Lamby am Limit

Guck mal, wer da guckt

Wenn Stephan Lamby einen neuen Dokumentarfilm veröffentlicht, ist das immer ein großes Ereignis. Lamby ist einer der populärsten Dokumentarfilmer des Landes und mit vielen Preisen dekoriert; die Liste seiner Auszeichnungen ist ungefähr so lang wie seine Filmografie. Lamby bekommt Zugänge im politischen Betrieb wie kaum ein anderer. Er ist so etwas wie der allseits geschätzte Chronist der Berliner Republik und genießt viel Vertrauen.

Titelgrafik der Dokumentation "Ernstfall – Regieren am Limit" von Stephan Lamby.
Screenshot: ARD

Jetzt steht sein neuestes Werk in der ARD-Mediathek: die dreiteilige Mini-Serie „Ernstfall – Regieren am Limit“, die auch als (kürzere) Doku im Ersten lief. Die ARD bewirbt die Serie als „ungewöhnliche Langzeitbeobachtung“, in der Politiker „ungewöhnlich offen“ über ihre Motive und Gefühle sprechen würden. Lamby blicke „hinter die Kulissen der Regierung“, auch „in dramatische Situationen“. Es seien „dramatische Monate historischer Ereignisse“.

Es ist also alles ungewöhnlich dramatisch, um es kurz zusammenzufassen. Der Film begleitet die Ampel-Koalition in ihren ersten beiden Jahren und will zeigen, wie vor allem Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck und Christian Lindner (später auch Boris Pistorius) damit umgehen, dass kurz nach ihrem Antritt plötzlich eintrat, was lange Zeit kaum jemand für möglich gehalten hatte: dass Russland die Ukraine überfällt.

Das ist natürlich wirklich eine dramatische, spannende Ausgangssituation, gerade für einen Dokumentaristen. Nur hat Stephan Lamby aus der Fülle an Drehmaterial einen, nun ja: ungewöhnlich schwachen Film gemacht.

So überaus dramatisch sind viele Situationen, die der Film zeigt, dann auch gar nicht. Es gibt viele abgesetzte Interviews mit den Politikern. Lamby ist häufig bei offiziellen Reisen dabei, wie viele andere Journalisten auch. Und manchmal darf er zudem in Konferenzen, Sitzungen drehen. Aber dass dort wirklich ungewöhnlich offen über Relevantes gesprochen würde – nee.

Eine Szene ist exemplarisch. Olaf Scholz sitzt mit seinem Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD) zusammen, und der Film springt mitten ins Gespräch. Schmidt sagt:

„… das müssen wir dann reinmachen in den Text. Über die Strecke hast Du, glaube ich, geredet … ähm … das wäre jetzt Samstag.“

Scholz schüttelt kaum merklich den Kopf. Schmidt:

„Du bist skeptisch?“

Scholz sagt dann, er habe „eine andere Information“, das war’s. Spannend? Ungewöhnliche Einblicke hinter die Kulissen? Oder reden da vielleicht kryptisch, weil eine Kamera im Raum ist?

Ich habe wirklich Respekt dafür, wenn jemand so einen langen Zeitraum mit so vielen Ereignissen in knapp 90 Minuten presst. Aber nehme ich solche nichtssagenden Szenen in den verhältnismäßig kurzen Film? Ich hatte zum Beispiel bei der NDR-Doku, die Kevin Kühnert begleitet, als er noch SPD-Nachwuchspolitiker war, viel öfter das Gefühl, wirklich nah dran zu sein und auch Äußerungen mitzubekommen, die vielleicht nicht unbedingt hätten gefilmt werden sollen.

Soundteppich aus Stahlwolle

Auch handwerklich ist die Serie enttäuschend. Das beginnt schon mit der Musik. Über dem Film liegt ein Soundteppich aus Stahlwolle, es klongert, wummert und dröhnt ständig. Als wäre die Weltlage nicht schon dramatisch genug, als transportierten die Bilder und Geräusche des Krieges, die zu sehen sind, nicht per se Emotionen, wird alles zusätzlich aufgeladen.

Wie ein Krimi ruft der Film die ganze Zeit: Jetzt wird‘s spannend, liebe Zuschauer! Selbst, wenn es das gar nicht wird. Einmal, zum Beispiel, sieht man Kanzleramtsminister Schmidt, wie er – „15 Tage vor Kriegsbeginn“ – vors Kanzleramt tritt und sich auf dem Platz dort umguckt. Alles leer. Nur drei Soldaten patrouillieren im Gleichschritt vor sich hin.

