Sachverstand (6)

Putins „Inneres Kind“ und andere Pseudo-Expertisen über Psychologie

Sie kennen sich aus, weil es ihr Fachgebiet ist. Immer wieder stolpern sie über Ungenauigkeiten und Fehler in journalistischen Berichten, die sie ärgern – und hier erzählen sie davon. In der sechsten Folge unserer Reihe „Sachverstand“ spricht Tanja Michael, Professorin für Psychologie und Psychotherapie, über Missverständnisse über ihr Fach. Unsere Autorin Kathrin Hollmer hat ihre Aussagen protokolliert. Wenn Sie auch immer wieder Falsches über Ihren Beruf oder Ihr Fachgebiet in den Medien lesen, schreiben Sie uns eine E-Mail.


„In Artikeln und Interviews zu psychologischen Themen wimmelt es von Pseudo-Experten. Leute, die Psychologie studiert haben, werden oft automatisch als Experten für Gefühle hingestellt. Im Psychologie-Studium lernt man ein bisschen was über Emotionen, aber nur theoretisch, nicht praktisch. Da frage ich mich: Was befähigt diese Kollegen, dazu Interviews zu geben? Im ZDF sprach vergangenes Jahr eine Kollegin über Selbstwert, die noch nie zu dem Thema geforscht hat. Da waren Aussagen dabei, die nichts mit moderner Psychologie zu tun haben. Das ist, als würde ich mich über Soziologie oder Politikwissenschaft äußern. Dazu habe ich eine Privat-, aber keine Expertenmeinung. Doch leider gilt oft: prominenter Name vor Expertise.

Es kommt vor, dass Kollegen, die vor 30 Jahren ihre Approbation gemacht haben, sich zu aktuellen Themen äußern, obwohl sie überhaupt nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung sind und komplett veraltete Sachen sagen. Ich verstehe, dass Journalisten oft unter Zeitdruck jemanden finden müssen, der mit ihnen spricht. Viele meiner Kollegen haben keine Zeit oder Lust, Interviews zu geben, darum kommen in den Medien immer dieselben Leute zu Wort, die gern in den Medien präsent sind – oft zu Themen, die gar nicht in ihre Expertise fallen.

Falsche Berufbezeichnungen

Psychologen, Therapeuten, Psychiater – Medien vermischen diese Begriffe häufig, darum hier eine Definition: Psychologen sind alle, die ein Psychologie-Studium erfolgreich absolviert haben. Psychotherapeuten haben sich im Studium auf klinische Psychologie spezialisiert und eine mehrjährige Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten gemacht. In Deutschland kann man sich auf drei Therapierichtungen spezialisieren: als Psychoanalytiker, systemischer Therapeut oder kognitiver Verhaltenstherapeut. Psychiater haben Medizin studiert und eine Weiterbildung als Facharzt Psychiatrie gemacht.

Das bedeutet: Nicht jeder der genannten ist der richtige Interviewpartner für jedes Thema, das irgendwie mit der Psyche zu tun hat. Zum Beispiel, wenn es um Fragen von gesamtgesellschaftlichem Interesse geht, etwa, wie man die Menschen dazu bringt, sich klimafreundlich zu benehmen. Das wäre ein Thema für einen Sozialpsychologen. Psychiater dagegen sind Experten für medikamentöse Behandlung. Psychotherapeuten können keine Medikamente verschreiben.

Journalisten und Redaktionen müssen sich also überlegen, wer überhaupt der richtige Experte für ihr Thema ist; und genauso müssten meine Kollegen absagen, wenn ein Thema nicht in ihren Bereich fällt, und am besten auf andere Kollegen verweisen. Doch manche genießen die Aufmerksamkeit. Um Patientenakquise geht es bestimmt nicht. Die Wartelisten sind so lange, dass man dem Patientenaufkommen gar nicht gerecht werden kann.

