Eigentlich gäbe es über die Lage in Angola sehr viel zu berichten: Mehr als sieben Millionen Menschen in dem südwestafrikanischen Land benötigen humanitäre Hilfe. Vor allem durch den Klimawandel bedingte Naturkatastrophen führen zu Hunger und Unterernährung. Auf dem Land haben nur 28 Prozent der Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser, die Landwirtschaft als Haupteinkommensquelle ist aufgrund der Klimaextreme stark zurückgegangen. Hinzu kommt, dass Angola seit dem Bürgerkrieg vor mehr als 20 Jahren eines der am stärksten verminten Länder der Welt ist, tausende Menschen wurden durch Explosionen verletzt oder getötet.
Doch wer bei einschlägigen Nachrichtenmedien nach diesen Themen sucht, findet so gut wie nichts.
Angola liegt im Ranking der vergessenen humanitären Krisen der Organisation Care wie schon im Vorjahr auf dem unrühmlichen ersten Platz. Care betrachtet die Berichterstattung über Notlagen mit mehr als einer Million Betroffenen und analysiert jedes Jahr rund fünf Millionen Artikel auf Arabisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch. Im Januar führte die Liste zum zweiten Mal in Folge nur Staaten in Afrika. Die „Tagesschau“, das ZDF, der Deutschlandfunk und zahlreiche private Nachrichtenmedien berichteten, wie fast jedes Jahr, über das Ranking. Über die eigentlichen Krisen aber berichten sie kaum.
Zwei Kriege dominieren
Burundi, Sambia, die Zentralafrikanische Republik – die Liste der Länder, aus denen trotz verheerender Krisen kaum berichtet wird, lässt sich lange fortführen. Warum ist das so? Der Deutschlandfunk schreibt dazu auf Übermedien-Anfrage:
„Aktuell haben wir zwei Kriege, die globale Klimakrise und die sich verschärfende wirtschaftliche Lage in Deutschland. Das kann uns an Grenzen unserer Sendezeit, vor allem aber auch unserer Aufmerksamkeit führen.“
Der Autor
Julian Hilgers arbeitet als Redakteur im Wirtschaftsressort der Mediengruppe RTL und als freier Journalist für verschiedene Medien. Neben Wirtschaft liegt sein Fokus vor allem auf Themen rund um den afrikanischen Kontinent. Er ist Host des Podcasts „55Countries – Der Afrika-Podcast“ und twittert unter @julianhilgers.
Immer wieder argumentieren die Redaktionen mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten. Auch ich habe aus diesem Grund als freier Journalist Absagen erhalten, beispielsweise als ich über den vergessenen Konflikt in der Westsahara oder den anhaltenden Krieg in Äthiopiens Region Tigray berichten wollte.
Aus Sicht der Redaktionen scheinen bei solchen Krisen oft die Nachrichtenkriterien, also Anlässe für eine Berichterstattung, zu fehlen. Für ARD-Aktuell sind das laut Anfrage Aktualität und Relevanz. Doch die Ursachen vieler Krisen wie in Angola, also durch den Klimawandel bedingte Dürren oder Überschwemmungen, sind inzwischen chronisch, sie sind jeden Tag aktuell und angesichts der unglaublichen Zahl der Betroffenen in meinen Augen auch sehr relevant. Gerade das wäre doch angemessene Klimaberichterstattung. Zudem kann auch Kontinuität beziehungsweise die Dauer eines Ereignisses ein Nachrichtenkriterium sein – zumindest, wenn zuvor überhaupt mal berichtet wurde.
ARD-Aktuell schreibt aber auch: „Ein Anlass für Berichterstattung kann auch die Reise eines Korrespondenten in ein Land sein.“ Es scheint also, als sei Berichterstattung durchaus auch abseits der klassischen Nachrichtenfaktoren möglich, wenn es die Redaktion will.
