Unbesprochen (7)

Vom erstaunlichen Reiz einer Klassik-Kenner-Sendung für Nicht-Klassik-Kenner

Exklusiv für Übonnenten

Es gibt eine Radiosendung, die es gar nicht geben dürfte und von der kaum jemand weiß. Und sie gehört zum Besten, was ich seit langem im Radio (oder in einem Podcast) gehört habe.

Es geht um – und wenn das hier ein Radiosender wäre, würden Sie jetzt vermutlich umschalten – klassische Musik. Aber bleiben Sie nochmal kurz dran. Ich weiß, wie es ist, sich nicht für diese Musik zu interessieren, obwohl meine Eltern klassische Musiker sind. Ich kam spät dazu, diese Musik zu mögen.

Ein Musikstück, drei Experten

Wenn es diese Radiosendung früher gegeben hätte, wäre das womöglich anders gekommen. Obwohl die Sendung überhaupt nicht den Anspruch hat, Menschen an Klassik heranzuführen, könnte sie genau das leisten. Denn sie verkauft ihr Publikum nicht für dumm, und das ist eine gute Methode, wenn man jemanden für etwas begeistern will, was sich nicht von selbst erschließt. Die Sendung hat einen didaktischen Anspruch – und der besteht darin, uns ins kalte Wasser zu schubsen.

In der „Blindverkostung“ auf Radio 3 vom rbb spielt Moderator Christian Detig einem dreiköpfigen Rateteam jeden Monat neun (!) verschiedene Aufnahmen des gleichen klassischen Musikstücks vor – erraten werden soll aber nicht der Komponist. Das wäre einfach, denn die ausgewählten Werke sind bekannt bis berühmt. Zu erraten ist, wer da spielt. Wer dirigiert? Welches Orchester hören wir? Wer ist Solistin oder Solist?

Die Stücke werden viele Minuten lang angespielt, bei mehrsätzigen Werken (meist) jeder einzelne Satz. Einem einzigen Werk widmet sich die Sendung geschlagene zwei Stunden. Ohne Gelaber, ohne Mätzchen, ohne Einsprengsel.

Sitcom zum Zuhören

Wer diese Show für eine extrem nerdige Nischenveranstaltung hält, hat natürlich recht. Aber sie ist auch viel mehr als das, nämlich fast eine Sitcom zum Zuhören. Denn das Rateteam besteht aus drei immer gleichen Personen: der „Zeit“…

9 Kommentare

  1. Danke für den Tipp! Klingt richtig interessant, hatte noch nie davon gehört.

    Wer sich Klassik(radio) in kleineren Häppchen erschließen will, dem empfehle ich die Reihe „Das starke Stück – Musiker erklären Meisterwerke“ vom Bayerischen Rundfunk. Gibt es auch als Podcast.

  2. In meinen jungen Jahren gab es Ähnliches und auch Ausführliches im öffentlichen Radio zu hören: da spielten sich zwei Expertenrunden (Studio Köln und Studio London?) wechselseitig klassische Schnipsel zu und fachsimpelten ratend darüber, was und wer zu hören war.
    Für mich waren das highlights hinsichtlich Genuss und tiefergehenden Verständnisses!

  3. noch nie von der sendung (oder eben die sendung) gehört – das muss sich jetzt ändern. danke, grandioser text.

    (wobei ich beim „apollinischen zugriff“ ja spontan erstmal an pollini, also den maurizio, r.i.p., denken musste – apollinisch also vielleicht einen weniger präzisen (.. zugriff? worauf? ich weiß es nicht, klar.) meinen könnte?)

    i’m intrigued.

  4. @Frank l. (#3):

    wobei ich beim „apollinischen zugriff“ ja spontan erstmal an pollini, also den maurizio, r.i.p., denken musste

    Vermute, es geht eher um den nitzscheanischen Gegensatz apollinisch vs. dionysisch – das apollinische Prinzip (nach dem Gott Apollo) steht für Vernunft, Ordnung, (Selbst-)Beherrschung; das dionysische (nach Dionysos) für Rausch und Ekstase.

    Was jetzt „apollinischer im Zugriff“ bedeutet, weiß ich auch nicht. Vernünftiger? Oder langweilig? Keine Ahnung. ;-)

  5. Von dieser RBB-Sendung habe ich auch noch nicht gehört, aber seit vielen Jahren bin ich Fan eines vergleichbaren Formats im Schweizer Radio: die Sendung heißt einfach Diskothek und das Konzept ist nicht so sehr das Erraten der Interpreten (obwohl das nebenbei auch abgefragt wird), sondern die Wahl einer „besten“ Aufnahme im Blindtest. Im bundesdeutschen Internet ist die Sendung aber leider nur zu hören, wenn man sich per Proxy oder VPN mit der Schweiz verbindet: https://www.srf.ch/audio/diskothek

  6. zu #4: Genau das wird es sein, apollinisch vs. dionysisch. Und der „apollinische Zugriff“ meint in diesem Zusammenhang eine sachlichere, nicht ekstatische Interpretation. Danke für den Hinweis!

  7. @Gabriel Yoran (#7):

    Gern geschehen. Jetzt bin ich gespannt, wie eine sachlich gestimmte Trauerweide klingt. Ich hör es mir an (wobei ich eine ekstatische Trauerweide auch mal interessant fände).

  8. Im Printbereich gibt es dieses Format schon mehr als 20 Jahre, wenn ich mich recht erinnere, zuerst bei „Crescendo“. Heute ist das „Blind Gehört“ bei „Concerti“ eine populäre Rubrik
    https://www.concerti.de/klassik/interviews/blind-gehoert/
    ebenso bei „Rondo“ unter gleichem Namen
    https://www.rondomagazin.de/artikelkat.php?artikelkategorie_id=15
    wo auch der erwähnte Kai Luehrs-Kaiser Artikel beisteuert.
    Unterschied zur RBB-Sendung ist jedoch, dass in den Klassik-Magazinen nicht Journalisten sondern (fast ausschließlich) Musiker die Aufnahmen blindhören.
    Ich habe selbst schon viele solcher Interviews vorbereitet und geführt und es ist tatsächlich immer ein großer Spaß.
    Die RBB-Sendung kannte aber auch ich nicht, insofern Danke für die ausführliche Besprechung.

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