Unbesprochen (7)

Vom erstaunlichen Reiz einer Klassik-Kenner-Sendung für Nicht-Klassik-Kenner

Es gibt eine Radiosendung, die es gar nicht geben dürfte und von der kaum jemand weiß. Und sie gehört zum Besten, was ich seit langem im Radio (oder in einem Podcast) gehört habe.

Es geht um – und wenn das hier ein Radiosender wäre, würden Sie jetzt vermutlich umschalten – klassische Musik. Aber bleiben Sie nochmal kurz dran. Ich weiß, wie es ist, sich nicht für diese Musik zu interessieren, obwohl meine Eltern klassische Musiker sind. Ich kam spät dazu, diese Musik zu mögen.

Ein Musikstück, drei Experten

Wenn es diese Radiosendung früher gegeben hätte, wäre das womöglich anders gekommen. Obwohl die Sendung überhaupt nicht den Anspruch hat, Menschen an Klassik heranzuführen, könnte sie genau das leisten. Denn sie verkauft ihr Publikum nicht für dumm, und das ist eine gute Methode, wenn man jemanden für etwas begeistern will, was sich nicht von selbst erschließt. Die Sendung hat einen didaktischen Anspruch – und der besteht darin, uns ins kalte Wasser zu schubsen.

In der „Blindverkostung“ auf Radio 3 vom rbb spielt Moderator Christian Detig einem dreiköpfigen Rateteam jeden Monat neun (!) verschiedene Aufnahmen des gleichen klassischen Musikstücks vor – erraten werden soll aber nicht der Komponist. Das wäre einfach, denn die ausgewählten Werke sind bekannt bis berühmt. Zu erraten ist, wer da spielt. Wer dirigiert? Welches Orchester hören wir? Wer ist Solistin oder Solist?

Die Stücke werden viele Minuten lang angespielt, bei mehrsätzigen Werken (meist) jeder einzelne Satz. Einem einzigen Werk widmet sich die Sendung geschlagene zwei Stunden. Ohne Gelaber, ohne Mätzchen, ohne Einsprengsel.

Sitcom zum Zuhören

Wer diese Show für eine extrem nerdige Nischenveranstaltung hält, hat natürlich recht. Aber sie ist auch viel mehr als das, nämlich fast eine Sitcom zum Zuhören. Denn das Rateteam besteht aus drei immer gleichen Personen: der „Zeit“-Kulturreporterin Christine Lemke-Matwey, dem Musikkritiker und rbb-Moderator Kai Luehrs-Kaiser und dem Pianisten und freien Musikredakteur Andreas Göbel. Die drei treffen sich in der „Blindverkostung“ jeden Monat, um gemeinsam ein Stück aus dem Klassikrepertoire anzuhören – wieder und wieder.

Wie das klingt? Beim Mozart-Klarinettenkonzert zum Beispiel lobt Andreas Göbel einen Klarinettisten, der einen Ton „anfassen und formen und kneten“ kann und Kai Luehrs-Kaiser, sonst nicht um gedrechselte Formulierungen verlegen, stellt schlicht fest, der Solist sei „furchtbar präpotent, die tiefen Töne klingen wie die Hupe aus Flipper“. Christine Lemke-Matweys fragt pikiert zurück: „Da gab’s eine Hupe?“

Alleine für die Metaphern der „Zeit“-Journalistin lohnt sich das Einschalten: „Der Solist stellt sich hin und sagt: Das ist mein Konzert. Ich kann meine Suchscheinwerfer auch in ganz entlegene Winkel richten.“ Dann geht es mit ihr durch und sie diagnostiziert: „Bei aller Trauerweidenhaftigkeit“ sei die Interpretation „apollinischer im Zugriff“. (Ich bin nicht ganz sicher, was sie damit meint, aber ich merke mir das mal.)

Man erkennt das Baujahr des Flügels am Klang

Der Moderator muss nur kurze Stichworte liefern und schon teilt das Expertenteam nicht nur seine Meinungen zu der spezifischen Interpretation („Das Klavier wirkt etwas zu aufgekratzt“), sondern auch so umfassend Hintergründe zu Werk, Aufnahmetechnik und Entstehungsgeschichte, dass man angesichts dieses Fachwissens die Ohren anlegt. Wenn Andreas Göbel nicht nur heraushört, dass wir es mit einem Ensemble zu tun haben, das auf Originalinstrumenten spielt, sondern auch noch Hersteller, Baujahr und Mechanik des Flügels benennt, muss der Moderator ungläubig nachfragen: „Sie hören die Mechanik?“

Das ist wichtig, denn zum Charme der Sendung gehört, dass das Publikum mit der teilweise erschreckend großen Expertise nicht alleine gelassen wird. Wer zuhört, fühlt sich nicht dumm und klein, sondern partizipiert, dank Detigs Moderation, an diesem gewitzt und meinungsstark vorgetragenem Wissen.

