Der Autor

Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wieviel Aufmerksamkeit ein siebenjähriges Mädchen aus Syrien im Herbst 2016 bekam. Mit ihren Tweets aus dem Krieg wurde Bana Alamed weltberühmt; einige überhöhten sie zur „Anne Frank aus Aleppo“. Das „Time-Magazine“ wählte sie 2017 zu einer der 25 einflussreichsten Personen des Internets.
Für viele Medien war es eine unwiderstehliche Geschichte: das Mädchen, das in kurzen Sätzen und eindrucksvollen Fotos das Grauen der Belagerung des Ostens der Stadt durch syrische und russische Truppen anschaulich macht. Und gelegentlich mit Tweets wie dem überrascht, in dem sie an die „Dear World“ schreibt, es sei besser, einen dritten Weltkrieg zu beginnen, als Russland und Assad „#HolocaustAleppo“ begehen zu lassen.
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Es war natürlich unwahrscheinlich, dass es Bana selbst war, die hier in hervorragendem Englisch und mit einem Gespür für die richtige Mischung aus persönlichem Schicksal und universellem Anti-Kriegs-Pathos twitterte. Es hieß zwar, dass ihre Mutter, eine Englischlehrerin, den Account für sie betrieb. Aber die besondere Attraktivität der Tweets entstand nicht zuletzt aus der Vorstellung oder Behauptung, ein Kind hätte das alles geschrieben.
So übertrieben und problematisch die Faszination vieler Medien mit diesem Account schien, so grenzenlos war auch der Hass, den er auslöste. Fanatiker malten sich aus, was die Regierungssoldaten Bana und ihrer Mutter alles antun sollten. Andere bezweifelten, dass sie überhaupt existieren. Das Recherchenetzwerk „Bellingcat“ betrieb einen riesigen Aufwand, um zu belegen, dass es Bana tatsächlich gibt und dass sie sich in Ost-Aleppo aufhält.
Der deutsche Blogger Jens Bernert war einer von denen, die überzeugt waren, dass es sich bei dem Account um reine Propaganda handelte – für die Jihadisten, die damals Ost-Aleppo beherrschten, und befeuert von westlichen Medien, die das brutale Vorgehen des syrischen Regimes von Baschar al Assad anprangerten. Bernert beschimpfte auf seiner Internetseite „Blauer Bote“ diejenigen heftig, die die Geschichte vom twitternden siebenjährigen Mädchen erzählten und verbreiteten. Medien wie stern.de.
Den Autor eines stern.de-Artikels, der sich um den Verbleib von Bana sorgte, nachdem der Account vorübergehend stillgelegt wurde, bezeichnete der Blogger schon in der Überschrift zusammen mit dem Hashtag „FakeNews“ namentlich als „Nachrichtenfälscher“. Der Blog-Eintrag begann so:
„Marc Drewello ist Nachrichtenredakteur des Stern und produziert als solcher Falschmeldungen zu Propagandazwecken. Einen solchen haarsträubenden Fake, den neben Drewello noch unzählige andere Qualitätsjournalisten verbreiteten, ist [sic!] die Geschichte um ein angeblich siebenjähriges Mädchen namens Bana Alamed, welches angeblich aus den von den ‚Rebellen‘ gehaltenen Teilen Aleppos twittert.“
Der „Stern“ und sein Autor wollten sich das nicht gefallen lassen und zogen gegen den Text vor Gericht. Das Hamburger Landgericht und Oberlandesgericht untersagten Bernert in den ersten beiden Instanzen die Formulierung „Nachrichtenfälscher“ und „Fake-News-Produzent“ und die Behauptung, dass Drewello „Falschmeldungen zu Propagandazwecken“ produziere und eine „offenkundige Lügengeschichte“ verbreite. Der Blogger habe zwar das Recht, das Magazin für eine angeblich zu unkritische Berichterstattung zu kritisieren. Er dürfe ihm aber deshalb nicht unterstellen, absichtlich die (vermeintliche) Unwahrheit verbreitet zu haben. Das seien unzulässige Tatsachenbehauptungen, die er nicht nachweisen könne. (Übermedien berichtete.)
