Ostdeutschland

Zwischen Journalismus und Aktivismus: X-Accounts und ihre Recherchen zu Rechten

Anfang März wurde im Osten Thüringens, in der Stadt Gera, eine Unterkunft für Geflüchtete eröffnet, auf dem Gelände einer ehemaligen Klinik zogen die ersten Bewohner ein. Der Empfang war alles andere als freundlich: Vor dem Gebäude hatten Rechtsextreme ein Camp errichtet, organisiert wurde es von einem stadtbekannten Neonazi. Die Stimmung war feindselig. Es lief „harte Nazimusik“, unter anderem etwa ein verbotenes Lied der Band Landser, das Angriffe auf eben solche Geflüchtetenunterkünfte „glorifiziert“.

Berichtet hat darüber ein X-Account mit dem Namen „Ostthüringer Divan“, der Netzwerke und Aktionen der rechtsextremen Szene in der Region dokumentiert. Auf die Musik, die in dem Camp gespielt wurde, war der Account durch ein Video eines rechten Aktivisten aufmerksam geworden. Der „Ostthüringer Divan“ arbeitet nicht nur mit Hinweisen, er durchsucht Kanäle in sozialen Medien, sichtet stundenlange Aufnahmen, etwa von Demonstrationen, oder liest Posts rechter Parteien und Akteure – und verbreitet relevante Infos dann auf seinem Account, oft mit entsprechender Einordnung.

Was durchaus Folgen hat, denn auch Journalisten und Behörden lesen mit. Unter dem Post zur Nazimusik vor dem Camp in Gera erklärte etwa die Polizei später, es seien Ermittlungen eingeleitet worden, und auch in Medien wurden die rechtsextremen Aktionen vor der Unterkunft thematisiert. Was in dem Neonazi-Camp vor sich ging, ist also nicht unter dem Radar geblieben, es bekam Öffentlichkeit, nicht zuletzt durch den X-Account.

Kanäle wie den „Ostthüringer Divan“, die ihren Fokus auf Ostdeutschland haben, wo die AfD und andere extrem rechte Kräfte besonders stark sind, gibt es einige in sozialen Medien. Sie dienen auch Journalisten als Quelle, auch wenn die Accounts selten so ausdrücklich genannt werden wie 2022 in einem Text der „taz“. Die erwähnte damals den „Ostthüringer Divan“, nachdem der Verbindungen eines mutmaßlichen Reichsbürger-Netzwerks zur AfD beschrieben hatte. Es sei ein „lokaler Recherche-Account“, schrieb die „taz“, „der ausdauernd auf die Verbindungen zwischen AfD, Reichsbürgern, Freien Sachsen und Thüringern sowie militanten Neonazis“ hinweise.

Aber wer steckt dahinter? Und ist das Journalismus oder Aktivismus?

„Infos zu Nazis“

Der „Ostthüringer Divan“ existiert bei X (früher: Twitter) seit Anfang 2020, aktuell hat er etwa 4.500 Follower. Sich selbst beschreibt der Account so:

„Infos zu Nazis und rechten Coronademos in Gera und Umgebung. Schwerpunkt ,Freies Thüringen’“.

Wer den Account verantwortet, steht dort nicht. In einem Post heißt es:

„Unsere Gruppe schloss sich vor ein paar Jahren zusammen, um auf rechte Aktivitäten im nicht allzu weit entfernten Gera aufmerksam zu machen. Wir sahen dies als Notwendigkeit an, da die lokale Presse, wenn überhaupt, meist nur äußerst blauäugig berichtete.“

Ist das also Journalismus, was der „Ostthüringer Divan“ macht? Nein, sagt Simon, der sich als Sprecher des Accounts bezeichnet. Es sei „ganz klar Aktivismus“. Wer er wirklich ist und was er sonst so macht, will Simon im Telefonat mit Übermedien nicht preisgeben, zum Selbstschutz, auch der Name ist ein Pseudonym. Überprüfen, was er behauptet, lässt sich also nicht.

Er sei „eher links“, erzählt Simon, aber nicht Mitglied einer Partei. Der „Ostthüringer Divan“ sei für ihn eine Freizeitbeschäftigung. Begonnen habe alles 2020, als die Corona-Proteste größer wurden, auch in Ostthüringen. Und als immer mehr rechtsextreme Verbindungen auffielen. Medien hätten darüber mit zu wenig Kenntnissen über rechtsextreme Strukturen berichtet, findet Simon. Mit dem „Ostthüringer Divan“ habe man deshalb eine Leerstelle füllen und Infos über Rechtsextreme publik machen wollen.