Die fast schon beiläufige Härte, mit der manche Orchester und Interpret:innen angegangen werden, ist für die von der üblichen egalitären Kulturkritik in Watte gepackten Zuhörer:innen vermutlich erstmal ein Schock. Wenn Christine Lemke-Matwey eine Aufnahme als „Durchschnittsware“ abfertigt oder Andreas Göbel entnervt feststellt, über einen bestimmten Stil „sind wir hinweg, das müssen wir nicht mehr hören“, ist man fast froh, dass viele der an den Aufnahmen Beteiligten schon mausetot sind.

Mausetot und extrem berühmt. Denn das ist das erkenntnistheoretische Rückgrat dieser Sendung: Wie anders hören wir die Aufnahmen eines großen Dirigenten wie Karajan, wenn wir nicht wissen, dass es Karajan ist? Mindestens ein Mitglied des Rateteams errät meist die Aufnahme – und nicht selten müssen sie sich eingestehen, dass nicht alle Koryphäen der Klassik einem unvoreingenommenen, heutigen Ohr standhalten.

Zuhören macht diebische Freude

Und auch hier werden die Zuhörenden im Konzept der Sendung mitgedacht. In der „Blindverkostung“ sind wir am Radio (oder im Podcast) zumindest theoretisch in der gleichen Position wie die Profis im Studio. Auch wir hören die (langen) Ausschnitte zuerst, ohne gesagt zu bekommen, was das ist. Es ist eine veritable Hörschule, und selbst wenn man die Stücke nicht gut genug kennt, um schon eigene Vorlieben zu haben, macht es eine diebische Freude, zu entdecken, auf welch unzählige Arten sich die immer gleichen Noten spielen lassen.

Auch wenn das Rateteam die meiste Sendezeit hat, ist der heimliche Star der Sendung für mich Moderator Christian Detig. Er spricht wenig, das aber druckreif und mit einer derart sonoren Stimme, dass ich ihm auch bei der Moderation der Zugteilung in Hamm mit Gewinn zuhören könnte. Detig baut gewissermaßen die Kulisse für das Rateteam; mit ihm lernen wir die drei mit der Zeit ein bisschen besser kennen, ihre Präferenzen, ihre Abneigungen.

Natürlich wiederholt sich auch einiges, viel Musikkritikvokabular kommt in fast jeder Folge vor, ohne dass immer erklärt würde, was zum Beispiel „Durchhörbarkeit“ bedeutet. Dass manche Begriffe und Urteile im Ungefähren bleiben, stört beim Zuhören aber nicht weiter, weil im Mittelpunkt viel mehr die Experten stehen, die ihre verschiedenen Rollen ausagieren. Andreas Göbel hat den Ruf weg, jede Aufnahme sofort „am Knarzen des Klavierhockers“ zu erkennen, Kai Luehrs-Kaisers genussvoll-herablassender Duktus macht auf eine souveräne Art sofort gute Laune, und Christine Lemke-Matwey hat für mich oft den nachvollziehbarsten Take, wenn sie entwaffnend feststellt, dass ihr eine Aufnahme so gar nichts sagt oder sie ihr einfach ein bisschen egal ist.

Auch die Live-Ausgabe funktioniert

Normalerweise wird die „Blindverkostung“ im Studio aufgezeichnet, aber am 8. Mai veranstaltete der rbb eine Live-Aufzeichnung vor Publikum in der hauseigenen Bar im 14. Stock des Funkhauses in der Berliner Masurenallee. Von der Bar klackern die Cocktailshaker herüber, man trinkt Espresso Martini, während auf der Bühne das Rateteam und der Moderator an runden Bistrotischen sitzen.

Bühne und Publikum bei der Live-Ausgabe der Sendung "Blindverkostung" im rbb
Live-Ausgabe der „Blindverkostung“ in der hauseigenen Bar des rbb Foto: Übermedien

Die Location ist ausgebucht und das Publikum etwas jünger als erwartet: Wir haben es zumindest nicht ausschließlich mit dem typischen Klassikpublikum zu tun, das haarbedingt gerne „Silbersee“ genannt wird. Nach wenigen Minuten ist klar: Die „Blindverkostung“ funktioniert auch als Live-Show. Das Publikum hört auch noch aufmerksam zu, als das 5. Beethoven-Klavierkonzert zum vierten Mal angespielt wird.