Dieses Urteil hat jetzt der Bundesgerichtshof (BGH) kassiert. Bernerts Formulierungen seien zulässig, weil es sich nicht um Tatsachenbehauptungen handele, sondern um Werturteile, also: um Meinungsäußerungen. Der Blogger ziehe Schlussfolgerungen daraus, dass er den stern.de-Artikel für unglaubwürdig halte, wofür er konkrete Anhaltspunkte nenne. Ob eine abwertende Meinungsäußerung über jemanden zulässig ist, hänge nicht davon ab, ob sie „wahr“ ist. Es geht in dem Urteil also nicht um die Frage, ob der „Stern“ tatsächlich Falsches berichtet hat, also zum Beispiel, ob es Bana wirklich gibt und ob sie selbst getwittert hat oder ihre Mutter das übernahm.
Es müsse allerdings eine ausreichende Tatsachengrundlage für die negativen Werturteile geben: Sie dürften nicht „willkürlich aus der Luft gegriffen“ sein. Diese Voraussetzung sieht der BGH erfüllt, weil der Blogger konkrete Anhaltspunkte für seine Kritik und Unterstellungen nenne.
Er hatte stern.de vorgeworfen, die Siebenjährige als alleinige Verfasserin der berühmten Tweets dargestellt zu haben. Der „Stern“ und die Vorinstanzen widersprachen: Es sei in dem Artikel durchaus die Rede davon, dass Bana gemeinsam mit ihrer Mutter twittere. Der BGH aber urteilte, dass man den stern.de-Artikel auch so lesen könne, dass Mutter und Tochter zwar denselben Twitter-Account nutzten, aber jeweils selbstständig ihre Meldungen verfassten und versendeten. Dass also die Tweets, die nicht den Absendernamen der Mutter tragen, tatsächlich von der Tochter stammen.
Wenn Bernert das als unwahre Information anprangert, sei das ebenfalls nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als Meinungsäußerung einzustufen, so der BGH: Für den „durchschnittlich unvoreingenommenen Leser“ liege auf der Hand, dass Bernert keine eigenen objektiven Erkenntnisse über das Mädchen hat, sondern nur eine eigene Meinung.
Das Gericht sieht in den Vorwürfen Bernerts gegen den „Stern“ auch keine unzulässige Schmähkritik. Eine „überzogene, völlig unverhältnismäßige oder sogar ausfällige Kritik“ mache eine Äußerung noch nicht automatisch zur Schmähung. Das sei erst dann der Fall, „wenn nicht die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht“.
Man könnte schon den Eindruck haben, dass das hier der Fall ist: Bernert hat in seinem Blog-Eintrag schon in der Überschrift die Sache maximal personalisiert, indem er den „Stern“-Autor namentlich als „Nachrichtenfälscher“ bezeichnet hat. Dennoch urteilt der BGH, dass der „inhaltliche Schwerpunkt“ seines Blog-Eintrags „in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Berichterstattung“ von stern.de liege.
Das Gericht räumt ein, dass Bernerts Vorwürfe den „Kern der beruflichen Integrität eines Journalisten oder Presseorgans“ betreffen. Das müsse das Medium aber in Kauf nehmen, solange eine ausreichende Tatsachengrundlage bestehe. Die Meinungsfreiheit, wie sie vom Grundgesetz gewährleistet wird, diene auch dazu, den Einfluss journalistischer Arbeit auf die öffentliche Meinungsbildung bewusst zu machen und zu kontrollieren. Das Recht des Bloggers, Kritik zu üben, gelte hier umso mehr, als es um ein Thema von erheblichem öffentlichen Interesse gehe: die Verlässlichkeit von Presseberichten über Kriegsgeschehen und die Gefahr der Instrumentalisierung von (angeblichen) Kinderschicksalen.