Es sei Schreibtischarbeit, jeden Tag so zwei Stunden, sagt Simon. Geld verdiene der Account keins, es ist quasi ehrenamtliches Engagement. Der „Ostthüringer Divan“ holt Inhalte aus der rechtsextremen Szene in die Öffentlichkeit, ordnet sie ein. Was dann auch für Journalisten nützlich sein kann. Für überregionale Medien, wenn sie keine Reporter beschäftigen, die sich mit Regionen wie Ostthüringen auskennen. Und für regionale Redaktionen, wenn sie keine Kapazitäten haben oder aufbringen wollen für Recherchen zu rechtsextremen Strukturen.

Für Journalisten können solche Accounts also gute erste Quellen sein, deren Informationen sie, wie andere auch, natürlich noch mal überprüfen müssen. Journalismus sei ihm wichtig, sagt Simon, deshalb wolle der Account explizit auch Journalisten mit Informationen unterstützen. Als Quelle erwähnt zu werden, sei nicht so wichtig, „wichtiger ist, dass Informationen Aufmerksamkeit bekommen“. Inzwischen habe sich die lokale Berichterstattung verbessert, beispielsweise über rechtsextreme Protagonisten, findet Simon: „Es gibt bei den lokalen Medien einige Journalisten, die kenntnisreich und kritisch darüber berichten.“

Ein Regionalmedium ist die „Ostthüringer Zeitung“ (OTZ), die zur Funke-Mediengruppe gehört. Die Zeitung berichtet immer wieder über Demonstrationen, denn es wird häufig protestiert in der Region. Der Umgang mit Berichterstattung zu den Corona-Protesten hatte vor einiger Zeit aber auch für Streit innerhalb der Redaktion gesorgt, mit weitreichenden Konsequenzen in diesem Fall: Die Chefin der Geraer OTZ-Lokalredaktion sei entlassen worden, weil sie in Artikeln Anliegen der Corona-Proteste verteidigt habe, berichtete 2023 die „Zeit“. Die Sache landete vor Gericht, die Journalistin gewann. Heute arbeitet sie wieder bei der OTZ, aber in anderer Position.

Die OTZ wird immer wieder in sozialen Medien für ihre Berichte über Protestgeschehen kritisiert, auch vom „Ostthüringer Divan“. Im Januar zum Beispiel widmete er der OTZ einen längeren Thread auf X zu einem Artikel über die Bauernproteste. Darin wurde der „Ostthüringer Divan“ zwar nicht erwähnt, aber er fühlte sich angesprochen; die Überschrift der OTZ lautete:

„Sind Landwirte der Spielball der Extremen in Gera?“

Im Text hieß es: „Von Nazi-Bauern ist am späten Montag in einem Eintrag der ultralinken Geraer Antifa auf X – vormals Twitter – die Rede.“ Der „Ostthüringer Divan“ reagierte „enttäuscht und wütend“ auf den Text. Der Artikel hebe „Recherchestrukturen auf eine Stufe mit den rechten Extremen in Gera“ und sei „mit falschen Behauptungen gespickt“.

Wie steht die OTZ zu der Kritik? Und welchen Einfluss haben Accounts wie der „Ostthüringer Divan“ auf die Berichterstattung der Zeitung? Auf eine Anfrage von Übermedien an die Chefredaktion der OTZ antwortet ein Sprecher der Funke-Mediengruppe nur knapp:

„Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir uns zu diesem Thema nicht äußern mögen. Aber selbstverständlich reagiert die OTZ-Redaktion transparent auf berechtigte Kritik und korrigiert eventuelle Fehler.“

Geändert wurde in dem kritisierten Text aber nichts.

Medien unter Druck

In Thüringen gibt es besonders viele rechtsextreme Akteure, eine starke AfD, viele Demonstrationen. Journalisten sollten dort also besonders genau hinschauen. Aber in Thüringen ist die Medienbranche, wie in anderen Bundesländern, auch unter Druck. Über das regionale Geschehen berichten öffentlich-rechtliche Sender, Regionalreporter von Nachrichtenagenturen, auf dem Zeitungsmarkt gibt es die Thüringer Lokalzeitungen der Funke-Mediengruppe und Tageszeitungen wie „Freies Wort“.