Luehrs-Kaiser: „Beethoven hat hier angefangen, an die Nachwelt zu denken. Das ist immer schlecht. Wie war die Frage?“

Detig: „Wie ist das denn hier in der Aufnahme gelöst worden?“

Luehrs-Kaiser: „Gar nicht.“

Ich mag Rateteam und Moderator, lerne nebenbei Musik und Interpret:innen kennen und werde bestens unterhalten. Was könnte an dieser Sendung schlecht sein?

Kaum jemand kennt die Sendung

Ach ja, das hier: Kein Mensch kennt sie. Die rbb-Bar war zwar voll, aber das sind vielleicht hundert Leute. Ich kenne nur eine Person, die die „Blindverkostung“ schon mal gehört hat – und das, obwohl  ich einen Newsletter über unbekannte klassische Musik schreibe und mit Freunden regelmäßig in klassische Konzerte gehe. Es gibt aus irgendwelchen Gründen kaum Berichterstattung über die Sendung; eine der wenigen Ausnahmen ist diese Besprechung von Arno Lücker im Blog der „Neuen Musikzeitung“. Wenn ich meinen Klassikfreund:innen die „Blindverkostung“ empfehle, ist die Meinung fast immer: Die Sendung ist sensationell. Dann folgt Empörung darüber, wie es sein kann, dass sie von ihr noch nie gehört hatten.

Es ist ein kleines Wunder, dass die „Blindverkostung“ existiert – trotz des Quotendrucks, dem Zwang zur „Kantenlosigkeit“ im Radio und der vermeintlichen Zumutung, immer wieder dasselbe Stück zu hören. Dabei ist diese Sendung so, wie sie das öffentlich-rechtliche Radio machen sollte. Eine Show, die kein Privatsender anfassen würde, weil sie zu nischig ist. Aber eben auch eine Show, die dem Programmauftrag entspricht, weil sie eine Kulturtechnik vermittelt: das genaue Zuhören.

Immer weniger Klassik im Kulturradio

Der Sender Radio 3 war zuletzt aber nicht wegen der Qualität seines Programms in den Medien, sondern vor allem, weil er sich regelmäßig umbenennt. Bis Mai 2019 hieß er „Kulturradio“, danach „rbbKultur“ und jetzt „Radio 3“. Bei der letzten Programmreform ist nicht nur der Begriff „Kultur“ aus dem Sendernamen entfallen, sondern auch die klassische Musik in der morgendlichen Hauptsendezeit. Es wirkt ein bisschen so, als ob der Sender die Klassik insgesamt runterdrehen würde und Kritik daran mit dem Hinweis entkräftet, dass er sich in eigenen Sendungen – wie der „Blindverkostung“ – mit der Musik beschäftigt. Vielleicht sichert das den Bestand dieser Sendung, wenngleich die Gesamtentwicklung für ein Kulturradio zumindest fragwürdig ist. (Ja gut, der Sender heißt auch nicht mehr Kulturradio.)

An einer Stelle sagt Christine Lemke-Matwey über einen Solisten: „Hier weiß jemand, wie das Konzert zu Ende geht und was noch alles vor ihm liegt. Es hat eine Linie, bei allen Ausbüchsereien nach links und nach rechts. Hier weiß jemand, wohin es geht.“

Man wünscht sich, dass das auch für das Management bei Radio 3 gilt – und der Sender genau das tut, was nur das öffentlich-rechtliche Radio kann: fantastische kleine Sendungen produzieren, die es eigentlich nicht geben dürfte, und derer es umso mehr bedarf.

11 Kommentare

  1. Danke für den Tipp! Klingt richtig interessant, hatte noch nie davon gehört.

    Wer sich Klassik(radio) in kleineren Häppchen erschließen will, dem empfehle ich die Reihe „Das starke Stück – Musiker erklären Meisterwerke“ vom Bayerischen Rundfunk. Gibt es auch als Podcast.

  2. In meinen jungen Jahren gab es Ähnliches und auch Ausführliches im öffentlichen Radio zu hören: da spielten sich zwei Expertenrunden (Studio Köln und Studio London?) wechselseitig klassische Schnipsel zu und fachsimpelten ratend darüber, was und wer zu hören war.
    Für mich waren das highlights hinsichtlich Genuss und tiefergehenden Verständnisses!

  3. noch nie von der sendung (oder eben die sendung) gehört – das muss sich jetzt ändern. danke, grandioser text.

    (wobei ich beim „apollinischen zugriff“ ja spontan erstmal an pollini, also den maurizio, r.i.p., denken musste – apollinisch also vielleicht einen weniger präzisen (.. zugriff? worauf? ich weiß es nicht, klar.) meinen könnte?)

    i’m intrigued.

