Die „Zeit“ über den Sturm auf den Reichstag

Auf ein Stück Erdbeertorte bei ganz normalen Leuten

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Am Dienstag jährt sich zum dritten Mal der Versuch von rund 400 Menschen, in das Reichstagsgebäude in Berlin einzudringen. Und weil Medien Jahrestage als Aufhänger für große Geschichten lieben, hat sich die „Zeit“ zu diesem, äh, Jubiläum was überlegt. Sie hat „Reichsbürger“, Holocaustleugner, „Querdenker“, AfD-Mitglieder und – weil diese Zuschreibungen offenbar nicht alle abdecken, die damals dabei waren – auch selbsternannte „Mitläufer“ gefragt:

„Warum waren Sie dabei?“

Die Frage steht groß auf dem „Zeit“-Titel. Dazu ein Foto der Protestierenden mit vielen Flaggen in den Farben des Deutschen Reichs: schwarz-weiß-rot.

"Zeit"-Titelseite vom 24.8.23
Ausriss: „Die Zeit“

Die Geschichte zum Titel steht dann im Ressort „Entdecken“, das sonst eher Reisereportagen bringt oder Tipps gibt, wie man Sportsachen reinigt. Was vor allem in der Print-Version etwas seltsam wirkt:

"Zeit"-Ressort "Entdecken"

Dass es Kritik geben würde, wieso die „Zeit“ diesen Leuten so eine Bühne bietet, war erwartbar. (Auch wenn die Kritik nicht so laut ausfiel, wie ich es erwartet hätte.) Das seien keine „Mitläufer“, heißt es zum Beispiel in Kommentaren auf Instagram – sondern „Täter“. Der Grünen-Politiker Michael Lühmann schrieb bei X, das sei „Gelegenheitsfaschismus“, den die „Zeit“ „effektvoll und ikonisch in Szene und Rechtfertigung gesetzt“ hat.

Ich finde, das Wort „ikonisch“ trifft es, wenn ich mir das Foto ansehe. Und es passt zu der Aussage eines Mannes, der im Text zitiert wird: „Wir haben Bilder geschaffen, die um die Welt gehen.“ Das stimmt. In sehr vielen Ländern haben Medien damals über die Ereignisse in Berlin am 29. August 2020 berichtet. Und in der Art begründet es die „Zeit“ auch in ihrem Text, vorausahnend, dass viele die Frage stellen werden, warum sie das überhaupt macht, also mit Leuten reden, die mit Reichsflaggen gewaltsam das Parlament stürmen wollten:

„Weil es eine Zäsur ist in der deutschen Geschichte.“

Das wirft aber auch die Frage auf: Bedient die „Zeit“ mit dieser Titelgeschichte die Interessen und Ziele der Reichstag-Stürmer? Ich würde sagen: Ja und Nein.

Ja, weil sie das Bild, das die Protestierenden produzieren wollten, noch einmal größtmöglich reproduziert und ihnen tatsächlich eine ganz schön große Bühne bereitet. Und auch nein, weil die Geschichte keine reine Wir-hören-euch-jetzt-auch-mal-zu-Geschichte ist. Auch wenn der umfrageartige Titel „Warum waren Sie dabei?“ das vermuten lässt.

Im Text geht es unter anderem auch darum, wie es sein kann, dass nur sechs von 400 Beteiligten bis heute verurteilt wurden, zu Geldstrafen. Ein Historiker ordnet das Geschehen ein. Ein Polizist, der dabei war, erzählt von seinen Erlebnissen. Es geht auch darum, wie man das Parlament besser schützen kann. Der gesamte Grundton des Textes ist: besorgt.

