Wie „Bild“ die Notlage eines Mannes ausschlachtet

Ein möglicher Suizid als Cliffhanger vor der Paywall

Sie zitieren wortwörtlich aus seinem Abschiedsbrief und breiten alles vor einem Millionenpublikum aus: Den Leuten bei "Bild" ist offensichtlich egal, was das für Konsequenzen haben kann. Für sie ist der mögliche Suizid eines Mannes lediglich ein "Krimi", der sich verkaufen lässt.

Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Suizid. Unkomplizierte, schnelle Hilfe bei Depressionen und anderen Notlagen gibt es unter anderem bei der Telefonseelsorge, die rund um die Uhr unter den Rufnummern 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 zu erreichen ist.


Wir müssen leider noch mal kurz in die Weihnachtszeit zurückspringen, an den Tag vor Heiligabend. Weil das der Tag war, an dem sie bei „Bild“ ausprobiert haben, ob man mit dem (möglichen) Suizid eines Menschen vielleicht ein paar Zeitungen und Digital-Abos verkaufen kann. Was – selbst für „Bild“-Verhältnisse – so abstoßend ist, dass wir es hier noch mal dokumentieren wollen.

„Bild“ erscheint an diesem Tag mit einer Titelgeschichte über einen Mann, der womöglich beabsichtige, sich das Leben zu nehmen. Normalerweise berichten Medien nicht über Suizide, weil das Nachahmer inspirieren kann; das ist hinlänglich bekannt und wissenschaftlich belegt, und auch der Pressekodex mahnt beim Thema Selbsttötung Zurückhaltung an. Aber es kommt trotzdem vor, dass Medien solche Fälle aufgreifen, meistens wenn Prominente betroffen oder irgendwie involviert sind, wie in diesem Fall. Nur dass es in diesem Fall zunächst um die mögliche Ankündigung eines Suizids geht, also um eine akute private Notlage, die erst recht nicht in eine Zeitung gehört.

"Bild"-Titelseite vom 23.1.2024: Foto von Simone Thomalla mit der Schlagzeile „TV-Star Simone Thomalla: Todes-Angst! Große Sorge um den Mann an ihrer Seite +++ Abschiedsbrief per Mail +++ Sie weiß nicht, wo er ist +++ Sagt Sie „Let’s Dance“ ab?“
„Bild“-Titelseite vom 23.12.2024 Ausriss: „Bild“

Auf der „Bild“-Titelseite und auch auf der Bild.de-Startseite aber steht am Tag vor Heiligabend in großen Lettern:

„TV-Star Simone Thomalla: Todes-Angst!“

Und darunter im Nachrichtenticker-Stil:

„Große Sorge um den Mann an ihrer Seite +++ Abschiedsbrief per Mail +++ Sie weiß nicht, wo er ist +++ Sagt Sie ‚Let’s Dance‘ ab?“

(Was natürlich die allerwichtigste Frage ist in so einem Moment: Ob Thomalla eine RTL-Show sausen lässt.)

Schon vor Monaten hatten „Bild“ und andere Medien über eine angebliche Beziehung zwischen Simone Thomalla und dem Mann spekuliert. Vieles davon ist inzwischen aus den Archiven und Online-Angeboten verschiedener Medien verschwunden; nach Informationen von Übermedien ist Thomalla juristisch gegen die Artikel vorgegangen.

Und trotzdem berichtet „Bild“ wieder – und versucht, Kapital aus der Angelegenheit zu schlagen. Im Online-Teaser heißt es vor der Paywall, der Mann habe Thomalla einen Abschiedsbrief geschickt, „aufwühlende Zeilen“.

„Nahm er sich danach das Leben? Lesen Sie mit BILDplus alles zu dem Drama.“

Ein möglicher Suizid als Cliffhanger, um Abos zu verkaufen. Die Kunden erfahren dann, dass „Bild“ nicht weiß, ob der Mann gestorben ist oder noch lebt.

Nichts für die Öffentlichkeit

Abschiedsbriefe sind sehr sensible private Dokumente, die meist an nahestehende Personen gerichtet sind – und die Öffentlichkeit nichts angehen. Experten für Suizidprävention bitten immer wieder darum, sie nicht zu veröffentlichen. Doch den Leuten bei „Bild“ ist das egal. Sie zitieren wortwörtlich aus dem „emotionalen Brief“, der ihnen vorliegt, den sie aber „nicht aus der Hand von Simone Thomalla“ erhalten hätten.

Thomalla, heißt es, wolle sich auf Anfrage nicht äußern. Wie es in ihrer „Gefühlswelt“ aussehe, schreibt „Bild“, sei „kaum vorstellbar“ – um sich dann vorzustellen:

„Trauer, Wut und Verzweiflung. So muss der Gefühlszustand von TV-Star Simone Thomalla gerade sein.“

Weihnachten würden für sie „kein frohes Fest“.

