Fragt man Oliver Piel, ob er jemanden im Ahrtal kennt, der sich über den Journalismus nach der Flutnacht besonders geärgert habe, kommt die Antwort sofort: „Eigentlich alle.“ Der 47-Jährige ist Jugendherbergsvater in Ahrweiler und bekannt aus Funk und Fernsehen, weil er die Jugendherberge nach der Flutnacht im Juli 2021 im Rekordtempo wieder aufgebaut hat. Er hat in den vergangenen zwei Jahren so viele Journalistinnen und Journalisten herumgeführt, dass er keine Zahl nennen kann. Einmal sei er mit einem dpa-Fotografen drei Stunden durch den Schlamm gelaufen, bis der genug Fotos im Kasten hatte, erzählt Piel.
Man kann heute, fast zwei Jahre nach der Flut, durch das Katastrophengebiet gehen und die Schlammspuren an Häuserwänden, die eingezäunten Ruinen und die weggespülten Straßen sehen. Oder aber man sieht die vielen, vielen Neubauten, die unzähligen Handwerkerautos und das Baggern, Schrauben und Streichen an allen Ecken und Enden. Piel findet: „Wir müssen nicht mehr zurückblicken, nicht Sachen aufwärmen, die hundert Mal in den Medien waren.“ Ist es da sinnvoll, gleich 55 Journalistinnen und Journalisten zu einer Veranstaltung mitten ins Ahrtal einzuladen, um über konstruktiven Journalismus im Klimawandel zu sprechen?
Als Daniel Bouhs und Heike Zahn vom SWR im vergangenen Jahr anfingen, die „Zukunftstage“ zu planen, sprachen auch sie früh mit dem Herbergsvater, in dessen Räumen die Veranstaltung stattfinden sollte. „Ihr könnt hier nicht über Klimajournalismus reden, wenn nebenan Leute ihre Häuser aufbauen“, beschied er dem SWR-Team damals. Die Bevölkerung habe gerade andere Probleme. „Wir sind danach ziemlich ernüchtert zurückgefahren“, erinnert sich Zahn.
Daraufhin haben die Organisatoren das Konzept noch einmal angepasst: Am ersten Tag der „Zukunftstage“, die in der vergangenen Woche stattfanden, ging es nicht nur um die Frage, wie man über die von Natur aus destruktive Klimakrise konstruktiv berichten kann, sondern auch um den aktuellen Stand des Wiederaufbaus. Abends stand eine Hintergrundrunde mit Menschen aus dem Ahrtal auf dem Programm. Am zweiten Tag waren die Journalistinnen und Journalisten unterwegs, haben sich Projekte in der Region angeschaut. Darunter waren ein Containerdorf für Seniorinnen und Senioren, die ihre Wohnungen verloren haben, und die zerstörte Nepomukbrücke, wo die Teilnehmenden über den hochwasserangepassten Wiederaufbau gesprochen haben.
Auf der Suche nach Hoffnungszeichen
Am dritten Tag steht nun die Frage an, wie sich aus dem Exkursionsmaterial konstruktive journalistische Beiträge machen lassen. In einem hellen Konferenzraum sitzen die Teilnehmenden in langen Stuhlreihen, während direkt vor den Fenstern schmutzigbraun die Ahr entlangströmt. Rund ein Drittel kommt aus dem SWR, aber auch MDR, ZDF und BR sind vertreten, Lokalzeitungen wie der „Kölner Stadtanzeiger“ und die „Schwäbische Zeitung“, außerdem Studierende der Deutschen Journalistenschule und jemand von der Katholischen Nachrichtenagentur. Viele sind jung und viele sind zum ersten Mal im Ahrtal.
Der SWR-Reporter Johannes Baumert moderiert die Tagung und weiß sehr gut, wie das ist, wenn Journalisten auf der Suche nach guten Geschichten in die Region kommen. Der 26-Jährige arbeitet im SWR-Regionalbüro im Flutgebiet, seit ihn am Morgen nach der Katastrophe seine Chefin anrief und sagte: „Wir brauchen alle, fahr da runter.“ Kurz darauf stand er im Schlamm, zwischen Zerstörung und Tod, und musste in ARD-Schalten Fragen beantworten wie: „Können die Weinfeste dieses Jahr trotzdem stattfinden?“
„Ich habe persönlich zum Glück keine Kollegin, keinen Kollegen getroffen, die nur ins Ahrtal gekommen sind, um zu gaffen“, sagt Baumert. „Aber oft kommen Leute mit Ideen, die sie nicht umsetzen können.“ Er erinnert sich gut an die Journalistin eines seriösen Mediums, die einige Zeit nach der Flut zwischen den flutgeschädigten Häusern nach einem Symbol für den Wiederaufbau suchte und einen Garten mit sattgrünem Rasen erspähte. „Ist das nicht ein Hoffnungszeichen?“, fragte sie den Besitzer. „Der Rollrasen war halt billig“, antwortete der trocken. Irgendwo müsse man ja anfangen mit dem Aufbau, nix Hoffnungszeichen.