Fatale Tipps bei Tiktok

Unerträglich finde ich Leute, die sich auf Tiktok zum Psychologen oder Heiler erklären, weil sie – sagen sie – besonders empathisch seien. Je nachdem, in welchem Kontext sie sich äußern oder in welcher Lebenssituation jemand deren ‚psychologische Tipps‘ liest oder hört, kann es gefährlich werden.

Immer wieder gibt es Themen, die medial popularisiert werden. Im Moment ist es das sogenannte ‚innere Kind‘, ein Konzept aus der Schematherapie, bei dem es um Gefühle und Erfahrungen aus der Kindheit geht. Sich damit auseinanderzusetzen, kann traumatisierten Menschen helfen, aber seit ein Bestseller nach dem anderen dazu erscheint, wird es in Artikeln und Interviews so dargestellt, als ob das für alle in jeder Situation das richtige sei. Das geht so weit, dass in Talkshows plötzlich über Putins „inneres Kind“ spekuliert wird. Das ist echt hanebüchen!

Für die Erkenntnis, dass jemand wie Putin oder Trump eine antisoziale Persönlichkeitsstruktur hat, braucht man kein Psychologie-Studium. Unseriös ist so eine Fremddiagnose trotzdem. Ob es um Putins Geisteszustand geht oder das ‚Innenleben des Täters‘ nach Gewalttaten, zum Beispiel Amokläufen – Ferndiagnosen sind gefährlich. Ohne ausführliche Gespräche darf man keine Diagnose stellen. Wenn Medien so etwas verbreiten, ist das nichts als Sensationshascherei.

Besonders problematisch ist, wenn Medien zum Beispiel ungeprüft verbreiten, ein Täter sei ‚psychisch krank‘. Es gibt psychisch kranke Menschen, die Gewalttaten begehen, aber die allermeisten Kriminellen sind nicht psychisch krank. Patienten, die psychisch erkrankt sind, werden durch solche pauschalen Aussagen stigmatisiert, weil suggeriert wird: Wer psychisch krank ist, ist potenziell gewalttätig.

Ein anderes Problem ist, dass psychologische Themen oft sehr vereinfacht dargestellt werden. In der Psychologie geht es darum, Menschen zu verstehen, wie sie handeln, denken, fühlen, sich benehmen, einzeln und in Gruppen. Es ist gut, wenn man das in verständlicher Sprache beschreibt, aber häufig werden komplexe Zusammenhänge heruntergebrochen auf Schlagzeilen wie: ‚Mit diesem Tipp überwinden Sie jede Krise!‘ Ich finde das fast brutal, wenn so getan wird, als ob jeder sofort Abhilfe schaffen könnte, wenn es ihm nicht gut geht – und wenn es nicht klappt, ist man selbst schuld. Psychotherapie bedeutet, Zeit und Raum zu haben, Sachen zu verarbeiten.

Das Couch-Klischee

In manchen Interviews wird suggeriert, dass jeder eine Therapie braucht. Auch wenn jeder einzelne Tipps aus der Psychotherapie im Alltag nutzen kann, muss nicht jeder in Therapie. Das erinnert mich an alte Woody-Allen-Filmen, in denen immer alle in Therapie waren. Die Couch, auf die sich die Patienten in Filmen legen, hat übrigens fast kein Therapeut mehr. Höchstens eine zum Daraufsitzen. Das Liegen kommt aus der klassischen Psychoanalyse. Bei dieser Therapietechnik, die Sigmund Freud entwickelt hat, assoziieren die Patienten frei, ohne den Therapeuten im Blickfeld. Das wird heute kaum noch betrieben.

Wir leben im Zeitalter der Psychologie. Das ist einerseits gut. In seriösen Tageszeitungen, zum Beispiel in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ und in der ‚Zeit‘, lese ich öfter gute Interviews mit Psychologen und Psychotherapeuten, die lange genug sind, dass sie sich differenziert äußern können. Ich lese gern internationale Zeitungen wie ‚Le Monde‘ und den ‚Guardian‘, in dem ich oft auf neue Studien stoße. Es gibt in Großbritannien zum Thema Psychologie mehr wissenschaftsjournalistische Beiträge, wie man sie in Deutschland in Fachzeitschriften wie ‚Spektrum der Wissenschaft‘ oder ‚Gehirn & Geist‘ findet. Empfehlen kann ich außerdem die Podcasts ‚Positiv korreliert‘ von Luise Hönig und Kai Krautter über psychologische Forschung und ‚Erschöpfung statt Gelassenheit‘ von Kathrin Fischer über den gegenwärtigen Achtsamkeits-Terror, in dem ich vor Kurzem selbst zu Gast war.