Die Musik suggeriert: Irgendwas geht hier vor! Mysteriöses Dröhnen. Gleich wird was passieren! Einzelne Anschläge auf einem Klavier. Und was passiert? Schmidt geht wieder rein und erklärt aus dem Off, dass er zum „Gatekeeping und Housekeeping“ im Kanzleramt verweilt, wenn Scholz auf Reisen ist.

Aufregend.

Wenn da gerade keine Musik ist, sind da diese O-Ton-Collagen. Oder Musik und O-Ton-Collagen. Nachrichtenschnipsel, eng aneinander geschnitten, manchmal nur schwer zu verstehen. Gleich am Anfang hört man sie, und man sieht: Olaf Scholz, wie er im Flugzeug zu Journalisten spricht. Da will man natürlich zuhören, kann man aber nicht. Wegen dieser Collage.

Das passiert öfter. Die Collagen dienen als erzählerisches Element, über das vermittelt wird, was so passiert in der Welt oder wo wir uns gerade befinden, wenn es nicht, wie an anderen Stellen, als schlichte Schrifttafel eingeblendet wird. Oder Fernseh-Ausschnitte gezeigt werden. Aber nicht als Vollbild, sondern auf einem Fernsehgerät, das wahlweise in einem Sitzungsraum steht, irgendwo im Reichstag – oder auf einem Beton-Poller vorm Kanzleramt?

Ein Fernseher, auf dem die "Tagesschau" läuft, steht draußen vor dem Kanzleramt.
Screenshot: ARD

Rätselhaft ist auch der Vorspann. Man sieht Olaf Scholz, von hinten, ein Standbild. Er guckt auf den Reichstag, es ist sonnig, doch plötzlich …

Vom Reichstag wird auf Kampfhubschrauber geblendet, alles wackelt, dann eine Explosion, Flammen. Man könnte meinen, Berlin würde bombardiert, aber es sind Szenen aus der Ukraine. Dann weiter: Putin; Raketen; Polizei, die Protestierende der „Letzen Generation“ von der Straße pflückt; Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht; Menschen, die „Kriegstreiber! Kriegstreiber!“ skandieren; der chinesische Präsident; noch eine Explosion; ausgebrannte Häuser im Krieg, auf denen der Titel der Doku eingeblendet wird.

Der Kanzler guckt sich das alles scheinbar an. Und irgendwo dazwischen guckt Olaf Scholz Olaf Scholz an, wie er „Kriegstreiber! Kriegstreiber ist Putin!“ in ein Mikro brüllt. Olaf Scholz schaut Olaf Scholz zu? Ja, doch.

Vorspann der Doku "Ernstfall – Regieren am Limit": Olaf Scholz schaut Olaf Scholz beim Reden zu.
Screenshot: ARD

Das ist alles komisch und unterlegt mit einem treibenden Klavierlauf, in einem Look, der irgendwie aus der Zeit gefallen wirkt.

„Es war einmal …“

Anfangs hätte man noch denken können, es gäbe einen Erzähler, der einen durch den Film führt. Noch vor dem Vorspann, in der ersten Folge, beginnt der Film wie ein Märchen, wirklich wahr. Eine Stimme sagt aus dem Off:

„Es war einmal. Es war einmal eine neue Regierung mit guten Vorsätzen.“

Man sieht Olaf Scholz, wie er Ex-Kanzlerin Angela Merkel aus dem (vermutlich) Reichstag begleitet, Menschen applaudieren, winken ihr zu. Es ist Merkels Abschied, ab jetzt regiert Herr Scholz.

Es folgen drei kurze O-Töne. Robert Habeck (Grüne) spricht von „wilder Entschlossenheit“, von „Aufbruch“; Christian Lindner (FDP) staatstragend von „Vorsicht“ und „großer Verantwortung“, und davor referiert Annalena Baerbock (Grüne) ein ausgenudeltes Hermann-Hesse-Zitat:

„Jede neue Regierungszeit ist ein neuer Anfang und bekanntermaßen hat jeder Anfang einen Zauber inne.“

(Er wohnt eigentlich inne, dieser angebliche Zauber, aber egal.)

Das ist der Auftakt der Serie. Das soll die Zuschauer reinziehen in den Film, neugierig machen. Es war also einmal eine neue Regierung mit guten Vorsätzen. „Doch dann“, kommentiert der Märchen-Sprecher, „… dann kam alles anders.“ Dann war nämlich Krieg. Und das Märchen offenbar vorbei. Der Erzähler verschwindet wieder, seine Stimme taucht lediglich noch mal als Übersetzer-Stimme auf, für verschiedene Personen.

