Notizblog (12)

Über Gewalt gegen Politiker und die Grenzen der Statistik

Eines zumindest scheint weitgehend unstrittig zu sein: Die Gewalt gegen Politiker nimmt zu. Nach Angaben von Holger Münch, dem Chef des Bundeskriminalamtes, wurden in den ersten Monaten dieses Jahres bereits 22 tätliche Angriffe auf Politiker gezählt. Im gesamten vergangenen Jahr waren es 27. Auch die Zahl der Beleidigungen nehme zu, sagte er.

Aber welche Partei ist das häufigste Ziel von Angriffen? Ist die AfD verantwortlich für die Eskalation – oder ist sie ihr größtes Opfer oder beides? Und was zählt überhaupt als Angriff? Darüber ist eine Diskussion entbrannt, seit der SPD-Politiker Matthias Ecke am Freitag vorvergangener Woche beim Plakatieren in Dresden von mehreren jungen Männern angegriffen und schwer verletzt wurde.

ARD verzerrt Gewalt-Statistik über AfD
Screenshot: Bild.de

„Bild“ wirft der ARD und anderen Medien vor, eine „Gewalt-Statistik“ „verzerrt“ zu haben. Sie hatten berichtet, dass Parteimitglieder der Grünen im vergangenen Jahr mit großem Abstand am häufigsten Opfer von Angriffen geworden seien: 1219 Mal.

„Bild“ meint, dass das ein „verfälschtes Bild“ vermittele: Die meisten dieser „Angriffe“ seien nämlich bloß „Äußerungsdelikte“ gewesen, also harte verbale Attacken bis hin zu Beleidigungen und Beschimpfungen. „Bei sogenannten Gewaltdelikten, also Sachbeschädigungen, Schmierereien, Farbattacken aber auch Brandanschlägen oder physischen Übergriffen sind Vertreter der AfD hingegen häufiger betroffen als Politiker anderer Parteien.“

In der ungewohnten Rolle, in einer heftigen Debatte mehr Differenzierung einzufordern, erklärte „Bild“: „Zwischen verbalen und gewalttätigen Angriffen“ gebe es „einen bedeutenden Unterschied“. Das stimmt, aber hinter der vermeintlich harmlosen Kategorie „Äußerungsdelikt“ kann auch die konkrete Bedrohung einer Person stecken. Was davon ist „wirklich“ Gewalt? Welche Delikte muss man zählen, wenn man die unverzerrte „Wirklichkeit“ zeigen will?

Trügerischer fester Boden

Eigentlich erhofft man sich von Statistiken, dass sie in kontroversen Debatten einen festen Boden einziehen, auf dem man diskutieren kann: objektive Daten gegen gefühltes Wissen. Doch so einfach ist es oft nicht, ganz besonders oft nicht, wenn es um Kriminalitätsstatistiken geht. Dabei ist die Datengrundlage, auf der die sehr unterschiedlichen Darstellungen und Interpretationen beruhen, in diesem Fall dieselbe: Antworten der Bundesregierung auf Anfragen der AfD-Fraktion. Seit ein paar Jahren erkundigt die sich regelmäßig nach der Zahl der „Angriffe auf Politiker, Parteibüros und Wahlplakate“ auf der Datenbasis des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes.

Mit „Angriffen“ meint die AfD dabei ausdrücklich nicht nur Gewaltdelikte, sondern auch Äußerungsdelikte und andere Straftaten. Die Bundesregierung führt sie auf ihren Wunsch zusammengefasst und voneinander getrennt auf.

Welche Aussagekraft haben diese Zahlen? Welche Partei wird „wirklich“ am häufigsten Opfer von Angriffen, von richtiger Gewalt?

Der Autor Tobias Wilke, eine Art Polizeistatistiken-Watchblogger, weist auf Twitter auf viele Details hin, die die Aussagekraft der Statistiken relativieren. Zum Beispiel zählen sie als angebliche Angriffe auf AfD-Vertreter auch Straftaten gegen Polizeibeamte, die von Gegendemonstranten zu AfD-Demos verübt werden. Als Körperverletzung zum Schaden der AfD wird auch gezählt, dass sich ein Polizeibeamter verletzt hat, als er versucht hat, einen Gegendemonstranten wegzuschieben.

Was die Statistik verzerrt

Beachtenswert ist auch, dass es sich bei der Statistik zur politisch motivierten Kriminalität um eine Eingangsstatistik handelt: Straftaten werden beim ersten Anfangsverdacht erfasst. Deshalb zählt es auch als „Gewalttat gegen AfD-Politiker“, wie Wilke dokumentiert, „wenn ein AfD-Politiker glaubt, einen Luftgewehrschuss gegen ihn gehört zu haben, die Polizei gar keine Spuren findet und er dann einräumt, sich wohl geirrt zu haben“.

Auf der anderen Seite wird die Statistik entsprechend auch dadurch beeinflusst, wie oft mögliche Straftaten angezeigt werden. Wenn die Grünen sich vornehmen, verbale Angriffe nicht mehr zu tolerieren und Beleidigungen konsequenter zur Anzeige zu bringen, kann auch das zu einer deutlichen Zunahme dieser Delikte in der Statistik führen – umgekehrt bedeutet es nicht, dass die Zahl der Beleidigungen und Bedrohungen von Grünen-Politikern nicht tatsächlich zugenommen hat.

