Meinungsforschung

Umfrage-Schock! Andauernd neue „Schock-Umfragen“ helfen vor allem der AfD

In den vergangenen Monaten verstrich kaum eine Woche, in der die „Bild“-Zeitung nicht irgendeinen neuen „Umfrage-Schock“ vermeldete. Manchmal war es auch eine „Schock-Umfrage“ oder eine „Hammer-Umfrage“ oder ein „Umfrage-Beben“, und immer ging es dabei, Sie ahnen es, um die AfD und ihren „Höhenflug“.

Aber der ist ja nun vorbei:

"Bild"-Schlagzeile vom 5.8.2023: "AfD-Höhenflug GESTOPPT!"
Screenshot: Bild

„AfD-Höhenflug gestoppt“, titelte „Bild“, ganz exklusiv, am 5. August. Weil die AfD bei einer INSA-Umfrage auf 21 Prozent kam:

„Das ist ein Prozentpunkt weniger als in der Vorwoche und der erste Rückgang seit März dieses Jahres Damals lag die AfD noch bei 15 Prozent.“

Ein Prozentpunkt ist quasi nichts. Die Fehlertoleranz der Umfrage lag bei „+/- 2,9 Prozentpunkten“, sie misst also schon statistisch nicht so genau, dass solche Abweichungen wirklich signifikant wären.

Und doch wird jede kleine Verschiebung eilig vermeldet, selbst wenn es nur ein halber (!) Prozentpunkt Unterschied ist. Das wird gleich als neuer „Hammer“ bzw. „Schock“ zu einer Schlagzeile aufgepumpt.

So sah das aus bei „Bild“ zwischen Mitte März, dem ersten „Umfrage-Schock für die Grünen!“, und Ende Juli:

19.3.2023 Screenshot: Bild
5.4.2023 Screenshot: Bild
2.5.2023
8.5.2023
20.5.2023 Screenshot: Bild
27.5.2023
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3.6.2023
5.6.2023
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23.6.2023 Screenshot: Bild
26.6.2023
27.6.2023 Screenshot: Bild
4.7.2023 Screenshot: Bild
4.7.2023
5.7.2023
7.7.2023
10.7.2023 Screenshot: Bild
21.7.2023 Screenshot: Bild
22.7.2023
23.7.2023
23.7.2023
25.7.2023 Screenshot: Bild

Die meisten Umfragen, um die es da geht, sind Umfragen, die „Bild“ oder „Bild am Sonntag“ beim Institut INSA in Auftrag gegeben haben. Zwischendurch geht es auch mal um Umfragen anderer Medienhäuser, denn so läuft das ja: Alle Medien geben Umfragen in Auftrag und berichten darüber. Und wenn sie keine neue eigene Umfrage haben, berichten sie über die der anderen, so haben immer alle was zu reden. Und wenn Sie mich fragen, an wessen Stelle ich es super fände, wenn ständig überall Hammer-Umfrage-News über die AfD erschienen – als AfD-Parteivorsitzende/r zum Beispiel.

Ein Trend, nicht mehr

Meinungsumfragen sind lediglich Trends, ein temporäres Stimmungsbild, wie die Leute, die befragt wurden, wählen würden, könnten sie am Sonntag wählen. Oder, genauer: Was sie so angeben, was sie wählen würden. Es ist ja ein Unterschied, was man ankreuzt an einem Wahlsonntag, und was man sagt, wenn Forsa oder INSA fragt und man weiß, dass man mit einem knackigen „AfD!“ ein bisschen Umfrage-Wirbel auslösen kann – und Aufregung in anderen Parteien. Oder würden sogar noch mehr Leute AfD wählen, trauen sich aber nicht, das bei Umfragen zu sagen? Auch diese Theorie gibt es.

Dennoch werden die Trends behandelt, als hätte sie der heilige Jörg Schönenborn live im Ersten in Stein gemeißelt. Dass es Fehlertoleranzen gibt, Unsicherheiten, verkommt oft zur Randnotiz. Stattdessen wird gerechnet: Wer könnte mit wem? Und in Überschriften und Texten steht teilweise, ohne Umfrage-Konjunktiv, die Ampelkoalition habe „keine Mehrheit mehr“.

Doch, hat sie. Sie hat eine Mehrheit im Parlament, sie kann einfach weiter regieren, bis zur nächsten Bundestagswahl im (voraussichtlich) Herbst 2025. Und sie darf es auch, sie ist dafür legitimiert. Formulierungen, die Koalition habe keine Mehrheit mehr, werden von politisch interessierter Seite auch dafür genutzt, den Eindruck zu erwecken, es sei undemokratisch, wenn die Regierung weiter Gesetze beschließt. Auch das hilft vermutlich der AfD.

Es sind noch zwei lange Jahre bis zur Bundestagswahl, in denen (das sollten Pandemie, Krieg etc. wirklich gelehrt haben) viel passieren kann, das vieles wieder ändert, auch Parteipräferenzen bei Wählerinnen und Wählern. Aber manche wollen halt jetzt schon drüber reden, wer denn bei der AfD Kanzlerkandidat/in wird. Was ich auch wieder ganz toll fände – als AfD-Parteivorsitzende/r. Wen sonst sollte das heute schon ernsthaft interessieren?

