Die Aufmachung der Seite 3 in „Bild“ am 24. April ist gewohnt drastisch: Eine komplette Seite zeigt knapp 70 junge und weniger junge Männer. Einer davon, mit freiem Oberkörper und Eintracht-Frankfurt-Adler als Brust-Tattoo, ist auf eine halbe Seite vergrößert. Dazu ein Mini-Text unter der Schlagzeile „Galerie der Gewalt. Polizei startet größte Fahndung aller Zeiten nach Fußball-Hooligans“.
Der Anlass für diesen medial martialischen Fahndungsaufruf ereignete sich am 20. Mai 2023 in Gelsenkirchen, also bereits vor einem knappen Jahr. Am letzten Spieltag der vergangenen Bundesliga-Saison kam es nach der Partie FC Schalke 04 gegen Eintracht Frankfurt zu Auseinandersetzungen im Stadion. Fans beider Vereine gerieten nach gegenseitigen Provokationen in der Nähe des Gästeblocks aneinander. Die Stimmung auf Schalke, das an diesem Tag in die Zweite Liga abstieg, war von Anfang an aufgeheizt. Und so kam es neben Becherwürfen und Gepöbel auch zu handfesten Schlägereien. Insgesamt sollen sich knapp 200 Menschen an den Tumulten beteiligt haben. Dabei wurden nach Polizeiangaben eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes sowie mehrere Polizist:innen leicht verletzt. Zudem sollen mindestens 18 weitere Zuschauer:innen verletzt worden sein – zwei davon mussten im Krankenhaus behandelt werden.
Nach knapp einem Jahr hat die Polizei Gelsenkirchen nach eigenen Angaben 212 Verfahren eingeleitet und 143 Tatverdächtige ermittelt – unter anderem wegen Haus- und (schweren) Landfriedensbruchs, (gefährlicher) Körperverletzung, Widerstand gegen und tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte. Nach 69 noch unbekannten Personen suchen Polizei und Staatsanwaltschaft Essen nun mithilfe einer sogenannten Öffentlichkeitsfahndung (erste Erfolge haben sie inzwischen vermeldet). Das Besondere an solchen Fahndungen ist, dass sie auf die Reichweiten der Massenmedien setzen. Bevor die Polizei die Möglichkeit bekam, im Internet und auf Social Media entsprechende Fotos selbst zu veröffentlichen, war sie sogar exklusiv auf die Kooperation von Zeitungen und Rundfunk angewiesen.
Wenn die Öffentlichkeit auf Verbrecherjagd geht
Die Geschichte der Methode ist illuster: Erstmals wurde sie vom legendären Leiter der Berliner Mordkommission Ernst Gennat (u.a. bekannt aus „Babylon Berlin“) 1938 genutzt. Dabei ging es um den Mord an einem Taxifahrer, bei dem der Täter einen blutbefleckten Gummimantel am Tatort zurückgelassen hatte. Zeitungen druckten Bilder des Mantels, zusätzlich wurden Plakate aufgehängt. Und schließlich wurde der Mantel sogar im brandneuen Medium Fernsehen gezeigt, wobei laut „Prager Tageblatt“ „alle Berliner Schneider und Kleiderhändler von der Polizei aufgefordert“ wurden, „sich in den Fernsehvorführungsräumen einzufinden“, um ihn zu identifizieren. Tatsächlich wurde der Täter mithilfe des Mantels ermittelt und hingerichtet.
Welche Möglichkeiten das neue Medium Fernsehen bei Fahndungen bot, pries die UFA-Produktion „Wer fuhr IIA 2992“ 1939 in einem Kurz-Spielfilm, in dem eine Fahrerflucht nach einem tödlichen Unfall aufgeklärt wird. Ab 1967 schuf Eduard Zimmermann mit seinem „Aktenzeichen XY“ im ZDF eine neue Dimension der Öffentlichkeitsfahndung. Breit in Erinnerung geblieben sind auch die zahlreichen Sendungen und Plakate, auf denen ab den 1970er-Jahren nach den Terrorist:innen der RAF gefahndet wurde.
