Die Forderung nach einer „zivilisierten Debatte“ ist bloß Diskurskitsch
Natürlich möchte niemand beleidigt werden. Aber die ständige Klage über unsere angeblich verrohte Debattenkultur verharmlost die echten gesellschaftlichen Konflikte hinter den harten Auseinandersetzungen.
Es gehört zur Folklore eines Wahlkampfes, auch um die Umgangsformen zu kämpfen, die in diesem Wahlkampf herrschen. Berühmt ist Michelle Obamas Rede aus dem Jahr 2016, in der sie verkündete: „When they go low, we go high.“ Soll heißen: Wenn der Gegner zu unlauteren Mitteln greift, darf man nicht mit den gleichen Mitteln zurückschießen, sondern muss sich umso mehr auf die Tugenden des demokratischen Austauschs besinnen.
Nun ist wieder Wahlkampf und wieder wird um einen angemessenen Umgang geworben. So mahnte etwa Robert Habeck gerade einen „zivilisierten Wahlkampf“ an. Auf diese Forderung können sich offenbar die meisten beteiligten Parteien vordergründig einigen – schließlich haben sie sogar in einem gemeinsamen „Fairness-Abkommen“ die Absicht beteuert, auf persönliche Angriffe zu verzichten, respektvoll zu debattieren und keine bewussten Falschaussagen zu treffen.
Ein solches Abkommen erscheint auch dringend notwendig – zumindest, wenn man in den letzten Jahren das Mediengeschehen verfolgt hat. Denn dann könnte man leicht den Eindruck bekommen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die verlernt hat, miteinander zu sprechen. Beklagt wird eine „Verrohung der Diskussionskultur“, eine kaputte Gesprächskultur, eine aggressive Gesellschaft, die tief gespalten sei, der es an Ambiguitätstoleranz, an Empathie, an Differenzierung etc. mangele. Das liege vor allem an der aufgeheizten Stimmung in den Sozialen Medien; aber auch die Politiker:innen können sich ja nicht mehr benehmen. So werden derzeit parallel zu den Forderungen nach mehr Zivilisiertheit im Umgang auch schon die ersten Stimmen laut, die sich bitterlich über die Umgangsweise der Kontrahenten beschweren. Es herrscht die Sorge, dass auch bei uns „amerikanische Verhältnisse“ Einzug halten könnten.
Die ständigen Mahnungen, wir wären diskursiv verroht, vermitteln das Gefühl, dass diese Verrohung das größte gesellschaftliche Problem ist, unter dem wir momentan leiden. Wenn sich nur alle etwas beruhigen würden, dann könnte das viel dazu beitragen, den Spalt, der das Gemeinwesen durchzieht, wieder zu schließen, so die darin mitschwingende Hoffnung.
Existenzielle Probleme lassen sich nicht im Debattierclub lösen
Je mehr Wortmeldungen dieser Art man liest, desto mehr scheint daraus allerdings auch die Hilflosigkeit einer Schulhofpädagogik hervor, die prügelnde Schüler mit erhobenem Zeigefinger auffordert, sich doch endlich zu vertragen. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Artikel aus dem Jahr 2018, in dem Habecks Parteikollege Winfried Kretschmann einen zivilisierten Streit fordert, der auf „Verrohung und Verbalradikalismus“ einerseits, aber auch auf „überspannten politischen Korrektheit“ andererseits verzichtet.<…
Starker Kommentar, klar durchargumentiert! Bringt mich zum Nachdenken. Danke!
Könnte es sein, dass das noch eine Folge der Merkeljahre ist? Dort wurde alles auf unterkomplexe Formeln wie „Sozial ist was Arbeit schafft“ reduziert und alle hatten das Gefühl „es läuft ja“.
Ich glaube die Mehrheit möchte mit Politik in Ruhe gelassen werden. Mit Merkel hat das, zumindest in der Erinnerung vieler, gut funktioniert.
Diese Grundstimmung könnte ein Grund für die vielen Aussagen zur Debatten Kultur sein.
Beim SPIEGEL ist gestern ein langer Text von Armin Nassehi erschienen, nach meiner Lesart zum gleichen Thema (aber ich kann mich auch irren). Über diesen wie jenen Text freue ich mich, denn ich meine auch, dass es schon längst viel zu oft nur noch um das „Wie“ und viel zu selten um das „Was“ geht. Schlimmer noch: Eine Diskussion um das „Wie“ drängt das „Was“ fast immer in den Hintergrund und lässt sich insofern auch als taktisches Mittel nutzen, wenn man keine Lust hat, über das „Was“ zu reden, weil das fast immer sehr viel anstrengender ist.