Die mediale Präsenz unseres Fachs führt allerdings auch dazu, dass Themen zu schnell psychologisiert werden. Um weltpolitisches Geschehen zu erklären, braucht man mehr als nur psychologische Forschung, sondern unter anderem soziologische, politikwissenschaftliche und historische Expertise. Doch diese Wissenschaften kommen häufig zu kurz. Da überschreiten manche Kollegen die Grenzen unserer Wissenschaft.“

3 Kommentare

  1. Die Definition der Berufsbilder ist leider auch an dieser Stelle nicht ausreichend. Es gibt sehr viele Psychotherapeuten die Ärzte, aber keine Psychiater sind. Sie sind dann aber auch keine Psychologen. Die Einschränkung wie im Artikel auf psychologische Psychotherapeuten stimmt erlaubt natürlich die nachfolgende enge Definition, dennoch gibt es auch viele Ärzte mit Facharzt für Psychosomatik oder z.B. Neurologie die hauptsächlich als Psychotherapeut arbeiten.

  2. Wichtiges Thema, die Psychologisierung nimmt krasse Ausmaße an. Alle scheinen dauernd bei sich selbst und anderen irgendwelche psychischen Auffälligkeiten zu diagnostizieren. Meine damals 18-jährige FSJlerin sagte jedes Mal, wenn irgendwas schief lief, nun sei sie „voll traumatisiert“. Das sagte sie natürlich auch mit einem Augenzwinkern, aber die Vorstellung war da: Mit jedem noch so banalen Problem oder Konflikt droht das Trauma.

    Insofern geht die Analyse (hihi) in diesem Text vielleicht nicht tief genug, wenn sie nur über Schein-Experten nachdenkt. Viele Medien brauchen nicht einmal die, um Pseudo-Psychologie zu befördern. Am schlimmsten finde ich diese „Wie erkenne ich einen XY“-Texte, die angeblich zeigen, wie man als Laie bei Dritten psychische Störungen diagnostizieren kann – in Wahrheit aber nicht viel mehr Substanz haben als früher die „Was bin ich für ein Liebes-Typ?“-Selbsttests aus der Bravo.

    So wird dann jeder nervige Chef zum „Psychopathen“; jede unfaire Kollegin zur „Narzisstin“ (die bestimmt auch „Gaslighting“ betreibt); und alle anderen, mit denen es irgendwie knirscht, sind mindestens „toxisch“.

    Den psychologischen Trick hinter solchen Artikeln kann ich auch als Laie entschlüsseln: Sie geben jedem ein paar Schubladen an die Hand, in die er Leute stecken kann, mit denen es Probleme gibt – um sich hinterher als einzig vernünftiger Mensch in einem Käfig voller Narren zu fühlen. Selbstreflexion überflüssig.

  3. Tik-Tok usw.-“Experten” werden natürlich zu Recht kritisch gesehen; “Expertentum” ist aber auch ganz generell durchaus ausufernd und von der Substanz z.T. überaus dünn. Ja, ich war schon mal im Staat xy, also bin ich xy-Experte (und wenn’s nur ein dreitägiger Kurzurlaub war). Das Erklärbärenwesen hat durchaus zugenommen, vielleicht auch durch mangelnde Sachkenntnis, auch bei politischen Parteien; und auch wenn das jetzt vielleicht etwas abseitig erscheint und gegen eine bestimmte Partei gerichtet: Wie kann man in der Causa Graichen nur einen Kommentar abgeben wie “Das war in der Gesamtschau der eine Fehler zu viel” ?!?

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