Kritik an Öffentlichkeitsfahndung nach G20
Eine der aufsehenerregendsten Massenfahndungen der vergangenen Jahre war die Öffentlichkeitsfahndung der Hamburger Polizei nach Tatverdächtigen, die sich an den massiven Ausschreitungen rund um den Hamburger G20-Gipfel 2017 beteiligt haben sollen. An dieser Fahndung entzündete sich jedoch auch Kritik: Zum Teil waren besonders schutzbedürftige Minderjährige zu sehen, zudem bemängelte der Hamburger Datenschutzbeauftragte, Johannes Casper, es drohe ein Stigma, da die Bilder aus dem Internet kaum noch zu entfernen seien. Das Vorgehen der Ermittler sei „durchaus fragwürdig“.
Der Autor
Andrej Reisin ist freier Journalist. Er ist seit 2024 vor allem als CvD für das Content-Netzwerk funk von ARD und ZDF tätig und berichtet bei Übermedien und im Medium Magazin regelmäßig über Medienthemen sowie bei 11 Freunde über Fankultur. Er hat zuvor u.a. für die „Tagesschau“, „Panorama“ und „Zapp“ gearbeitet und für zahlreiche Publikationen (u.a. Spiegel, taz, Politik und Kultur) geschrieben, war einer der Herausgeber des Weblogs Publikative.org und erhielt mit anderen den Grimme-Preis für die „Panorama“-Berichterstattung zum Hamburger G20-Gipfel.
Die Hamburger Korrespondentin der „taz“, Katharina Schipkowski, kritisierte, dass Medien „auf die Polizeistrategie anspringen und die Videos und Fotos der Polizeifahndung veröffentlichten“. Zwar druckten einige Medien auch vorher schon regelmäßig Fahndungsbilder, „allerdings in viel kleinerer Dimension und nicht in einem politisch aufgeladenen Kontext wie G20“.
Die Berichterstattung der „Bild“-Zeitung ist hier ebenfalls interessant, denn diese hatte Fotos von Tatverdächtigen unter der Schlagzeile „Gesucht – wer kennt diese G20-Verbrecher?“ bereits auf eigene Faust veröffentlicht – weit vor der Polizei.
Der Presserat entschied damals, dass die Art der Darstellung insbesondere in Form eines Porträtbilds in Verbindung mit dem Fahndungsaufruf gegen den Pressekodex verstoße, weil die Abgebildeten dadurch „an einen öffentlichen Medienpranger gestellt“ würden. Weiter heißt es:
„Es gehört nicht zur Aufgabe der Presse, selbständig nach Bürgern zu fahnden, ohne dass ein offizielles Fahndungsersuchen seitens der Staatsanwaltschaft vorliegt. Die Berichterstattung ist daher nicht mit dem Ansehen der Presse gemäß der Präambel des Kodex vereinbar, entschied der Presserat und sprach eine Missbilligung aus. Folgen einer selbst inszenierten ‚Verbrecherjagd‘ sind nach Auffassung des Presserats nicht mehr zu kontrollieren und können auch Selbstjustiz Vorschub leisten.“
Auch die Justiz beschäftigte sich damals mit der „Bild“-Berichterstattung, kam aber zu einem anderen Schluss. Eine abgebildete Frau hatte „Bild“ zunächst erfolgreich auf Unterlassung verklagt. Der Bundesgerichtshof (BGH) entschied in letzter Instanz allerdings, die Berichterstattung sei grundsätzlich zulässig, weil es sich um ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte handle. Der BGH sah keine Stigmatisierung, weil das Foto nicht geeignet gewesen sei, um die Klägerin einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Dies lag unter anderem daran, dass ihr Gesicht in der einzigen Nahaufnahme zum Teil verdeckt war. Dass die Klägerin unter Umständen von einem engen Personenkreis identifiziert werden könne, sei weniger wichtig als das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, denn das öffentliche Interesse an den rund um den Gipfel begangenen massiven Straftaten sei entsprechend groß.