Für die „Zukunftstage“ kooperiert der SWR mit zwei Institutionen. Mit mehreren Trainerinnen und Trainern ist das Bonn Institute dabei, zuständig dafür, praxisnah zu erklären, was genau konstruktiver Journalismus ist oder sein soll: kein Lobhudel- und Wohlfühl-Journalismus, sondern ein kritischer Blick auf mögliche Lösungen, im Dialog und mit möglichst vielen Perspektiven. Hinter der 2022 gegründeten, gemeinnützigen Einrichtung in Bonn stehen unter anderem die Deutsche Welle, RTL Deutschland und die Rheinische Post Mediengruppe, die so den Austausch in der Medienbranche zu lösungsorientiertem Journalismus voranbringen wollen. Das Recherchezentrum Correctiv, das Rechercheprojekte im Lokaljournalismus unterstützt, ist ebenfalls Kooperationspartner und stellt die Arbeit des eigenen Klimateams vor.
Dann wird es konkret. Die Gruppen sollen das Konzept des konstruktiven Journalismus auf ihr Material von den Exkursionen anwenden. In einem kleinen Stuhlkreis diskutiert eine Gruppe, die am Vortag einen Obstbauern besucht hat. Er schützt seine Pflanzen vor Hitze, indem er Solarpaneele darüber installiert hat – ein Pilotprojekt. Eine Kollegin in Jeansjacke tut sich schwer, das Projekt als gute Lösung darzustellen, solange es kaum Genehmigungen dafür gibt. „Es geht nicht darum, eine Idee als Wundermittel darzustellen“, erklärt Lisa Urlbauer vom Bonn Institute zum wiederholten Male. „Wir zeigen auch die Hürden.“ Dass Projekte oft am politischen Willen scheitern, sei eine wichtige Information.
Raum für Skepsis
In der knallbunten Cafeteria ein Stockwerk tiefer sitzt Christoph Würzburger, Filmemacher seit 25 Jahren und fester Freier beim SWR. „Diese Tagung hat dem einen Namen gegeben, was ich schon seit ein paar Jahren im Kopf und Gefühl habe“, sagt der 56-Jährige. Er sei irgendwann selbst genervt gewesen von den ständigen Problembeschreibungen in seinen Filmen: „Ich glaube, dass im Journalismus eine Wende notwendig ist.“ Gerade erst hat er einen Film über einen Klimaschutzmanager im Hunsrück gedreht; mit dem Input von der Tagung hätte er einiges anders gemacht: weniger Infos aneinandergereiht und „mehr Raum für Skepsis gelassen“, wie er sagt.
Die Autorin
Annika Schneider recherchiert, moderiert und plant Medienthemen beim Deutschlandfunk und beim WDR. Außerdem schreibt sie für die „Altpapier“-Medienkolumne des MDR. Sie ist nicht verwandt mit Wolf Schneider und hat auch sonst keine Journalist:innen in ihrer Familie. Ihre freie Mitarbeit beim Deutschlandfunk begann sie dank ihrer Tante, die privat eine Radiojournalistin kannte. Die vermittelte den Kontakt zu einem Redakteur, der sie spontan zum Probearbeiten einlud – seitdem ist sie geblieben.
Auch Julia Krentosch hat sich mit den Fragen, die hier diskutiert werden, schon vorher beschäftigt. Im Stuhlkreis vorhin hat sie noch hinterfragt, ob ein einzelner Obstbauer aus dem Ahrtal für ihre Leserschaft überhaupt interessant ist – sie leitet die Lokalredaktion der „Allgemeinen Zeitung“ in Mainz. Anderseits hat sie sich nach dem x-ten Text über die Hitze und Trockenheit auf den Obstplantagen in der Rheinpfalz schon auch gefragt, ob sie den Leserinnen und Lesern nicht noch etwas anderes anbieten kann als die immer gleiche Botschaft: Es ist schlimm.
„Am Montag dachten hier 40 von 60 Leuten, im konstruktiven Journalismus dürften wir nicht kritisch sein. Aber das Missverständnis hat sich in drei Minuten erledigt“, erzählt die 40-Jährige. Letztendlich sei konstruktiver Journalismus nichts anderes als guter Journalismus, findet sie – mit Zeit für Recherche und verschiedenen Blickwinkeln. Vieles davon würde schon gemacht.
Dem widerspricht Lisa Urlbauer vom Bonn Institute: „Wenn konstruktiver Journalismus in den Medien nicht fehlen würde, müssten wir gar nicht darüber reden.“ Die 29-Jährige hat schon beim Solutions Journalism Network (SJN) in den USA gearbeitet und kann aus dem Stand heraus viele Beispiele für guten konstruktiven Journalismus aufzählen, viele davon zu finden in einer internationalen Datenbank des SJN mit fast 15.000 Beiträgen.