Der Abschiedsbrief des Mannes sei „durchtränkt von tiefer Verzweiflung“ und „Hoffnungslosigkeit“, und er werfe die „bange Frage“ auf, ob der Mann darin „seinen Selbstmord“ ankündige. „Bild“ breitet seine ganze Notlage, seine ganzen mutmaßlichen Probleme detailliert vor einem Millionenpublikum aus. Zu einem Zeitpunkt, zu dem „unklar“ ist, wie es um den Mann steht.

Was wäre, wenn? Was wäre, wenn ein Mensch, der mit dem Gedanken spielt, Suizid zu begehen, plötzlich alles, was ihn umtreibt, in einer Boulevardzeitung ausgewalzt sieht? Sogar das, was er Menschen in seinem nächsten Umfeld anvertraut hat? Was für eine Wirkung hätte das?

Sage und schreibe vier Online-Artikel veröffentlicht „Bild“ dazu am Tag vor Heiligabend, fünf Autorinnen und Autoren sind daran beteiligt, auch Tanja May, die stellvertretende Chefredakteurin und „Show-Chefin“ von „Bild“. May ist bekannt für ihre Methoden, an (private) Promi-Geschichten zu kommen. Und immer wieder müssen ihre Artikel nach Erscheinen gelöscht werden, weil sie die Privatsphäre von Menschen verletzen und die sich juristisch dagegen wehren.

„Breaking News“

Für Tanja May und „Bild“ ist die Befürchtung, dass jemand Suizid begehen könnte, nichts, was etwa Rücksichtnahme und Zurückhaltung zur Folge haben sollte. Nein. Es ist ein „Krimi“, der sich verkaufen lässt: „Der Krimi um den Freund von Simone Thomalla“. Auf der Bild.de-Startseite erscheint im Laufe des Tages sogar das „Breaking News“-Laufband. Die vermeintliche Nachricht: vom Handy des Mannes kämen plötzlich Nachrichten – eine „spektakuläre neue Entwicklung“.

Nach eigenen Angaben hatte „Bild“ tatsächlich versucht, den Mann über sein Handy zu kontaktieren und schildert die Konversation so:

„,Bild’: ,Geht es Dir gut? Wir können doch über alles reden!’ Sofort kommt die Gegenfrage: ,Üba?’ Es folgen mehrere Fragen und zeitnahe Antworten. Es muss also jemand das Handy von […] in der Hand halten. Schließlich fragt ,Bild’: ,Was können wir für Dich tun?’. Antwort: ,Nichts.’ Als ,Bild’ ihn auf den Abschiedsbrief an Simone Thomalla anspricht, bricht der Kontakt ab.“

„Wir können doch über alles reden!“ und „Was können wir für dich tun?“ So klingen sie, die scheinbar zugewandten Angebote von Boulevard-Reportern, die freundlich duzend auf Zitate für den nächsten Artikel geiern.

Wenn es stimmt, was „Bild“ nach Weihnachten meldet, war die Person, mit der May und ihre Kollegen Nachrichten schrieben, nicht der Mann, um den es die ganze Zeit ging. Er soll bereits am 20. Dezember verstorben sein. Drei Tage, bevor „Bild“ begann, seine Geschichte auszuschlachten.

2 Kommentare

  1. Also, ich finde es enorm, dass sich die Bild mit dem Ekelhaftigkeitsgrad ihrer Berichterstattung immer wieder selbst übertrifft.
    Das Vorgehen von Bild war nie lesenswerter Journalismus, sondern klebrige Sensationsgeilheit in unterschiedlichen Stärken.

    Aber DAS, zu einem solchen Thema einen Cliffhanger HINTER EINER PAYWALL zu bauen – ich finde das ist an Ekelhaftigkeit kaum zu unterbieten und sollte empfindlich bestraft werden. Aber die juristische Auseinandersetzung gehört bei dem Schmutzblatt ja quasi zur Jobbeschreibung.

  2. Einfach nur Ekelhaft.

    Ich komme im Rettungsdienst immer wieder mit Suiziden in Kontakt, es ist jedes mal einfach nur traurig. Das ist noch nicht einmal Thema in Gesprächen wenn Retter unter sich sind, weil es einfach nur runter zieht. Und wir reden sonst gerne und viel über Dinge, die anderen schnell mal den Appetit verderben.

    Mit so einem Thema aufzumachen ist grob fahrlässig. Eigentlich schade, dass man Zeitungen nur schwer für die Folgen solcher Artikel haftbar machen kann. Eine Millionenschwere Sammelklage hin und wieder würde Springer vielleicht etwas einhegen. Der Presserat offenbar nicht, wie wir jüngst erst im einem andern Artikel gelernt haben.

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