Doch die Abdeckung ist in einigen Gegenden löchrig geworden. Funke hat bereits vor Jahren begonnen, Redaktionen stark auszudünnen. Dabei müssen Zeitungen in einem Flächenland wie Thüringen weitläufige Gebiete bedienen, da macht sich jede Redaktionsstelle weniger gleich im Blatt bemerkbar. 2019 sagte Jan Hollitzer, Chefredakteur der Funke-Zeitung „Thüringer Allgemeine“ dem „medium magazin“: „All die Sparmaßnahmen, die jetzt an den anderen Funke-Standorten greifen, sind bei uns bereits verwirklicht. Noch weniger geht nicht. Das wäre produktgefährdend.”

In den Redaktionen gibt es demnach oft zu wenig Personal und gleichzeitig viel zu tun. Das beobachtet auch der freie Journalist Sebastian Haak. Er berichtet aus Thüringen für regionale und überregionale Medien, auch über Rechtsextremismus. Er kennt Recherche-Accounts wie den „Ostthüringer Divan“ und schätzt deren Arbeit. Auch er nutze solche Infos gelegentlich, und in den allermeisten Fällen würden die Fakten dort stimmen.

„Mein Eindruck ist, dass solche Accounts schon einen Einfluss auf die Berichterstattung in klassischen Medien haben, weil sie immer wieder Rechercheansätze bieten“, sagt Haak. „Durch solche Accounts, hinter denen häufig Ehrenamtliche oder Aktivisten stehen, bedient man sich quasi einer ersten Recherche, sie sortieren ein Stück weit vor.“ Um all die Telegram- und TikTok-Kanäle der Szene anzuschauen, dafür fehle es in den Redaktionen eben an Personal, und freien Journalisten fehle es oft an Zeit.

Auch Kritik von Recherche-Accounts an Medienberichten über Rechtsextremismus und Demonstrationen kennt Haak. Häufig sei diese berechtigt, mitunter werde aber zu wenig berücksichtigt, wie klassische Medien arbeiten:

„Dass sie nicht nur Posts und Aktionen von rechten Akteuren hervorholen, sondern eben auch Kontext berichten und Gegenperspektiven einholen. Das passiert bei Recherche-Accounts eher nicht.“

Grundsätzlich wünscht sich Haak mehr Möglichkeiten für journalistische Recherchen in Thüringen. Er hält die Lage für alarmierend: „Ich glaube, dass die demokratische Kontrollfunktion von Medien in Thüringen noch funktioniert, aber mit Betonung auf: noch“, sagt er. „Wir sind nur noch Zentimeter von dem Punkt entfernt, dass das nicht mehr gegeben sein wird, weil die Recherchekapazitäten in vielen Redaktionen hier so dünn sind.“

„Journalismus von unten“

Eine andere Beobachterin der rechten und rechtsextremen Szene in Ostdeutschland ist Kili Weber. Auch sie berichtet auf ihrem X-Account über Aktionen und Demonstrationen. Ihren Account gibt es seit 2021, aktuell hat er etwa 7.500 Follower, Selbstbeschreibung:

„Demoticker, Journalismus von unten, Themenschwerpunkte: Querdenken, extreme Rechte“.

Kili Weber recherchiert ebenfalls in sozialen Medien, hauptsächlich macht sie Live-Berichterstattung über Demonstrationen. Dafür ist Weber mehrmals im Monat auch selbst unterwegs, vor allem in Kleinstädten und ländlichen Regionen, oft in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, manchmal bundesweit. Wenn sie bei Demos ist, berichtet Kili Weber in Tweets und kurzen Videos, wie viele Menschen vor Ort sind, aus welchen Milieus sie mutmaßlich kommen, welche Codes und Narrative aus rechtsextremen Kreisen und der Verschwörungsszene ihr bei Reden auffallen.

Screenshot: x.com/weberkili

Sie sei erschrocken gewesen, als sie nach Sachsen kam, „wie präsent Rechtsextreme hier sind, bei Demos, mit ihren Symbolen im Alltag“, erzählt Weber im Telefonat mit Übermedien. Früher sei sie gelegentlich „aktivistisch“ bei linken Demonstrationen unterwegs gewesen, das mache sie aber schon länger nicht mehr. 2021 habe sie sich entschlossen, als freie Journalistin über Demonstrationen zu berichten. Auch bei ihr waren die Corona-Proteste ein Auslöser: „Ich habe festgestellt, dass die Medienhäuser wenig bis gar nicht über Demonstrationen in der sächsischen Provinz berichtet haben. Wenn sie es gemacht haben, habe ich Berichte darüber oft als verharmlosend wahrgenommen“, sagt sie. „Also wollte ich diese Lücke selbst füllen.“

Weber ist eine junge Frau, vor einigen Jahren ist sie aus Westdeutschland nach Leipzig gezogen. Eine journalistische Ausbildung hat sie nicht. Viel mehr soll über sie nicht bekannt werden, aufgrund ihrer Arbeit wird sie immer wieder von Rechtsextremen bedroht. Webers Art der Berichterstattung ist gefährlich. In Sachsen gibt es besonders viele Demonstrationen, die Zahl der Angriffe auf Journalisten ist hier am höchsten, hat eine Studie des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit festgestellt.