Erzählt wird die Handlung nun hauptsächlich von den Politikern. Und von den vielen Journalisten, die mit den Politikern rumreisen. Einerseits berichtet der Film in Echtzeit, mehr oder weniger chronologisch. Manchmal weiß man aber nicht, was jetzt gerade passiert, und was retrospektiv ist. Als etwa „Berlin, 1 Tag vor Kriegsbeginn“ eingeblendet wird, redet Robert Habeck, und man sollte denken: Das ist 1 Tag vor dem Krieg, wir sind quasi live dabei. Habeck aber berichtet rückblickend, wie es damals war, als er vom bevorstehenden Kriegsbeginn erfuhr. Von wann sein O-Ton stammt, ist unklar.

Sinnierend in die Ferne stieren

Und dann diese Symbol-Bilder!

Robert Habeck guckt aus dem Fenster.
Screenshot: ARD

In diesem Film gucken alle immer, meistens aus dem Fenster. Entweder, weil sie alle viel aus dem Fenster gucken, oder weil da irgendwer gesagt hat: Gucken Sie doch mal aus dem Fenster!

Vier Bilder, auf denen Politiker aus dem Fenster gucken: Boris Pistorius, Annalena Baerbock, Christian Lindner, Robert Habeck (v.o.l.)
Screenshot: ARD

Oder gucken Sie mal vom Dach des Kanzleramts:

Olaf Scholz guckt vom Dach des Kanzleramts auf den Reichstag.
Screenshot: ARD

Oder nehmen Sie doch mal hier Platz auf die Fensterbank, Herr Scholz, und gucken Sie zur Abwechslung in den Raum! Und keiner aus des Kanzlers Stab hat da gesagt: Nee, Olaf, dieses traurige Bild, das machst Du jetzt mal nicht.

Olaf Scholz sitzt auf der Fensterbank seines Büros und schaut in den Raum.
Screenshot: ARD

Was erzählen diese Bilder? Nichts. Vermutlich sollen sie Tiefe symbolisieren. Dass die Mächtigen sinnierend in die Ferne stieren, während sie ungewöhnlich dramatische Entscheidungen treffen. Je öfter die Guckerei gezeigt wird, desto inszenierter (und peinlicher) wirkt sie. Und es ist auch diese Bildsprache, die den Eindruck verstärkt, dass hier Politik nicht bloß abgebildet, sondern stilisiert wird – zum großen Epos. Wie auf dem Plakat zur Serie.

Plakat zur ARD-Serie "Ernstfall – Regieren am Limit"
ARD-Plakat zur Serie Screenshot: ARD

Alles ganz nett

Es ist trotzdem nicht so, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ zu erkennen glaubt, dass Lambys Film die Ampel-Akteure „in propagandistischer Art als Helden“ inszeniere. Helden vielleicht, propagandistisch nicht. In „Propaganda“ steckt etwas Manipulatives. Es insinuiert ein Ziel: dass Zuschauer zugunsten der Ampel beeinflusst werden sollen. Aber das macht der Film in meinen Augen nicht. Und zu unterstellen, das wäre Lambys Absicht, finde ich abwegig.

Das Heldenhafte kommt natürlich durch die Machart. Und dass insgesamt alle ganz gut wegkommen, liegt auch daran, dass es ein dokumentierender Film ist, der kritische Kommentare fast ganz unterlässt. Es ist ein Film, in dem Christian Lindner mal sagen kann, dass Entscheidungen, die man aus „guten Motiven“ treffe, sich „im weiteren Verlauf der Dinge als falsch herausstellen“ können; ein Film, in dem Robert Habeck sagt, dass er sein Amt nicht „als Last“ empfinde, sondern als „Privileg“, als „Ehre“; ein Film, in dem Annalena Baerbock erklärt, man sei nicht nur Politiker. Sondern auch Mensch.

Wenn Lamby nachfragt, will er etwa wissen, was bestimmte Dinge mit den Politikern „machen“, das ist die Gefühlsebene. Oder er hakt nach, wie viel Geld für Energie denn von Deutschland nach Russland fließe. Ohne Erfolg. Seine Gesprächspartner, hier Lindner und Habeck, sind sich allzu bewusst, dass sie vor Lambys Kamera sitzen und schweigen deshalb lieber.