Verhältnismäßigkeit zweifelhaft
Im Vergleich dazu ist die Fußball-Randale zeitgeschichtlich sehr viel weniger bedeutsam, das öffentliche Interesse fällt erheblich geringer aus als bei RAF oder G20. Es handelt sich um ein Ereignis, das inzwischen fast ein Jahr her ist und aus einer Mischung aus Gepöbel, Becherwerfen, Herumgeschubse und einzelnen Schlägereien bestand. Der Großteil der nicht fußballinteressierten Öffentlichkeit dürfte davon nichts mitbekommen haben – und selbst eifrige „Sportschau“-Zuschauer:innen dürften es längst vergessen haben, sofern die entsprechenden Bilder überhaupt Teil der damaligen Berichterstattung waren.
Auch die Verhältnismäßigkeit erscheint zweifelhaft – und zwar nicht nur im Hinblick auf die Berichterstattung, sondern auch auf das Vorgehen der Behörden selbst. Denn das Mittel der Öffentlichkeitsfahndung ist in der Strafprozessordung genau geregelt. Um überhaupt dazu greifen zu können, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:
Es muss die Verhältnismäßigkeit beachtet werden und das öffentliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung muss sorgfältig mit den schutzwürdigen Interessen des Gesuchten abgewogen werden. Zudem müssen andere Formen der Identitätsfeststellung erfolglos geblieben sein.
Die Öffentlichkeitsfahndung setzt grundsätzlich den Beschluss eines Richters voraus. Dafür muss eine Straftat von erheblicher Bedeutung vorliegen. Das Bundeskriminalamt listet in diesem Zusammenhang „z.B. Mord, terroristische Anschläge, sexueller Missbrauch oder Raub“ auf.
Straftaten von „erheblicher Bedeutung“?
Laut Bundesverfassungsgericht (BVerfG) liegt eine „Straftat von erheblicher Bedeutung vor, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen“. Dennoch fahnden Polizei und Staatsanwaltschaft regelmäßig auch wegen Delikten wie Tank- oder Taschendiebstahl öffentlich nach Tatverdächtigen. Ein Grund für diese in Teilen fragwürdige Praxis dürfte sein, dass kaum ein:e Tatverdächtige:r ein Verfahren anstrengt, um die Rechtmäßigkeit der Fahndungsmethode prüfen zu lassen. Und wo kein Kläger, da ist bekanntlich auch kein Richter.
Laut BVerfG sind Straftaten, die mit nicht mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, „nicht ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen“. Sowohl anhand der Historie als auch anhand der Definitionen lässt sich somit feststellen, dass Stadion-Ausschreitungen, bei denen es nur vereinzelt zu schweren Straftaten gekommen ist, die aber wiederum nicht Teil der Öffentlichkeitsfahndung sind, nicht unbedingt dem entsprechen, was man sich unter „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ vorstellt. Die Gelsenkirchener Ermittler:innen greifen daher zu einem Label, das juristisch seit Jahrzehnten umstritten ist: dem „Landfriedensbruch“.
Dieser wird von Kritiker:innen häufig als „Gummiparagraph“ bezeichnet, weil er nach dem Prinzip „mitgefangen, mitgehangen“ angewendet werden darf, ohne individuelle Gewalthandlungen nachweisen zu müssen. Strafbar sind bereits „Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise […] begangen werden“. Was eine „Bedrohung“ konstituiert, liegt dabei im Auge des Betrachters – und ist zumindest im Ermittlungsverfahren breit auslegbar.
„Bild“ ignoriert diesen Umstand, spricht unter der Überschrift „Galerie der Gewalt“ von „Fußball-Hooligans“ und nennt die Tatverdächtigen „Schläger“. Die Redaktion ignoriert so jegliche Unschuldsvermutung genauso wie die Regeln zur Verdachtsberichterstattung. Stigmatisierung und Vorverurteilung werden mehr als billigend in Kauf genommen. Zumal einige der Abgebildeten sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits gestellt hatten, was „Bild“ mit einem „Gestellt“-Balken quer über den entsprechenden Fotos verdeutlichte. Das macht die ganze „Fahndung“ noch fadenscheiniger und verstärkt die Pranger-Wirkung.