Natürlich ist es nicht irrelevant, wenn eine Partei in (seriösen, repräsentativen) Umfragen über einen längeren Zeitraum zulegt oder abbaut, es also eine grundlegende Verschiebung gibt. Und man sollte durchaus wachsam sein, wenn es sich um eine rechtsradikale Partei wie die AfD handelt.

Aber ist es nicht irre, wie aufgeregt mit jeder neuen Umfrage gewedelt und jede Mini-Abweichung (Schock!) groß verkündet, kommentiert und gedeutet wird? Das macht ja nicht nur die „Bild“-Zeitung, sie macht es bloß besonders laut und groß.

Der Sozialforscher Rainer Schnell hat das kürzlich auch in Hinsicht auf das ZDF-„Politbarometer“ kritisiert. Es sei für ihn „billig erkaufte Sendezeit“, jede Woche ein Beliebtheits-Ranking von Politikern zu veröffentlichen, in dem es oft „nur minimalen Verschiebungen“ gebe, während die statistische Fehlerquote höher liege. „Die Aussagekraft dieser Werte ist denkbar gering“, sagt Schnell. Und man könnte hinzufügen, dass diese Erkenntnis und Kritik an Umfragen nicht neu ist, aber man muss es immer wieder erklären.

Das Geraune vom „unheimlichen Rekordkurs“

Gerade ist etwas Ruhe eingekehrt, die Anzahl der „Schock-Umfragen“ scheint zu sinken, vielleicht ist es auch einfach Gewöhnung. Wenn es wochenlang bebt und hämmert, nimmt man es irgendwann weniger wahr. Vielleicht wäre das ein guter Zeitpunkt, bei all den Fragen, wie man mit der AfD umgehen sollte, mal einfach zu überlegen: So vielleicht nicht? Sollte man vielleicht nicht jede Umfrage wie ein Untergangsgewitter verkünden? Und sollte man die ANGST vielleicht nicht andauernd befeuern?

„Bild“ etwa schrieb vom „unheimlichen Rekordkurs“ der AfD, von einem „Höhenflug“, der ins „Unvorstellbare“ münde – und ließ fix weitere „brisante INSA-Umfragen“ erstellen, um anschließend berichten zu können, soundsoviele Deutsche hätten „Angst vor dem Aufstieg der AfD“ und soundsoviele würden auswandern, wenn sie an die Macht käme. Andererseits:

„Wie AfD ist Deutschland?“

Das hat „Bild“ auch noch getitelt. Klingt locker, fast wie ein Slogan. Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?

Solche Schlagzeilen und Berichte emotionalisieren, und sie können auch etwas bewirken, so schwer messbar das auch ist. Unter Umständen beeinflussen sie, Überraschung, die nächste Umfrage: Als zur Bundestagswahl 2017 ständig (jubelnd) über den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz berichtet wurde, stiegen seine Werte in den Umfragen.

„Medienecho-Demoskopie“, nannte der Meinungsforscher Thomas Petersen das damals: Viele Medien schreiben positiv über einen Kandidaten oder eine Partei und geben dann Umfragen in Auftrag, die positive Ergebnisse zu dem Kandidaten oder der Partei liefern, die Medien dann wieder vermelden können. Ein „sich selbst nährendes System“, das darauf aus ist, „marktschreierische Schlagzeilen“ zu produzieren, schrieb Petersen.

Nun wird über die AfD meistens nicht positiv berichtet, sondern kritisch, zuweilen beängstigt. Aber nicht nur die Grünen, der Dauerkrach in der Koalition oder wieder zunehmende Migrationsbewegungen bescheren der AfD mutmaßlich Zulauf. Auch das Geraune über einen vermeintlich unaufhaltsamen Aufstieg dürfte einen Effekt haben, und wenn es am Ende der ist, dass sich Leute gerne Gruppen anschließen, die erfolgreich sind oder scheinen, weil Menschen eben bei Erfolg gerne dabei sind.

Aber es gibt ja auch schon wieder Entwarnung. Unter Bezug auf eine Allensbach-Umfrage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ titelt „Bild“ heute:

Na, dann.

1 Kommentare

  1. „Und in Überschriften und Texten steht teilweise, ohne Umfrage-Konjunktiv, die Ampelkoalition habe „keine Mehrheit mehr“.“

    Diese Zeile spricht mir aus der Seele. Wer so etwas schreibt, hat scheinbar noch nicht einmal die Grundzüge der repräsentativen Demokratie in unserem Land verstanden. Anders ist die gedankenlose Übernahme des O-Ton der AfD kaum zu erklären. Regt mich jedes einzelne mal auf.

    Letztendlich handelt es sich ja auch nur noch um Sportberichterstattung für politische Hooligans und nicht um sachliche und faktenbasierte Politikanalyse. Entsprechend die Qualität der Meldungen. Brot und Spiele. Und schnell der nächste Aufreger.

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