Ukraine: 2021 noch eine vergessene Krise
Nur wenn sie von einer Krise und deren Hintergründen erfahren, können sich die Zuschauer:innen eine Meinung bilden und etwas unternehmen, zum Beispiel spenden, demonstrieren oder politisch handeln. Kontinuierliche Berichterstattung hilft, um die Lage der Menschen vor Ort zu verstehen, einordnen zu können und vor allem von einer Eskalation in einer Krisenregion nicht überrascht zu werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Ukraine: Sie lag 2021 noch auf Platz 2 im Care-Ranking der vergessenen Krisen, bevor der russische Angriff im Februar 2022 schlagartig den medialen Fokus auf die Region lenkte und damit auch das politische Geschehen veränderte.
„Öffentliche Aufmerksamkeit, die in den politischen, in den institutionellen Raum trägt, ist extrem wichtig, damit die Menschen, die in Notlagen sind, auch Unterstützung bekommen können. Wenn wir nichts wissen über die Not von Menschen, dann fällt es auch schwer zu handeln“, sagte mir Karl-Otto Zentel, Generalsekretär von Care Deutschland, Anfang des Jahres in einem Interview.
Es ist übrigens nicht nur die Organisation Care, die fehlende Berichterstattung kritisiert. Auch die Otto Brenner Stiftung verwies in ihrer Analyse „Das Verblassen der Welt“ auf vergessene Krisen – vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, aber auch in mittel- und südamerikanischen Staaten wie Haiti oder Ecuador oder asiatischen Ländern wie Bangladesch und Myanmar.
Natürlich gibt es auch positive Beispiele. Über die Lage in den Staaten der Sahel-Zone gibt es seit zahlreichen Putschen in der Region, dem wachsenden Einfluss Russlands und Debatten um den Abzug des Militärs, unter anderem der Bundeswehr, endlich etwas mehr Berichterstattung. Das ZDF drehte nach den Putschen in verschiedenen westafrikanischen Staaten eine ausführliche Doku. Auch über den Krieg im Sudan wurde anlässlich des ersten Jahrestages im April, Hilferufen von zahlreichen NGOs und der Geberkonferenz für das Land in Paris verhältnismäßig viel berichtet.
Im Übrigen muss die Berichterstattung über eine Krise nicht immer gleich in Frust und Verzweiflung bei Redaktion und Rezipient:innen enden. Konstruktive Berichterstattung funktioniert auch in Krisen- und Konfliktregionen. Zum Beispiel mit Berichten über Menschen und Initiativen, die in Krisenregionen helfen, an Lösungen arbeiten oder Perspektiven, die zeigen, wie die Lage der Menschen dort mit uns in Deutschland zusammenhängt. ARD-Reporter Simon Riesche gelang das in seinem Weltspiegel-Beitrag aus dem Sudan beispielsweise sehr gut. Er begleitete einen Anwalt, der selbst vor dem Krieg geflohen ist und nun in den Camps Vergewaltigungsfälle und weitere Kriegsverbrechen dokumentiert. „Es ist ein Krieg, den auch wir neben der Ukraine und dem Gaza-Streifen kaum wahrnehmen. Und das, obwohl dort die größte Hungerkrise der Welt droht“, moderiert Ute Brucker den Beitrag an.
„Nicht überfordern“
Viele Krisen aber bleiben weiter vergessen. „Alle Konflikte und Krisen des Globus ‚angemessen‘ darzustellen, würde unsere Kapazitäten übersteigen: personell, finanziell, zeitlich und intellektuell. Insofern müssen wir uns beschränken, um uns nicht zu überfordern“, heißt es auf Übermedien-Anfrage vom Deutschlandfunk.
Ja, die Budgets sinken und Auslandsjournalismus ist teuer. Aber warum ist er eigentlich nicht mehr wert? Und warum sind Medien nicht in der Lage, die Krisen der Welt „angemessen“ darzustellen? Das liegt auch daran, dass Auslandsjournalismus eher zurückgefahren wird als ausgebaut. Private Medien leisten sich kaum noch Korrespondent:innen. Das Netz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist bisher noch besser, reicht aber bei weitem nicht aus. Die Studios von WDR und ZDF in Nairobi beispielsweise verantworten fast 40 Länder in Afrika – und das mit jeweils einer TV-Korrespondentin. Auch die Studios in Johannesburg kümmern sich um gut ein Dutzend Staaten, unter anderem Angola.