  4. @Frank l. (#3):

    wobei ich beim „apollinischen zugriff“ ja spontan erstmal an pollini, also den maurizio, r.i.p., denken musste

    Vermute, es geht eher um den nitzscheanischen Gegensatz apollinisch vs. dionysisch – das apollinische Prinzip (nach dem Gott Apollo) steht für Vernunft, Ordnung, (Selbst-)Beherrschung; das dionysische (nach Dionysos) für Rausch und Ekstase.

    Was jetzt „apollinischer im Zugriff“ bedeutet, weiß ich auch nicht. Vernünftiger? Oder langweilig? Keine Ahnung. ;-)

  5. Von dieser RBB-Sendung habe ich auch noch nicht gehört, aber seit vielen Jahren bin ich Fan eines vergleichbaren Formats im Schweizer Radio: die Sendung heißt einfach Diskothek und das Konzept ist nicht so sehr das Erraten der Interpreten (obwohl das nebenbei auch abgefragt wird), sondern die Wahl einer „besten“ Aufnahme im Blindtest. Im bundesdeutschen Internet ist die Sendung aber leider nur zu hören, wenn man sich per Proxy oder VPN mit der Schweiz verbindet: https://www.srf.ch/audio/diskothek

  6. zu #4: Genau das wird es sein, apollinisch vs. dionysisch. Und der „apollinische Zugriff“ meint in diesem Zusammenhang eine sachlichere, nicht ekstatische Interpretation. Danke für den Hinweis!

  7. @Gabriel Yoran (#7):

    Gern geschehen. Jetzt bin ich gespannt, wie eine sachlich gestimmte Trauerweide klingt. Ich hör es mir an (wobei ich eine ekstatische Trauerweide auch mal interessant fände).

  8. Im Printbereich gibt es dieses Format schon mehr als 20 Jahre, wenn ich mich recht erinnere, zuerst bei „Crescendo“. Heute ist das „Blind Gehört“ bei „Concerti“ eine populäre Rubrik
    https://www.concerti.de/klassik/interviews/blind-gehoert/
    ebenso bei „Rondo“ unter gleichem Namen
    https://www.rondomagazin.de/artikelkat.php?artikelkategorie_id=15
    wo auch der erwähnte Kai Luehrs-Kaiser Artikel beisteuert.
    Unterschied zur RBB-Sendung ist jedoch, dass in den Klassik-Magazinen nicht Journalisten sondern (fast ausschließlich) Musiker die Aufnahmen blindhören.
    Ich habe selbst schon viele solcher Interviews vorbereitet und geführt und es ist tatsächlich immer ein großer Spaß.
    Die RBB-Sendung kannte aber auch ich nicht, insofern Danke für die ausführliche Besprechung.

  9. Es ist schön, dass es doch noch gelegentlich Formate für echte Nerds gibt, in allen Feldern.

    Aber „übliche egalitäre Kulturkritik“? Ist das so?

  10. Danke für den hier vor einigen Tagen gelesenen Tipp! Inzwischen habe ich mir in den Tagesrandzeiten ein paar Ausgaben des Formats angehört. Offenlegung: Ich habe ein ähnlich (wenn auch anders geartetes) ambivalentes Verhältnis zu klassischer Musik wie Gabriel Yoran. Ich stamme aus einer musikalisch unbeleckten Familie, bin abgebrochener Musikwisschenschaftsstudent und mache inzwischen etwas ganz anderes.
    Stichwort „bestens unterhalten“: Ja, die Sendung macht echt Laune! Man wird mit Aufnahmen konfrontiert, die man noch nicht kannte und kann danach dem nerdigen Geplänkel der Viererrunde lauschen, über deren Kenntnisse man offen staunt. Mein Favorit ist Kai Luehrs-Kaiser, dessen süffisant herablassende Einlassungen à la „nunja… die erste Stimme ist eindeutig XY, aber der zweite Alt ist wirklich ausgesprochen scheußlich“ eine unzeitgemäße Subversion im heutigen Kulturbetrieb darstellen. Gut, dass ich nie in die Situation kommen werde, von ihm beurteilt zu werden.
    Als „Laienhörer“, der maximal wechselweise 2 Aufnahmen von Mozarts Vierzigster gehört hat (einmal Karajan, einmal historisch-informiert, wie das heute wohl heißt) und damit zufrieden war, frage ich mich aber, ob diese Nerdhaftigkeit nicht einen Verlust an Unbefangenheit bedeutet, die den Zugang zu großen Werken eher verstellt als ermöglicht. Aber okay, ich bin ein Nerd auf anderen Gebieten, und von dort kann ich sagen: Der Zugang ändert sich, die Faszination bleibt.
    Dank daher an Gabriel Yoran für den Hinweis auf eine Sendung, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Lieber ÖRR, wenn ihr das lest: Ihr müsst noch an eurer Ö-keitswirksamkeit arbeiten, für so was zahle ich meine Gebühren nämlich gerne.

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