Atombomben-Journalismus

Der Horror-Porno der „Nürnberger Nachrichten“

Dieser Artikel ist zuerst im Übermedien-Newsletter erschienen. Wenn Sie uns abonnieren, bekommen Sie den Newsletter jeden Samstag ins Postfach.


„100 Millionen Grad“, das ist kein heißer neuer Liebesschlager von Andrea Berg, das ist die Dachzeile eines Artikels der „Nürnberger Nachrichten“ (NN). Wobei es Artikel nicht ganz trifft – eigentlich ist es ein Horror-Porno.

Der Text, der diese Woche erschienen (Öffnet in neuem Fenster) ist, beginnt mit einer Warnung: „Diese Zeilen können Ängste auslösen“, steht da, und dass man sich dessen bewusst sein solle, bevor man sich entscheide weiterzulesen. Denn: „Der folgende Text beschreibt realistisch und damit drastisch die Folgen eines Atomangriffs auf unsere Heimat, es wäre die wohl größtmögliche Katastrophe.“

Okay. Sind Sie bereit?

Die NN haben „Experten vom Katastrophenschutz“ gefragt, „was passiert, wenn Putin seine Drohungen wahrmacht“. Das klingt, als würde der russische Präsident explizit damit drohen, die Stadt Nürnberg anzugreifen, macht er aber gar nicht. Er droht pauschal mit Atomwaffen, er hat auch welche, und die NN haben das nun mal, wie man so sagt im Journalismus: „lokal runtergebrochen“.

Screenshot eines Artikels der „Nürnberger Nachrichten“ mit der Überschrift: „Atombombe auf Franken: Das passiert, sollte die schlimmste aller Katastrophen eintreten.“ Zu sehen ist die Stadt Nürnberg neben einem Atompilz.
Bomben-Journalismus Screenshot: Nürnberger Nachrichten

Im realistisch-drastischen Detail liest sich das dann so: Ein „gigantischer Feuerball“ breite sich bei so einem Atomschlag „rasend schnell“ aus über der Stadt, schreiben die NN, so heiß („100 Millionen Grad“), „dass alles, was sich in ihm befindet, augenblicklich verdampft“, und so hell, dass selbst „Menschen in 80 Kilometer Entfernung“, die direkt reinsähen, „für Stunden erblinden“.

Der Feuerball pulverisiere in wenigen Sekunden „alles und jeden“. Trotzdem sind laut NN „Schreie des Entsetzens“ zu hören, gemischt mit dem „Dröhnen der Explosion“. Und die schöne Stadt: „Große Gebäude wie die Sebaldus- oder Lorenzkirche sind augenblicklich aufgelöst. Das Wasser im Dutzendteich kocht, Häuser kippen um wie aus Karten aufgestellt.“

Oder noch mal kurz zusammengefasst:

„Die Szene ist ein Bild des Horrors: Nürnberg wird in Sekunden zu einem apokalyptischen Albtraum, ein Zeugnis der zerstörerischen Kraft, die nur der Mensch entfesseln kann.“

Irgendwann fragen die NN, ob wir uns denn schützen könnten, „wenn Russland tatsächlich einen Atomangriff auf Nürnberg starten würde“, und die Antwort lautet: Nö. Aber die NN erklären es länger: Wie blitzschnell so eine Atomrakete aus Russland in Nürnberg wäre, so schnell, dass keine Zeit bliebe, aus der Stadt zu flüchten. Und dass die Bundesregierung stattdessen empfehle, eilig Keller, Tiefgaragen oder U-Bahnhöfe aufzusuchen. Was allerdings, bisschen doof, auch nix bringen soll. Später nämlich erklärt der Text, dass es aus den U-Bahnhöfen „kein Entkommen“ gebe, denn – bitte machen Sie sich auf etwas gefasst:

„Der Feuersturm saugt sämtlichen Sauerstoff aus dem Untergrund, das Atmen wird unmöglich. Im Umkreis von elf Kilometern wird jegliche Haut, die frei liegt, verbrannt. Die Druckwelle zerstört alles innerhalb von 18 Kilometern. Häuser stürzen ein, Menschen werden von umherfliegenden Gegenständen getötet, Züge durch die Luft gewirbelt.“

So geht das noch eine Weile weiter, der Text ist gut 8.000 Zeichen lang, mehr als 1.100 Wörter, getippt mit einer absurden Lust am ausführlichen Grauen. Gegen Ende wird noch erklärt, dass jene, die zufällig doch nicht pulverisiert, verdampft, zerbrannt wurden, bitte alle Flächen abwischen sollen, bevor sie was essen, aber nur „Konserven und Lebensmittel aus dem Kühlschrank“, ganz wichtig. Bevor dann abschließend betont wird, wie „unzureichend vorbereitet“ Deutschland auf „dieses schlimmste aller Szenarien“ sei. Na, vielen Dank.

Es ist verrückt: Irgendwer in der Redaktion der NN muss also auf die schmale Idee gekommen sein, dass so ein Text, so ein Horror-Porno, der weitgehend einfach Angst einflößt, eine gute Idee sei und obendrein etwas, das man doch mal den Volontär aufschreiben lassen könnte, so als Fingerübung. Und niemand hat dann offenbar eingewendet, dass das aber eine schmale Idee ist, mit der die NN nur Panik schüren, und dass man die Frage, was geschieht, wenn Nürnberg tatsächlich von einer Atombombe getroffen würde, den Leserinnen und Lesern auch viel, viel kürzer beantworten könnte, mit nur zwei Sätzen:

Dann sind wir alle verloren. Schönen Tag noch!

1 Kommentare

  1. Vielleicht hat jemand bei der Zeitung mit Alex Wellersteins „Nukemap“ herumgespielt:

    https://nuclearsecrecy.com/nukemap/?&kt=50&lat=49.4521018&lng=11.0766654&hob_psi=5&hob_ft=3774&ff=50&psi=20,5,1&zm=12

    (Hier mit einem relativ kleinen Gefechtskopf von 50 kt, wie auf der russischen Iskander-Kurzstreckenrakete verfügbar. Richtig groß werden Feuerball und die anderen Effekte, wenn man eine russische SS-25 Topol-Rakete wählt. Bei dieser strategischen Interkontinentalrakete wäre aber nicht klar, warum die auf Nürnberg gezielt würde.).

    Ich erinnere mich gut daran, dass eins der ersten „politischen“ Themen, die ich als Kind in den frühen 80ern in den Medien wahrgenommen habe, ein großer Spiegel- oder Stern-Aufmacher mit ähnlichem Inhalt war…

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.