Weber wurde schon mehrfach bei Demos bedroht und attackiert. Einer der jüngsten Vorfälle: Im Januar wurde Kili Weber bei einer Demo in der sächsischen Kleinstadt Weinböhla angegriffen. Ihre Hand wurde dabei verletzt, Weber musste behandelt werden. Inzwischen arbeitet sie in Begleitung eines Sicherheitsdienstes, der sie ehrenamtlich unterstütze.

Oft sei sie die einzige Journalistin bei Demos in kleineren Orten. In Weinböhla war das anders. Auch ein Reporter der „Sächsischen Zeitung“ war vor Ort und berichtete über den Angriff auf Weber. Und sie ist nicht die einzige, die Übergriffe erlebt hat, das kennen auch Mitarbeiter klassischer Medien: Im November vorigen Jahres etwa wurde ein OTZ-Reporter verbal und körperlich angegriffen, als er über ein AfD-Bürgerforum berichten wollte – er fand auch eine Schraube in seinem Autoreifen.

Kili Weber sieht ihre Arbeit als Information der Öffentlichkeit, sie finde diese Art der Berichterstattung wichtig. Mit klassischen Medien arbeite sie kaum zusammen, nur in seltenen Fällen habe sie mal Fotos von Demos an Medien verkauft. Manchmal wirbt sie auf ihrem Account um Spenden. Dass ihre Arbeit wahrgenommen wird, merkt Weber dennoch. Gelegentlich bekomme sie Feedback von Journalisten. „Ich habe von mehreren Kollegen aus Medienhäusern gehört, dass sie meine Arbeit wichtig finden, weil sie selbst nicht vor Ort sind.“

Ihre Einsätze bei Demonstrationen empfindet sie als „extreme Belastung“, physisch und psychisch. Ans Aufhören habe sie trotzdem noch nie gedacht, „weil das ja sonst niemand mehr macht“. Und auch Simon vom „Ostthüringer Divan“ findet die Arbeit belastend, sagt er: „Es gibt Schöneres, als so viel Zeit mit rechten Kanälen zu verbringen“. Aber man könne damit „einen Beitrag leisten“. Und inzwischen hätte man mit dem Account so viel Wissen über rechtsextreme Netzwerke aufgebaut – das solle dann auch an die Öffentlichkeit kommen.

3 Kommentare

  1. Danke an die Autorin für den lesenswerten Text. Danke an „Kili Weber“, Danke an „Ostthüringer Divan“ für die Arbeit Vorort ! Es macht einen sprachlos, was für rechtsextreme Umtriebe es gibt, und wie wenig Beachtung es in etablierten Medien und Politik gibt.

  2. Ein sehr gelungener Text, der auch die katastrophalen Zustände in den Lokalredaktionen beleuchtet.
    Ich ärgere mich nur wenn „Aktivismus“ in Redaktionen und in der Medienberichterstattung negativ besetzt ist.
    In meiner ehemaligen Redaktion ist das auch so. Dabei ist Aktivismus in vielen Fällen nur engagierter Journalismus, der Stellung bezieht. Somit den Leser ernst nimmt, ihm nicht vorgaukelt, der Autor sei neutral, die Berichterstattung ausgewogen.
    Das ist bekanntlich Quatsch, gerade beim Thema Rechtsradikalismus auch nicht gut und akzeptabel.
    Deshalb ist die Ausgangsfrage des Textes nicht gelungen. Es geht nicht um die Frage „Journalismus oder Aktivismus. Die Frage lautet: Warum müssen die angeblichen „Aktivisten“ den Job der Journalisten machen. Das zeigt der Text gut auf.

  3. Ein gutes Beispiel wie Lokaljournalismus gut ausbalanciert mit Rechtsextremismus umgehen kann, ist der Podcast Bewegungsmelder“ der Waiblinger Zeitung. Hier wird vor Ort sehr genau hingeschaut, analysiert und Stellung bezogen.

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