Auch der Mangel an Zeit und Sendefläche ist eher Symptom als Ursache. „In einer komplexen, vernetzten Welt mit Krisen und Konflikten an vielen Orten ist Auslandsberichterstattung wichtiger denn je“, schreibt das ZDF etwas plattitüdenhaft. Es bräuchte also auch mehr Raum dafür. Nicht nur in speziellen Auslandsformaten, sondern auch für die Hauptnachrichtensendungen. Die Welt um 20 Uhr in 15 Minuten abzubilden, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Und online zählt auch das Argument der Sendeplätze nicht.
Bessere Bedingungen für Stringer und Journalisten vor Ort
Zur Wahrheit gehört aber auch: Viele Länder schränken die Pressefreiheit massiv ein, die bürokratischen Hürden sind hoch, die Sicherheitslage komplex. Das ZDF etwa verweist darauf, dass es in den Berichtsgebieten immer wieder „Interessen gibt, kritische Berichterstattung zu verhindern“. Lokale Journalist:innen und Stringer, Smartphones mit guten Mikrofonen und Kameras, Interviews via Video-Call und Beiträge aus sozialen Netzwerken würden mehr Berichterstattung auch mit weniger Geld und Aufwand möglich machen. Wichtig wäre deshalb, dass Redaktionen auch freie Journalist:innen und Stringer schützen und Kosten für Reise und Sicherheit übernehmen. Diese Möglichkeiten nutzen die Redaktionen in Deutschland noch viel zu wenig. Gerade auch im Vergleich zu internationalen Medien, wie BBC beispielsweise. Die Recherche vor Ort soll das natürlich nicht grundsätzlich ersetzen.
Immer über alle Krisen der Welt zu berichten, wäre wohl nicht realistisch und in der Tat „intellektuell“ überfordernd für das Publikum. Auch ich bemühe mich in Bezug auf den afrikanischen Kontinent eigentlich um eine konstruktive und differenzierte Berichterstattung, die nicht nur auf Kriege, Krisen und Konflikte schaut – denn auch die sind nur ein Teil der Realität. In den Metropolen des globalen Südens entstehen spannende Start-ups, Labore entdecken und besiegen Krankheiten, der Tourismus wächst – auch diese Geschichten sollten erzählt werden.
Redaktionen sollten deshalb insgesamt mehr Sendefläche und Geld in Auslandsberichterstattung investieren und die neuen Produktionsmöglichkeiten besser ausschöpfen. Aber es braucht auch Mut, abseits der dominierenden Krisen regelmäßig auf prominenten Sendeplätzen in andere Teile der Welt zu schauen, damit wir die Krisen dieser Welt und die Menschen, die unter ihnen leiden, nicht komplett vergessen.
1 Kommentare
Auch der Stil, wenn dann mal über diese (scheinbar) fernen Konflikte berichtet wird, wäre zu kritisieren. Das sind dann so Stücke die mit „Samia schaut verbittert von ihrem Tee auf, wenn sie von dem Militärputsch spricht.“ beginnen. Statt effekthascherische Story-Texte à la Relotius wie aus 1001 Nacht für die Wochenendausgabe müsste es eine sachliche Berichterstattung sein, die selbstverständlich neben News vom Ukrainekrieg oder der Diskussion über den Länderfinanzausgleich steht.
Auch der Stil, wenn dann mal über diese (scheinbar) fernen Konflikte berichtet wird, wäre zu kritisieren. Das sind dann so Stücke die mit „Samia schaut verbittert von ihrem Tee auf, wenn sie von dem Militärputsch spricht.“ beginnen. Statt effekthascherische Story-Texte à la Relotius wie aus 1001 Nacht für die Wochenendausgabe müsste es eine sachliche Berichterstattung sein, die selbstverständlich neben News vom Ukrainekrieg oder der Diskussion über den Länderfinanzausgleich steht.