Migration und Kriminalität

Böhmermanns These stimmt, nur die Zahlen leider nicht

Um zunächst mal mit einem Irrtum diverser Böhmermann-Hasser aufzuräumen: Nein, das Anwesen, durch das der ZDF-Satiriker in einem aktuellen Video flaniert, ist nicht sein echtes Wohnhaus. Und vermutlich läuft er in seiner Freizeit auch nicht mit über die Schulter gelegtem Wollpulli und Seidenschal herum. Das ist – Überraschung – Satire.

Am Mittwochabend veröffentlichte Jan Böhmermann den gut dreiminütigen Clip, in dem er sich als betuchter Schlossherr inszeniert, auf X und Instagram. Beim Sprechen lässt er sich – Filter sei Dank – von kitschigen Schmetterlingen umflattern. Was er dabei über die Migrationsdebatte erzählt, ist aber bierernst gemeint und wichtig. Leider macht er sich an einer entscheidenden Stelle mit schlecht recherchierten Zahlen angreifbar.

Böhmermann kritisiert Grenzkontrollen

Anlass für den Clip ist die Entscheidung der Bundesregierung, die deutschen Grenzen wieder zu kontrollieren. Grenzkontrollen seien „purer Populismus“, schimpft Böhmermann, und schüre Vorurteile gegen Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind.

„Wir reden gar nicht darüber, dass Grenzkontrollen überhaupt nichts bringen. Dass Bundespolizistinnen und Bundespolizisten sicherlich Besseres zu tun haben als demnächst Tag und Nacht im Regen in irgendwelchen Party-Pavillons auf der Autobahn zu stehen und Fiat Puntos rauszuwinken, um die dann – ja was eigentlich zu überprüfen?“

Die Ampel aus SPD, FDP und Grünen krieche damit in den blau-braunen Allerwertesten (er sagt das etwas vulgärer), anstatt sich um Geld für Sozialarbeit, Kitas, Schulen und eine zukunftsfähige Wirtschaft zu kümmern. Bei seiner Community rennt er damit quasi offene Grenzen ein, auf Instagram hat das Video schon über 75.000 Likes, garniert mit Kommentaren wie „Böhmi for President!“.

Das vorherrschende Gefühl bei vielen ist vermutlich: Endlich! Die Stimmen, die Humanität anmahnen und Rassismus entlarven, sind nach dem Anschlag in Solingen ins Hintertreffen geraten. Bei der Frage, wie sich solche Straftaten verhindern lassen, sind sich inzwischen fast alle Parteien einig, dass es nun vor allem um die „Kontrolle der Migration“ gehen muss. Dass dabei, wie von Böhmermann angeprangert, ganze Menschengruppen unter Generalverdacht gestellt werden, ist ein Kollateralschaden, der von einer großen Mehrheit in Kauf genommen wird. Rassismus ist in der Debatte kaum ein Thema.

Böhmermann ist ein Mann mit entscheidender Reichweite und erinnert an prominenter Stelle daran, dass sich große Teile der Diskussion gerade im Kleinklein weitgehend wirkungsloser Maßnahmenpakete verrannt haben – und an das größere Ganze, das hier gesellschaftlich gerade auf dem Spiel steht, Stichwort Menschenrechte. Womöglich hat es so eine Stimme dringend gebraucht, auch wenn sie von einem Fernsehkomiker stammt (oder gerade weil).

Mordszahlen, aber leider falsch

Problematisch wird es ungefähr in der Mitte des Videos: Seine starke Positionierung will Böhmermann dort mit Fakten untermauern. Deutschland sei so sicher wie nie, obwohl sich die Zahl der Ausländer in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren auf 14 Millionen verdoppelt habe, erklärt er:

„1993 gab es in Deutschland 1.299 Morde – rund 1.300 Morde. 2023 waren es nur noch 214!“

Diese Zahlen sind in vielerlei Hinsicht falsch. Sie finden sich zwar so in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), Böhmermann vergleicht allerdings Äpfel mit Birnen. Für 2023 nennt er die Zahl der sogenannten „vollendeten Taten“, bei der Mordversuche nicht mitgezählt sind. Für 1993 nennt er die Zahl, die Morde und Mordversuche zusammenfasst – und somit natürlich viel höher ausfällt.

Satiriker Jan Böhmermann in Instagram-Video zum Thema Grenzkontrollen
Screenshot: Instagram / @janboehm

Dem MDR-Journalisten Tobias Wilke, der sich seit Jahren mit der PKS beschäftigt, fallen noch mehr Gründe ein, warum es keine gute Idee ist, diese Zahlen als Beleg zu nennen. In einem Post auf X hat er darauf hingewiesen, dass ausgerechnet 1993 in der Statistik diverse Altfälle aus der DDR-Zeit mitgezählt wurden – die Zahl von Morddelikten fiel also höher aus. Das habe damit zu tun, dass Straftaten nicht in dem Jahr in die Statistik zählen, in dem sie passieren, sondern erst dann, wenn sie bei der Staatsanwaltschaft landen, erklärt er im Gespräch mit Übermedien. Insofern ist es auch falsch, dass Böhmermann behauptet, die Morde seien 1993 bzw. 2023 passiert.

Auf die bei X geäußerte Frage nach seinen Quellen hat der ZDF-Promi nur lapidar einen Link zum Zahlenportal Statista gepostet, das Daten aus anderen Quellen zusammenfasst. „Wer bei Statista guckt, hat schon die Kontrolle über seine Recherche verloren“, meint dazu Wilke. Das Portal ist bei Recherchen zwar eine erste Anlaufstelle, ohne Primärquellen ist eine sinnvolle Einordnung aber selten möglich.