Schon mal gehört

Die Frage der Überschrift „Warum waren Sie dabei?“ wird nicht wirklich beantwortet. Eigentlich wäre die passendere Überschrift: „Warum reden Sie nicht mit der ,Zeit‘ darüber, warum Sie dabei waren?“ Denn in unzähligen Absätzen wird beschrieben, warum die Leute nicht mit der Wochenzeitung sprechen möchten. Der eine redet nicht über „Humbug“, der Sturm sei nur „inszeniert“; der andere redet nur mit der der rechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“, der nächste will nicht nicht mit einer „billigen Presstituierten“ reden und schwafelt von „Meinungsmonopolen“; ein weiterer wiederum will eine „Aktennotiz“ über das Telefonat mit der „Zeit“ verfassen; noch jemand wettert gegen „Mainstream-Medien“ und ihre „Lügengeschichten“. Und so weiter.

Vielleicht mag sich für manche Leser mit dieser epischen, redundanten Darstellung von Medienverachtung ein interessantes Bild dieses Teils der Gesellschaft zeichnen. Aber man hätte das auch alles kürzen können. Es ist ja nicht so, als hätte man von diesem Lügenpresse-Gedöns nie gehört. (Oder für alle, die es interessiert, wie mühsam die Recherche offenbar war, hätte man das auch eine Reporterin oder ein Reporter in einem der „Zeit“-Podcasts erzählen lassen können. Davon gibt es ja genügend, also „Zeit“-Podcasts .)

Und wenn die „Zeit“ die ganzen Schweige-Begründungen eingedampft hätte, wären trotzdem noch viele Protestierende übrig geblieben, die da zu Wort kommen. Und man kann ja mit denen reden. Ich finde, es kommt bloß darauf an, mit wem man spricht. Und wie man es aufbereitet und einordnet.

Wenn zum Beispiel eine Friseurin aus Niedersachsen der „Zeit“ erzählt, es habe sie damals nicht irritiert, dass Rechtsextremisten und Neonazis neben ihr standen, dann kann das da schon stehen. Weil das ja auch etwas über unsere Gesellschaft aussagt – und darüber, wie einige Menschen denken.

Ein prickelndes Erlebnis

Oder wenn der „Haus-und-Hof-Youtuber der Stuttgarter ‚Querdenker‘“, Markus Huck (auch er habe kein Problem damit, neben bekannten Rechtsextremisten zu stehen, ach was!), die „Zeit“ in Waiblingen empfängt und von dem Tag im August 2020 wie vom „bunten Abend bei der freiwilligen Feuerwehr“ erzählt, vom „Prickeln des Moments“, dann mag das für manche Leser entlarvend oder lächerlich-satirisch wirken. Aber es kann eben auch – vor allem in Kombination mit mit den großformatigen Porträtfotos – verharmlosend wirken. So nach dem Motto: Ach, guck an, das sind ja offenbar ganz normale Leute.

Besonders problematisch finde ich diesen normalisierenden, verharmlosenden Effekt in den Social-Media-Kanälen der „Zeit“, etwa bei den folgenden beiden Zitatkacheln. Das darf man bei einer Geschichte, die so groß beworben wird, nicht außer Acht lassen. Viele User lesen den Text ja nicht, sie lesen nur das:

Instagram-Posts der "Zeit"
Screenshot: Instagram / @zeit

Sicher, die Aufbereitung für Instagram und andere Kanäle ist immer eine starke Verkürzung. Aber: Hier sprechen zwei Menschen, die Teil eines Mobs waren, der gewaltsam das Parlament stürmen wollte – wie durchdacht oder nicht das auch gewesen sein mag, und was auch immer sie vorgehabt hätten, wenn es ihnen gelungen wäre. Markus Huck, der sich als „Mitläufer“ bezeichnet, hatte eine „Reichsbürger“-Flagge dabei. Was man als „Mitläufer“ so mit sich führt.