Diese Kolumne ist ein Gewinn für Übermedien, freue mich jedesmal, wenn ein neuer Text heraus kommt.
#2 Spontan aus dem Bauch heraus: nein. Zumal das ein aus meiner Sicht internationales Phänomen auf eine rein deutsche Ursache reduziert. (Analog halte ich es für falsch, den Aufstieg der AfD Merkels Kanzlerschaft anzulasten.) Zum anderen Aspekt: Diejenigen, die die Debattenkultur kritisieren, sind in der Regel höchst politisch unterwegs („Zeit“, Kretschmann, und alle anderen oben zitierten Personen…).
Hinzu kommt noch der Kulturkampf. Alles was mit offener Gesellschaft zu tun hat stört beim Geld machen. Also versuchen die Neoliberalen Gesellschaft und Politik nach rechts zu treiben. Die Debatten selbst sind vielleicht im Inhalt nicht heftiger geworden aber es gibt jetzt neue Akteure wie Nius, die nur noch konsequent auf Hetze setzen und mehr Reichweite haben als Junge Freiheit und ähnliches. Das hat schon eine neue Qualität bekommen.
Die Forderung nach einer zivilisierten Debatte ist an und für sich richtig. Sie müsste nur von allen Diskursteilnehmern an sich selbst gestellt werden. Aber sie wird immer nur an den gerichtet, der anderer Meinung ist als man selber. Ich müsste also zugeben, dass linksgrün auch mal richtig liegen kann. Und andere müssten sich eingestehen, dass nicht alles, was von rechts kommt, automatisch falsch ist. Niemand sollte dem Andersdenkenden unterstellen, dass er sich aus reiner Bosheit seine Weltanschauung gebastelt hat.
Die Ära Merkel war zu 3/4 zugleich eine Ära der GroKo, mit einer zwangsläufig schwachen parlamentarischen Opposition, wenig vernehmbarer Gegenrede und vielen „Alternativlosigkeiten“. Der Diskurs war schwach ausgeprägt.
Die beruhigende Wirkung von Merkel fehlt wahrscheinlich.
Es fehlt allerdings bei der Linken und bei den Grünen leider der Populismus und die Pressekritik. Den Rechten muss etwas vergleichbares entgegengesetzt werden. Bei Studio Rot gibt es dazu schöne Ansätze.
Ich würde mich auch sofort auf den Populismusbeauftragten der Grünen bewerben falls Stefan Schulz keine Zeit hat.
@Frank/#3
Ja, beide Texte handeln von Debattenkultur. Beide Texte beklagen sich darüber, dass öffentliche Debatten nicht wirksam werden, da man „falsch“ streitet bzw. auf eine Meta-Ebene flüchtet. Das mal (stark) verkürzt zu den von mir wahrgenommenen Gemeinsamkeiten. Armin Nassehis Text gefällt mir aber deutlich besser. Ich finde seine Problemanalyse präziser. Seine Einschätzungen, Schlussfolgerungen und somit Lösungsansätze kann ich besser nachvollziehen und somit folgen. Armin Nassehi schreibt viel über wirksame Sachdiskussionen und sachliche Lösungen. Hier lese ich viel über die Arten von Streit und welche der Autor gut oder schlecht findet.
@Peter
Zum Thema „Linkspopulismus“ lassen sich ja ganze Bücher schreiben. Ob es ein solches Konzept überhaupt gibt, hängt natürlich von der jeweiligen Populismusdefinition ab. So wird Populismus mancherorts als „dünne Ideologie“ bezeichnet, die mit verschiedenen politischen Ansichten aufgeladen werden kann. Demnach handelt es sich bei Populismus primär um einen Stil. Ich stehe da eher auf der Seite von Jan-Werner Müller („Was ist Populismus?“), der in der Verklärung vom Populismus zur Stilfrage die Gefahr sieht, das Konzept an sich derart zu verwässern, dass es im wisschenschaftlichen Diskurs unbrauchbar wird. Müller und andere betrachten Populismus als eigenständige Ideologie, welche „Menschenfeindlichkeit, Exklusion und Irrationalität“ in sich trägt (Martin Wengeler) und den „Rechtsextremismus im Gepäck hat“ (Franz Januschek). In dieser Logik wäre „Linkspopulismus“ ein Widerspruch in sich. Unabhängig davon halte ich den Begriff für so negativ verhaftet, dass es schwierig werden dürfte, ihn positiv zu vermarkten. Ich finde das Thema spannend, denke aber nicht, dass die politische Linke auf diesem Feld viel zu gewinnen hat. Im Piratensender Powerplay gab es vor einigen Wochen eine Folge zu dem Thema, in der auf den meiner Meinung nach wichtigen Unterschied zwischen Populismus und Polemik verwiesen wurde. Man ist ja heute schnell dabei, jede zugespitzte (oder auch überspitzte) Aussage als populistisch zu brandmarken und auf ihren Stil zu reduzieren (womit wir die Brücke zum Artikel geschlagen hätten). Eine zugespitztere Präsentation der eigenen Inhalte ist zumindest etwas, das man mal durchspielen könnte.