Die Grundaussage ist richtig

Die Statistik, die Böhmermann verlinkt, reicht nur bis 2013 zurück, ist also gar kein Beleg für seine Behauptungen. Wer mit Premium-Account auf die Original-Quelle klickt, findet in einer PKS-Tabelle zwar auch die älteren Zahlen – allerdings eben auch die Unterscheidung zwischen versuchten und vollendeten Delikten. Die von Böhmermann angepriesenen Fakten sind also schlicht schlampig recherchiert.

Das Video, ein von vielen ersehnter Zwischenruf, zerschießt sich folglich die eigene Glaubwürdigkeit mit nur zwei kurzen Sätzen. Das ist umso ärgerlicher, weil die These an sich richtig ist. Das zeigt ein Blick auf die Opferzahlen in der PKS: 1994 – einem Jahr ohne geballte DDR-Altdaten* – zählte die Statistik 1.480 Menschen, die bei Delikten von Mord und Totschlag ums Leben kamen. 2023 waren es 676.

Diese Zahlen umfassen nicht nur Morde, sondern alle „Straftaten gegen das Leben“, bei denen Menschen starben – und benennen nicht die Zahl der Delikte, sondern die Zahl der Getöteten. Sie sind nicht ganz akkurat, weil sie auch Fälle von „Tötung auf Verlangen“ beinhalten. Die Stoßrichtung ist aber klar: Ja, es werden in Deutschland heute tatsächlich viel weniger Menschen umgebracht als Anfang der Neunziger. Oder, wie Böhmermann es formuliert:

„Unser Land ist so sicher wie nie.“

Er (oder sein Team) hätte also nur ein paar Minuten mehr Recherchezeit investieren müssen, um das Video genauso machen zu können – aber mit richtigen Zahlen und somit weniger angreifbar. Auf eine Anfrage von Übermedien hat Böhmermann bisher nicht reagiert.

Auch „Welt“ hat den Fehler schon gemacht

Die Reaktionen sind erwartbar. Von seinen Fans wird das Video gefeiert – die falschen Zahlen sind kein Thema oder werden ignoriert. Die „Staatsfunk“-Dauerhasser wiederum haben darin ein gefundenes Fressen.

Allzu weit sollten sich manche allerdings nicht aus dem Fenster lehnen. Denn der Springer-Verlag zum Beispiel, der die Öffentlich-Rechtlichen immer gerne niederschreibt, hat im April einen sehr ähnlichen Fehler gemacht. Um zu belegen, dass es heute viel mehr Mord und Totschlag gebe als noch in den 1950er-Jahren, rechnete „Welt“-Kolumnist Harald Martenstein bei den aktuellen Zahlen die Mordversuche mit hinein. Er machte also den gleichen Fehler wie Böhmermann, nur eben andersherum – entsprechend der eigenen Agenda.

* Ergänzung am 13. September, 11.40h: Erst 1999 spielten alte Fälle aus der DDR gar keine Rolle mehr in der Statistik zu Mord- und Totschlagsdelikten.

4 Kommentare

  1. „Er machte also den gleichen Fehler wie Böhmermann, nur eben andersherum – entsprechend der eigenen Agenda.“
    Dann ist das kein Fehler von Böhmermann, sondern er will anderen den Spiegel vorsetzen.
    „…dass ausgerechnet 1993 in der Statistik diverse Altfälle aus der DDR-Zeit mitgezählt wurden…“ leider hat Böhmi hier vergessen sowas zu sagen wie, dass „das eben passiert, wenn man Millionen von Neubürgern integrieren will: die Mordstatistik geht durch die Decke.“, um den Nagel für Spiegel auf den Kopf zu treffen. Wer hat denn da beim Schnitt gepennt?

  2. Vorallem sind die Zahlen insgesamt furchtbar gering.
    Verkehrstote 2023: 2839
    Alkohol: ca. 40.000
    Rauchen 2017: 126.900

    Wer wirklich Menschen retten will, hat andere Zielbereiche.

  3. Sein Take zur Wahl in Thüringen und Sachsen in der Zeit ist leider auch völlig entgleist. Er will das Richtige, aber gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Schade

  4. @#2: An dem Zahlenspiel ist derartig viel anstößig, dass es auf keine Kuhhaut geht:

    Erstens: Todesfälle durch Rauchen und Alkohol sind im Gegensatz zu Tötungsdelikten in den allermeisten Fällen selbstverschuldet. (Wie man Lungenkrebs zuverlässig auf übermäßig viel Passivrauch zurückführen will, erschließt sich mir nicht. Und der dürfte nur einen eher kleinen Teil der Zigarettentoten verursachen.)

    Zweitens: Auch Verkehrsopfer können selbstverschuldet zu Tode kommen und die, die ohne Eigenverschulden sterben, können Opfer unglücklicher Umstände sein, wo es keine(n) Schuldigen gibt. Selbst wenn ein Fremdverschulden vorliegt, dann wird das im Gegensatz zu Tötungsdelikten eher selten vorsätzlich herbeigeführt worden sein.

    Drittens: Man kann durchaus für beides befürworten: Das Verhindern von Verkehrs- und Drogentoten _und_ das Verhindern von Straftaten.

    Viertens: Mir ist bisher noch nie untergekommen, dass jemand sich im Zusammenhang mit Tötungsdelikten der Vokabel „retten“ bedient hätte.

    Und zu guter Letzter: Wenn wir wirklich damit anfangen wollen, Tötungsdelikte, die entweder vorsätzlich oder billigend, aber jedenfalls bewusst durch andere Menschen herbeigeführt werden, gegen Verkehrs- und Drogentote aufzurechnen, dann macht das zB auch eine Debatte über Femizide oder die Opfer der NSU-Morde hinfällig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wirklich so haben will.

    Fazit: Wenn es noch entbehrlicher geht, dann weiß ich nicht wie.

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