Bernert lege die Gründe für seine Kritik in einer Weise offen, so das Gericht, die dem Leser ein eigenes Urteil ermöglichen. „Der Artikel liefert daher einen – wenn auch zugespitzten – Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage.“
Der BGH hielt Formulierungen wie „Nachrichtenfälscher“ oder „Fake-News-Produzent“ für zulässig, obwohl man daraus den Vorwurf lesen könnte, der „Stern“-Journalist habe sich Dinge selbst ausgedacht. Schon aus dem zweiten Satz des Blog-Eintrages gehe hervor, dass der Blogger ihm lediglich die Verbreitung von Fake-News vorwerfe. (Über die eigentlichen Urheber schreibt er: „vielleicht stecken die ‚Rebellen‘, vielleicht steckt der britische Geheimdienst dahinter. Oder beide.“)
Der „Stern“ hält die Urteilsbegründung des BGH nicht für überzeugend, „da ausgerechnet der Vorwurf ‚unwahrer Informationen‘ nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als Meinungsäußerung eingestuft wird“. Auf Anfrage von Übermedien teilte eine Sprecherin mit:
„Diese Angriffe weisen wir weiterhin entschieden zurück und halten uns auch in Zukunft vor, gegen solche Beschuldigungen gerichtlich vorzugehen. Auch wird im Urteil nicht berücksichtigt, dass die Vorwürfe ein vorsätzliches Handeln unterstellen (‚fälschen‘ und ‚produzieren‘). Dafür – und das wurde von allen drei Instanzen bestätigt – gibt es keine Anhaltspunkte. Die Berichterstattung unseres Autors stellte die Situation differenziert dar. Im Übrigen bemängeln weder der BGH noch die vorherigen Instanzen unsere Berichterstattung oder teilen die Kritik des Bloggers.“
Die „Stern“-Sprecherin fürchtet, dass das Urteil auch eine negative Wirkung über den konkreten Fall hinaus haben könnte:
„Die Argumentation des BGH wird es sehr viel schwerer machen, gezielten publizistischen, propagandistischen und generell verbalen Angriffen gegen Journalisten juristisch zu begegnen.“
Markus Kompa, der Anwalt von Jens Bernert, widerspricht:
„Juristisch gesehen steht in dem BGH-Urteil nichts wirklich Neues. Es handelt es sich aus meiner Sicht um das letzte Echo aus der fragwürdigen Ära des Hamburger Richters Buske, die häufig im Widerspruch zur in Karlsruhe praktizierten Meinungsfreiheit stand. Verstörender als die frühere Spruchpraxis der Hamburger Pressegerichte wirkte auf mich der Missbrauch solch verfassungswidriger Justiz ausgerechnet durch Journalisten gegen ihre Leser. Die Arroganz des ‚Stern‘, einerseits unter dem Schutz der Pressefreiheit eine nach Kriegspropaganda riechende Rührstory ohne Recherche durchzureichen, dann aber gegenüber einem Feierabendblogger auf die Beweislastumkehr bei Tatsachenbehauptungen zu pochen und mit hohen Anwaltskosten einzuschüchtern, hat mich sprachlos gemacht.“
Tatsächlich formuliert die Entscheidung des BGH keinen neuen Grundsatz. Es ist auch kein Freibrief für die Beschimpfung von Journalisten. Das Urteil fällt nur im konkreten Fall bei vielen einzelnen Abwägungen zugunsten der Meinungsfreiheit aus. Und begründet das unter anderem mit der Notwendigkeit, Medienkritik zu ermöglichen – auch wenn sie so brachial ausfällt, wie sie Bernert formuliert. Und anders als der „Stern“ zu glauben scheint, muss ein Gericht die Kritik an einer Berichterstattung selbstverständlich nicht teilen, um sie für zulässig zu halten.
Der Furor Bernerts mag schwer nachvollziehbar sein. Er lässt sich aber auch vor dem Hintergrund einer echten Verzweiflung darüber lesen, in welchem Maße viele Medien immer wieder Geschichten wie die vom „siebenjährigen Twitter-Mädchen“ verbreiten, sich dabei teilweise nicht einmal ein Mindestmaß an Distanz und Skepsis bewahren und so, willentlich oder unwillentlich, Propaganda verbreiten.
Der Presserat sah in der Berichterstattung von stern.de übrigens kein Problem. Eine Beschwerde Bernerts wurde im September 2017 als unbegründet zurückgewiesen. In einem verkürzten Verfahren, bei dem sich nicht einmal ein Beschwerdeausschuss damit befasste, wurde festgestellt, dass die Berichterstattung nicht gegen das Sorgfaltsgebot verstoße. Sie sei „so differenziert, dass daraus nicht der Eindruck entstehe, Bana habe allein getwittert“. Der BGH fand dagegen jetzt, dass dieser Eindruck durchaus entstehen konnte.