Auch der pensionierte Direktor eines Amtsgerichts, der mit seiner Frau vor Ort war, darf in der „Zeit“ vom „Rechtsbruch“ der Bundesregierung während der Corona-Pandemie sprechen und dass er es damals „spaßig“ fand vor dem Reichstag. Er und seine Frau erzählen, dass sich Nachbarn und Freunde von ihnen abgewandt hätten, nachdem sie in einem Einspieler im ZDF zu sehen waren. Die Textstelle hat durchaus einen mitfühlenden Unterton. Als hätten Medien sie an den Pranger gestellt und ins Abseits manövriert – und nicht sie sich selbst.

Die „Zeit“ hat in diese Titelgeschichte wirklich viel Arbeit gesteckt. Zwölf Autorinnen und Autoren haben daran mitgearbeitet. Sie haben 133 Menschen, die dabei gewesen sein sollen, angefragt. 45 haben reagiert, mit 13 von ihnen gab es persönliche Treffen. Bei dem erwähnten Ehepaar war die „Zeit“ zum Beispiel im „liebevoll gestalteten Garten“ auf „mehrstöckige Erdbeertorte“ eingeladen. René Martens bezeichnet diese „Mittel des Homestory- und Porträtjournalismus“ in der medienkritischen Kolumne „Altpapier“ zurecht als „inadäquat“ für die „Berichterstattung über Rechtsextremismus“.

Noch weniger Verständnis als für das Kaffeeklatsch-Setting habe ich aber für die Entscheidung der „Zeit“, wirklich jeden zu Wort kommen zu lassen. Auch Leute wie den verurteilten Holocaustleugner Nikolai Nerling, der ja genug Kanäle hat, seine Ansichten zu verbreiten. Das steht auch in der „Zeit“: „In den vergangenen Jahren wuchs er als selbst ernannter ‚Volkslehrer‘ auf YouTube und Telegram zu einer Ikone der rechtsextremen Szene heran.“

Man weiß ja nicht, was stimmt

Welchen publizistischen Mehrwert hat es, wenn Nerling in der „Zeit“ erzählt, dass er (angeblich) als „Journalist“ vor Ort gewesen sei, dass er jetzt Vater geworden sei und weniger Zeit für „Aktivismus“ habe, aber „wieder über die Absperrung hopsen“ würde? Wen interessiert das? Warum reicht es nicht einfach, dass man berichtet, dass auch er und andere Holocaustleugner dabei waren?

Und dann sind da ja noch die, die nichts geahnt haben wollen, die mehr oder weniger zufällig dabei gewesen seien. Wie Nik A., dessen Geschichte zu Beginn des Textes ausführlich geschildert wird und über den die „Zeit“ schreibt: „Vor Gericht wirkt er wie ein Junge, der in etwas hineingeriet, das eine Nummer zu groß für ihn ist.“ Oder Arthur Österle, der in einem „malerisch“ gelegenen Bauernhaus wohnt und damals AfD-Mitarbeiter war. Er behauptet, alles sei ein Missverständnis gewesen und er nur zufällig auf den Fotos.

Man wisse nicht, ob das, was Österle sagt, stimmt oder nicht, erklärt die „Zeit“. Aber trotzdem steht das, was Österle (wahr oder nicht wahr) sagt, in der „Zeit“.

4 Kommentare

  1. Feiner Artikel, wichtiger Text, vielen Dank dafür. Kleine Schlaumeierei: Ihr meintet beim Zitat von Huck bestimmt das „Prickeln des Moments“. Wobei mir die „Pickel(n) des Moments“ auch gut gefallen ;-)

  2. Die Erdbeertorte ist doch wieder so was szenisches: wenn man die ganze Zeit mit Absagen und Enttäuschungen konfrontiert ist – was das Publikum unbedingt erfahren muss – darf man sich am Ende mal mit einer Erdbeertorte belohnen lassen – was das Publikum erst recht erfahren muss.
    Grundsätzlich finde ich es schon gut, wenn man die Gedankengänge solcher Leute versucht zu eruieren, aber so sieht das schon komisch aus.

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