Gerade in der Klimakrise sei es wichtig, die propagierten Lösungen für die großen Herausforderungen kritisch zu hinterfragen, sagt sie. Konkrete Evidenz, was wirklich funktioniert, und die Hürden, an denen manche Ideen scheitern, würden oft nicht benannt: „Das ist nicht förderlich für den Dialog.“ Im Ahrtal gehe es um den Blickwinkel, was sich in den zwei Jahren nach der Flut schon getan habe – und keinen Katastrophenjournalismus zu betreiben.
Eine Managementaufgabe
Zum einen also die Expertin, die sich einen lösungsorientierten Journalismus wünscht. Zum anderen die Journalistinnen und Journalisten, die ohnehin darum ringen, Klimathemen so abzubilden, dass Menschen nicht wegzappen. Und dann noch die Menschen im Ahrtal, die keine Lust haben, vor Mikrophone und Kameras gezerrt und dann wieder vergessen zu werden. Dass dieses Zusammenspiel für eine dreitägige Veranstaltung ein ehrgeiziges Programm ist, zeigt sich in der Schlussrunde.
Im besten Fall ergänzen sich die drei Dimensionen: Dann erreicht Klimajournalismus mehr Menschen, indem die Geschichten konstruktiver erzählt werden – und die Menschen im Ahrtal profitieren davon, weil Medien langfristige Entwicklungen kritisch in den Blick nehmen. Einige Zustimmung bekommt aber auch eine Teilnehmerin, die sagt: „Ich bewege mich die ganze Zeit auf einer Achse zwischen ‚Mega, ich weiß jetzt, wie es geht‘ und ‚Ey, ich check es überhaupt nicht‘.“
In den kommenden Tagen sollen die Beiträge, die nach der Veranstaltung entstanden sind, auf einer virtuellen Deutschlandkarte gesammelt werden. Am Ende spielen die Rahmenbedingungen von Journalismus vielleicht die größte Rolle – nicht umsonst hat Ellen Heinrichs, Gründerin und Geschäftsführerin des Bonn Institutes, am Vorabend betont, dass konstruktiver Journalismus auch eine Managementaufgabe ist.
„Recherche braucht Zeit, und das ist oft die Ressource, die im Tagesgeschäft fehlt“, sagt Julia Krentosch, Lokalchefin aus Mainz. Welche Themen man auf diese Weise angehe, müsse man sich gut überlegen. Johannes Baumert, SWR-Reporter im Ahrtal, wiederum wünscht sich, dass Journalistinnen und Journalisten nicht schon mit einer fertigen Geschichte im Kopf anreisen. Es sei gerade hier im Ahrtal gut, „sich treiben zu lassen, ohne getrieben zu werden“.
Herbergsvater Oliver Piel hat sich bei der Schlussrunde hinten an die Wand gestellt und hört zu. Früher am Tag hat er sehr konkrete Vorstellungen geäußert, wie Journalismus dem Ahrtal helfen könnte – damit der Tourismus schnell wieder gut läuft, der Wiederaufbau hochwasserangepasst geplant wird und die Politik bei der nächsten Krise besser aufgestellt ist. „Berichtet positiv, was geschafft wurde“, wünscht sich der Ahrweiler. „Berichtet auch negativ, aber dann mit Lösungen, wo die Reise hingehen kann. Zu schreiben, was nicht funktioniert, hilft keinem weiter.“
Irgendwie komme ich trotz mehrmaligem Lesen nicht über das Gefühl hinweg, dass in einem dreitägigen Workshop einfach genau der letzte Satz eingeimpft wurde. Und dann frage ich mich, wozu dafür drei Tage benötigt wurden. Jetzt kann man sagen „du warst ja auch nicht dabei, denn das ist eben so kompliziert“, dann nützt dieser Umstand mir aber auch nichts, da ich hier eben auch nicht mehr als genau das übermittelt bekommen habe.
Was wurde denn dort jetzt genau gemacht, also außer ein paar Einzelszenarien aufzugreifen? mich würde es halt wirklich interessieren.
Naja, der Kontakt mit Menschen, die von Journalismus betroffen sind, wenn man das so sagen kann, ist doch bestimmt nicht schlecht.
Irgendwie komme ich trotz mehrmaligem Lesen nicht über das Gefühl hinweg, dass in einem dreitägigen Workshop einfach genau der letzte Satz eingeimpft wurde. Und dann frage ich mich, wozu dafür drei Tage benötigt wurden. Jetzt kann man sagen „du warst ja auch nicht dabei, denn das ist eben so kompliziert“, dann nützt dieser Umstand mir aber auch nichts, da ich hier eben auch nicht mehr als genau das übermittelt bekommen habe.
Was wurde denn dort jetzt genau gemacht, also außer ein paar Einzelszenarien aufzugreifen? mich würde es halt wirklich interessieren.
Naja, der Kontakt mit Menschen, die von Journalismus betroffen sind, wenn man das so sagen kann, ist doch bestimmt nicht schlecht.