Fans kritisieren Vorverurteilung
Entsprechend fällt die Kritik bei den Fans aus: Die „Königsblaue Fanhilfe“, die von Strafverfolgung betroffenen Fans Beratung und Rechtsbeistand anbietet, spricht auf Instagram von „einer nie dagewesenen Öffentlichkeitsfahndung gegen Fußballfans“. „Mit Hilfe der (Boulevard-)Medien vollzog die Polizei eine öffentliche Vorverurteilung vermeintlich gewalttätiger Fußballfans und ließ damit aus unserer Sicht einmal mehr jede Verhältnismäßigkeit vermissen“, so die Fanhilfe. Auf Spruchbändern der Kurve war unter anderem zu lesen: „Polizei GE: Verhältnismäßigkeit ausgeblendet, zusammen mit der Bild die Menschenjagd vollendet!“ oder drastischer: „Bullen und Springer Hand in Hand jagen Fans im ganzen Land“.
Nach Informationen von Übermedien handelt es sich bei der überwiegenden Mehrheit der Abgebildeten nicht um „Hooligans“ im engeren Sinn, also um Täter, die sich organisiert und regelmäßig zu Schlägereien verabreden, sondern um normale Fans, die sich im Eifer des Gefechts und zum Teil mutmaßlich auch alkoholisiert in eine Auseinandersetzung begeben haben. Das ist keine Entschuldigung und schützt auch vor keiner Strafe, rechtfertigt allerdings auch keine öffentliche Stigmatisierung, die mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und anderen Folgen im privaten Umfeld verbunden sein kann. Womöglich sind einige der Abgebildeten Jugendliche oder Heranwachsende. Insbesondere bei dieser Altersgruppe stehen auch strafrechtlich Prävention und Rehabilitation im Vordergrund. Dass diese Ziele mit einer solchen Fahndung erreicht werden, darf genauso bezweifelt werden wie die vermeintliche „Erheblichkeit“ des Vorwurfs des Landfriedensbruchs.
Viele Tatverdächtige nie verurteilt
Hinzu kommt das übliche Problem, wenn es um Tatverdächtige geht: Die meisten werden später gar nicht verurteilt. Laut Polizeilicher Kriminalstatistik schwankt die Zahl der Landfriedensbrüche, zu denen jedes Jahr ermittelt wird, im niedrigen vierstelligen Bereich, mit abnehmender Tendenz: Waren es zwischen 2004 und 2013 im Durchschnitt noch 1.831 Fälle pro Jahr, so sank die Zahl zwischen 2014 und 2023 auf 1.550. 2023 betrug sie sogar nur 876. Verurteilt werden laut Verurteiltenstatistik des Statistischen Bundesamts aber bedeutend weniger Menschen, 2021 zuletzt rund 200.
Mit anderen Worten: Die weit überwiegende Mehrheit der Verfahren wird eingestellt, entweder wegen erwiesener Unschuld oder wegen Geringfügigkeit. Die Vorverurteilung inklusive eigenem Bild, das für immer im Netz steht, lässt sich nicht ungeschehen machen. Medien sollten sich daher überlegen, bei welchen Delikten sie sich vor den Karren der Ermittlungsbehörden spannen lassen. Niemand wird die Verhältnismäßigkeit einer solchen Öffentlichkeitsfahndung bei Terrorismus oder Kindesentführung anzweifeln. Bei Landfriedensbruch im Fußballstadion ist dagegen Vorsicht geboten.
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Bei Landfriedensbruch im Allgemeinen ( siehe G20 HH 2017 ).
Bei Landfriedensbruch im Allgemeinen ( siehe G20 HH 2017 ).