Der „Spiegel“ benennt in seiner aktuellen Titelgeschichte zum Thema einen ähnlichen Effekt, was die tätlichen Angriffe angeht: „Viele Politiker anderer Parteien“ zweifelten an, dass die AfD am häufigsten Zielscheibe sei: „Sie selbst würden längst nicht alle Fälle melden, weil das meist zu nichts führe und im Wahlkampf Zeit koste. Die AfD melde dagegen prinzipiell alles.“ Überprüfen lässt sich das nicht.

„Gewalt-Eskalation“?

In einem Punkt musste sich „Bild“ in ihrer Kritik an der angeblichen „Verzerrung“ der Statistik durch die ARD übrigens inzwischen korrigieren: Sie hatte Talkshow-Moderatorin Caren Miosga vorgeworfen, „zumindest missverständlich“ berichtet und nicht zwischen der Art der Angriffe differenziert zu haben, als sie in ihrer Talkshow sagte, dass die Grünen überdurchschnittlich häufig Ziel und Opfer von Angriffen werden. Doch in Wahrheit hatte Miosga nicht nur gesagt, dass „insgesamt die Grünen diejenigen sind, die am allermeisten von diesen Angriffen betroffen sind“, sondern unmittelbar hinzugefügt: „Unter Angriffen versteht man sowohl verbale als auch körperliche Attacken.“

Richtigstellung
In einer früheren Version des Artikels fehlte der Hinweis, dass Frau Miosga in ihrer Sendung darauf hingewiesen hat, dass man „unter Angriffen sowohl verbale als auch körperliche Attacken versteht.“ Wir haben diesen Passus entsprechend ergänzt und korrigiert.
Screenshot: Bild.de

Berechtigter ist die Kritik an einem Instagram-Post des Funk-Formates „Die da oben“, der schon aus dem März stammt. Eine Kachel mit der Gesamtzahl der Angriffe auf die verschiedenen Parteien trug die Überschrift „Gewalt-Eskalation gegen Grüne 2023“ - würde man das wirklich korrekt so verstehen, dass es auch verbale Angriffe beinhaltet?

Für „Bild“ ist die Sache am Ende ganz einfach: „Politiker und Mandatsträger der AfD werden am häufigsten Opfer von tätlichen Attacken.“ Das stimmt – wie gesagt – nur mit Einschränkungen, aber es gibt auch keinen Grund, diese Zahl klein- und diese Angriffe schönzureden.

Die AfD als Täter und Opfer

Für rechte Wutmedien gibt es eine doppelte Motivation, sich nur auf diesen Teil der Statistik zu konzentrieren: Sie können so die AfD zu den größten Opfern erklären – und die anderen Medien zu linksgrünen Wahrheitsverzerrern.

Der „Spiegel“ nennt in seiner Titelgeschichte sowohl die Zahlen für Gewalt- als auch für Äußerungsdelikte; die Nachrichtenagentur dpa erwähnte in der vergangenen Woche in einem längeren Bericht die Zahlen für Gewaltdelikte.

Stellen andere klassische Medien die Gesamtzahl der Angriffe, also inklusive der Äußerungsdelikte, so sehr in den Mittelpunkt, weil sie das für die aussagekräftigste Zahl halten? Oder weil sie so gut in die vermeintlich gewünschte Erzählung von den Grünen als größten Opfern passt? Gibt es einen Widerwillen, ausgerechnet Vertreter der AfD als Opfer von Gewalt darzustellen?

Denn natürlich hat der Aufstieg der rechtsradikalen Partei viel mit der Zunahme der Gewalt zu tun, wie zum Beispiel der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sagt. Er spricht von einem „autoritären Nationalradikalismus“ der Partei, wodurch der Diskurs öffentlich nach rechts verschoben und aufgeheizt worden sei, berichtet der Deutschlandfunk:

Allerdings werde inzwischen „an allen Orten“ mit „radikalen Feindbildern“ gearbeitet: Mit der Untergangsrhetorik der AfD legitimierten gewaltbereite Rechtsextremisten ein „Notwehrrecht“. Linksextremisten trügen wiederum, angetrieben von einer „eigenen Überlegenheitsattitüde“, zu einem „Klima der Angst“ bei.

Dass man Kriminalitäts-Statistiken nicht nur dazu benutzen muss, um aus ihnen scheinbar objektive Belege für einfache Schlagworte zu gewinnen – Grüne besonders oft Opfer! AfD besonders oft Opfer! – zeigt T-Online. Redakteur Lars Wienand geht in einem Artikel auf dem Nachrichtenportal zwar auch von denselben Daten aus, aber er geht in zweifacher Hinsicht weiter: Er schlüsselt sie detaillierter nach Jahren und Delikten auf, und vor allem ergänzt, konkretisiert und relativiert er sie mit vielen handfesten Beispielen, die zeigen, wie läppisch einige Delikte sind und wie bedrohlich andere. Man erfährt so nicht nur etwas über die Gewalt gegen Politiker – sondern auch über die Grenzen der Statistik.

2 Kommentare

  1. Daß die AfD jeden Kratzer an einem ihrer Plakate oder Aushänge als Sachbeschädigung zur Anzeige bringt, dürfte durchaus plausibel sein.

  2. Naja, andere Parteien könnten (und sollten vllt sogar) solche Taten auch zur Anzeige bringen. Vllt nicht gerade solche Peinlichkeiten wie „Habe ich einen Knall gehört?“, aber schon ab einer gewissen Bagatellgrenze. Um einerseits der AfD nichts zu schenken, und andererseits, weil solches Verhalten ja schon bekämpft werden sollte.

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