Oder Lamby fragt alle mal, ob sie denn irgendwann mal Polizist Kanzler/in werden wollen. Das ist so eine blöde Angewohnheit von Journalisten, immer wissen zu wollen, wer denn der nächste Kanzler wird, wenn die Leute gerade Wirtschafts- oder Außenministerin sind, während nebenan Krieg ist, vor der Haustür Inflation, überall Klimakrise – und die nächste Bundestagswahl in voraussichtlich zwei Jahren noch weit weg. Worauf Habeck Lamby freundlicherweise hinweist. In den Film hat es die K-Frage trotzdem geschafft.

Sehr oft sind es auch viele Journalisten auf Reisen mit den Politikern, die Kontext liefern. Aber auch sie ordnen die Lage, die aktuelle Politik in den allermeisten Fällen nicht kritisch ein, ganz oft erzählen sie einfach nur, was gerade passiert, was die Regierung macht, wie dramatisch alles ist. Es vermittelt nicht gerade den Eindruck einer kritischen Distanz. Und manchmal sind Journalisten sogar mitfühlend, Dirk Kurbjuweit zum Beispiel, damals noch Chef des „Spiegel“-Hauptstadtbüros, heute „Spiegel“-Chefredakteur.

Als Olaf Scholz den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman trifft, der für die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi verantwortlich sein soll, sagt Kurbjuweit, offenbar bedrückt: „Ich find es wirklich hart. Ich finde es wirklich brutal, letzten Endes als Bürger, den Bundeskanzler des eigenen Landes in einer solchen Situation zu wissen. Er trifft den Kronprinzen, der ja nach allem, was man weiß, verantwortlich ist für den Tod von dem Regimegegner Khashoggi im Generalkonsulat in Istanbul.“

Er habe die ganze Zeit an die letzten Sekunden, Minuten von Kashoggi denken müssen, sagt Kurbjuweit. „Und ich kann mir vorstellen, dass es Scholz genau so gegangen ist.“ Das sei dann „die brutale Seite der Politik“. Es klingt fast so, als hätte er Mitleid mit Scholz, dass der da nun sitzen muss. Und sich vorstellen, was der Kanzler möglicherweise denkt, kann Kurbjuweit auch.

Stephan Lamby jedenfalls hat hat so viele Einblicke, so viel Material, dass er obendrein 397 Seiten damit vollgeschrieben hat, ein ganzes Buch, das im Verlag C.H. Beck erschienen ist. Und dort geht es dann, im Gegensatz zum Film, auch um seine „eigenen Erfahrungen und Kommentare“.

5 Kommentare

  1. Nur der guten Ordnung halber: Olaf Scholz verabschiedet Angela Merkel aus dem Kanzleramt.
    Danke für den Text. Ich finde vor allem den Zeitpunkt befremdlich für diese Doku, wir sind doch noch mitten IN all diesen Dingen – aber vielleicht ist das Quatsch und es bedarf solcher Zwischenbilanzen?

  2. Über dem Film liegt ein Soundteppich aus Stahlwolle, es klongert, wummert und dröhnt ständig.

    Das haben wir nicht zuletzt Hans Zimmer und Christopher Nolan zu verdanken. Durch sie gilt: Wenn es unausgesetzt orgelt, fiedelt und dröhnt, dann muss es Filmkunst sein. Kombiniert mit sorgenvollem Aus-dem-Fenster-starren wird es preisverdächtig (vor allem, wenn es regnet).

  3. Ich komme selbst aus der TV-Branche und es gibt überall eine Tendenz, journalistische Inhalte von der Machart grundsätzlich an Filme und Serien anzulehnen. Weil es ja sonst nicht spannend ist. Mich nervt das. Das führt zu einer nervigen Überdramatisierung, die alles aufbauscht und die Realität, die Journalismus abbilden soll, ins Lächerliche zieht.
    Leider wird das überall für gut befunden und kaum noch reflektiert, ja auch bei den Zuschauern nicht, die von House of Cards und Co. geblendet sind.
    Aber wenn spannend und dramatisch die einzigen Kriterien sind, ob eine Doku gelungen ist, dann vermisse ich den Inhalt doch etwas. Insofern stimme ich der Kritik hier zu.
    Gleichzeitig ist es im TV aber schwierig, nur sinnvolle Bilder zu zeigen. Es braucht einfach auch etwas Leerlauf zum Durchatmen oder Füllbilder und die sollen ja auch was mit dem Thema zu tun haben. Immer nur Reichstag von außen erschöpft sich auch irgendwann.

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