Stefan Schulz als Populismusbeauftragter bei den Grünen. Mein Ironiedetektor kommt zu keinem eindeutigen Ergebnis. ;-)
@Ritter der Nacht
Den Vorschlag hat Schulz selbst gemacht.
Sie haben recht, Polemik wäre sicher der bessere Begriff.
Ich habe da so in Richtung Markus Söder gedacht. Ein linker Politiker der performt. Aber halt mit Fakten statt heißer Luft. Aus meiner Sicht perfomen die rechten einfach besser. Vielleicht ein Gysi ohne DDR-Vergangenheit, so vom Typ her.
Wenn die Menschen mehr nach Gefühl wählen muss das entsprechend bedient werden. Sonst drohen dunkle Zeiten.
Tja, jetzt wird es unangenehm für einige:
@Ritter der Nacht hatte ja schon auf den Podcast „Piratensender Powerplay“ und die Sendung über Populismus hingewiesen. Die neueste Folge des Podcasts legt da aber noch eine Schippe drauf. Der Titel ist dann auch
„Lügen ist rechts(und wir können es beweisen)“.
Wissenschaftlich untermauert bspw. durch diese Studie
https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/19401612241311886
für die 6 Jahre lang in 26 Ländern social media Beiträge von Politikern gesammelt und ausgewertet wurden. Die Datenlage ist riesig und die Tendenz ist klar. Am meisten gelogen wird am rechten Rand.
„Using multilevel analysis with random country intercepts, we find that radical-right populism is the strongest determinant for the propensity to spread misinformation. Populism, left-wing populism, and right-wing politics are not linked to the spread of misinformation. These results suggest that political misinformation should be understood as part and parcel of the current wave of radical right populism, and its opposition to liberal democratic institution.“
Aber auch das bürgerliche- und liberale Lager ist der Lüge eher zugeneigt, als die Parteien des linken Spektrums.
Ich habe schon des öfteren vom „Haltet den Dieb“ Phänomen geschrieben, wobei dem Gegenüber Negatives unterstellt wird, um das eigene Gebaren zu legitimieren.
Ich klaue, weil ja angeblich alle klauen und schreie am lautesten „Haltet den Dieb“, damit ich dabei nicht erwischt werde.
In der Linke gibt es durchaus die Diskussion, ob es nicht dringend einen linken Populismus als Gegenbewegung bräuchte und das BSW mag auch so betrachtet werden. Nur dass ich das BSW auch nicht mehr als „links“ werten würde, mit dem Hang zum Nationalismus, der Xenophobie, dem Antifeminismus und allen anderen hässlichen Auswüchsen.
Wie aber soll ich einen ausgewogenen Diskurs herstellen, wenn es schon mit dem schwierigen Onkel beim Familienbesuch nicht klappt.
False Balancing als Meditationsübung?
Man kann nicht sagen, dass die Linken oft lügen.
Man kann nicht mal sagen, die lügen selten.
Tatsächlich lügen die Linken nur einmal – nämlich immer.
Ich habe mich lange gefragt, warum die so sind. Die lügen ja auch, wenn die keinen Vorteil davon haben. Die lügen sogar dann, wenn die wissen, dass die Lüge auffliegt.
Ich glaube unterdessen es liegt daran, dass die gar nicht den Verdacht aufkommen lassen wollen, dass Wahrheit und Logik überhaupt eine Rolle spielen könnten.
Das funktioniert ganz gut, solange die Realisten niedergehalten werden, wenn der Kommunikationskanal unidirektional funktioniert.
Aber es gibt ein Heulen und Zähneklappern, sowie einer die Gegenrichtung freischaltet.
Beispiele liefert das Netz tonnenweise.
Oliver Klein vom ZDF-Faktenchecker recherchiert nach eigenen Angaben wie ein Ermittler. Sagt sogar das ZDF, da muss es ja stimmen.
Es stimmt ja auch, aber eben nur solange, bis einer die Gegenrichtung freischaltet. Und siehe, ihm fliegen seine Lügen um die Ohren. Worauf er sich vom pösen X zurückzieht.
Oder nehmen wir diese nette Kompilation.
Das hatte ich hier schon mal gepostet. Als Reaktion kamen die für die Linken üblichen Wutanfälle.
Mal sehen, wie es diesmal ausgeht.