Man kann darüber staunen, wie sehr der Bundesgerichtshof jeden einzelnen Punkt zugunsten des Bloggers ausgelegt hat und dass nicht einmal der Vorwurf, „unwahre Informationen“ verbreitet zu haben, im konkreten Fall eine Tatsachenbehauptung sein soll. Aber darin steckt auch die Ironie, auf die Anwalt Kompa hinweist, dass nach Meinung des „Stern“ der Blogger nicht etwas über den „Stern“ behaupten darf, was er nicht belegen kann; andererseits verbreitete der „Stern“ Geschichten über ein siebenjähriges Mädchen, die er nicht belegen konnte.
An der Existenz von Bana gibt es heute, acht Jahre später, keinen Zweifel mehr. 2018 trat sie bei der Oscar-Verleihung auf. Inwieweit das Mädchen Teil einer Propaganda-Kampagne war, bleibt eine Meinungsfrage.
Danke dafür. Wieder ein Erfolg für Anwalt Markus Kompa. (Er hatte mir und einem Freund auch schon bei Slap Klagen zur Seite gestanden. Ein echter und juristisch kluger Kämpfer!)
Ich finde, übermedien verflacht im Rekordtempo. Wenn jetzt sogar den Gründer laut Unterüberschrift (sorry für diesen unjournalistischen Fake-Fachausdruck) vor allem die Sorge umtreibt, nach/mit diesem Urteil wären Berichtende „Beschimpfungen ausgesetzt“, tja, diese unabhängige Justiz aber auch!
Aber klar und wow, der Stern ist ja mittlerweile mit RTL sogar Quadrell-Ausrichter … oh Sternstunde des TV-Journalismus! Somit scheint der Blogger Majestätsbeleidigung begangen zu haben. Gibt es in dem Job nicht vielleicht auch gewisse Berufsrisiken?
Die Stern-Sprecherin: „Die Argumentation des BGH wird es sehr viel schwerer machen, gezielten publizistischen, propagandistischen und generell verbalen Angriffen gegen Journalisten juristisch zu begegnen.“
Propaganda ist ein sehr dehnbarer Begriff, was publizistische/generell verbale Angriffe sein sollen… quién sabe e.V.
Frage: Genießen Journalisten eigentlich eine Art verbaler Immunität, dürfen aber ihrerseits schnell Kritiker vor den Kadi zerren (das habe ich jetzt sehr tendenziös ausgedrückt, sorry about that)?
Mir vergibt übermedien seit Neuestem viel zu viele Haltungsnoten, aber wir sind hier nicht beim Eiskunstlauf. Nicht alles am (weiten Feld des) wokism ist schlecht, diese Grünenfan-Interpretation taugt aber immer weniger. Man denke etwa an das Skandalisieren von Reichelts & Co. (sinngemäß) „Schmutzkampagne“ gegen den noch amtierenden Wirtschaftsminister, der ansonsten im säuselndsten Samtton befragt wird, gerne auch am heimeligen Herd und mit Fragen, gegen die der platteste Klatsch und Tratsch niveauvoll-überragend erscheint. Enough, renuncio!
@Earl Offa: Mich treibt nicht vor allem die Sorge um, dass nach diesem Urteil Journalisten Beschimpfungen ausgesetzt sind. Aber das ist doch ein Bemerkenswertes Urteil, das den Vorwurf, Fake News produziert zu haben, als eine Meinungsäußerung interpretiert. Und deshalb darf man die Frage stellen, ob das Urteil ein Freibrief für Beleidigungen ist. (Ist es nicht.)
Ich habe versucht, ausführlich die Argumentation des Gerichtes zu erläutern und lasse beide Seiten zu Wort kommen und habe mich mit Haltungsnoten eher zurückgehalten. Was hat mein Text mit „Wokism“ oder irgendeiner „Grünenfan-Interpretation“ zu tun?