office tätigen und generell über die nicht anwesenden Kollegen. So viel zu Teamgeist und Teamgefühl. Ich jedenfalls bin über jeden Tag mobiles Arbeiten froh.

  7. Hmmm, aber solch themenbezogenes Clickbait funktioniert soooo gut. Was juckt es mich in den Fingern, hier auch meine Meinung zu Gleitzeit und Homeoffice kundzutun. Nur mit Mühe kann ich mich zurückhalten, denn es geht hier ja gar nicht um Gleitzeit und Homeoffice, sondern um den journalistischen Umgang mit viral gegangenen Aussagen aus der Social-Media-Welt.

  8. Tatsächlich war mein allererster Gedanke, dass 4h sich schon unrealistisch lang anhören, eine kurze Internetrecherche sagt, dass es max 90min dauert. Im Prinzip hat der Typ ja am Ende zugegeben, dass Ding erfunden zu haben, oder?

    Insgesamt sehr treffend wieder dieser Artikel. Das gibt es auch oft in Kurzvariante, Promi XYZ (m/w/d) schreibt irgendwas auf X.com und da wird einfach ein Kurzartikel draus gemacht. (Besonders ärgerlich, weil es noch extra Aufmerksamkeit auf diese Hirntodplattformen lenkt, wobei X eher giftig fürs Herz ist und LinkedIn giftig fürs Hirn. Diese Posts dort sind unerträglich stumpf.)

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