Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
Seit vergangenem Freitag läuft wieder das Dschungelcamp auf RTL, und es ist alles wie jedes Jahr: Für ein paar Millionen Menschen gibt es zwei Wochen lang einen unverrückbaren Termin in ihrer Abendplanung. Dem Rest ist das Thema entweder herzlich egal oder Anlass für mittelgroße Empörung, dass eine solche egale und gleichzeitig unappetitliche Sendung soviel Aufmerksamkeit bekommt.
Auch im Lager in Australien ist alles wie immer: Menschen machen entwürdigende Dinge, geraten aneinander, versöhnen sich oder nicht – und inmitten des ganzen Elendszirkus gibt es gelegentliche, manchmal berührende Einblicke in die Seelen von Menschen und ihren Verletzungen.
Aber gestern war etwas anders. Es begann mit einer Dschungelprüfung, die zwei Teilnehmer in einer sogar für dieses Format exzessiven Weise mit Dreck bewarf. Die Berufs-Reality-TV-Leute Tessa Bergmeier und Cosimo Citiolo mussten in einer Toilettenkulisse sitzen, die zunächst mit Kakerlaken und dann mit immer neuen Wellen exkrementartigem Zeug in verschiedenen Aggregatszuständen geflutet wurde. Die Scheiße spritzte aus allen Rohren, und sie tat das in solchen Massen und mit einer solchen Ausdauer, dass es schwer zu fassen war. Es klingt komisch, aber: Weniger Scheiße hätte gereicht.
Nun kann man darüber streiten, ob es überhaupt lustig ist, Leute mit ekligem Zeug zu bespritzen. Aber auch wenn man das bejaht, war es geradezu verstörend, wie der Shitstorm einfach nicht aufhören wollte, wie immer noch mehr kam, noch eine braune Fontäne, noch eine Glibber-Explosion, noch eine Kackattacke. Es wirkte nicht nur abstoßend, sondern auch ein wenig verzweifelt. Als ob irgendwer in der Redaktion ein bisschen skeptisch auf die Prüfung oder die Quoten geschaut und gesagt hätte: Das reicht noch nicht. Das reicht nicht mehr. Wir brauchen viel mehr Scheiße.
Interessanter als die Prüfung war das, was danach passierte: Tessa hatte in ihrem komplett besudelten Zustand kein Interesse, das zu tun, was die Teilnehmer üblicherweise nach den Dschungelprüfungen tun und anscheinend tun müssen: auf dem Weg zurück ins Camp noch ein paar Sätze in die Kamera sagen, wie furchtbar das war, wie enttäuscht/stolz/glücklich/frustriert sie sind, wessen Schuld das war.
An den Kamerateams, die sie bei diesen Aufsagern und ihrem Weg zurück filmen sollten, lief sie vorbei. Die versuchten verzweifelt sie aufzuhalten, auch weil sie zwischenzeitlich wohl in die falsche Richtung lief, aber vor allem, weil sie dieses verdammte Post-Prüfung-Interview von ihr bekommen mussten.
Das erstaunliche an der Situation war, dass RTL einiges davon zeigte, obwohl dadurch ein Teil des Produktionsapparates ins Bild rückte, den man sonst nie sieht: Plötzlich sah man ein Kamerateam auf dem Weg; man sah einen Tonmann, der mit seiner Ausrüstung hantierte; Absperrungen, die in der als Wildnis inszenierten Kulisse sonst sorgfältig aus dem Bild gehalten werden, wurden sichtbar; man hörte die zunehmend verzweifelten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hinter Tessa hinterherliefen oder mit ihr diskutierten.
Es war keine spektakuläre Desillusionierung, es war nicht so, dass man plötzlich das Ende der Dschungeltapete gesehen hätte und dahinter die Silhouette von Köln-Hürth. Aber es war doch ein abrupter Bruch der vierten Wand.
Vermutlich hätte RTL die Geschichte, wie Tessa genervt aus der Prüfung ins Camp rennt, auch erzählen können, ohne diesen kleinen Blick hinter die Kulissen zu erlauben. Ein Grund der Panik der Mitarbeiter schien zwar zu sein, dass Tessa durch ihr forsches Vorangehen nicht von vorne gefilmt werden konnte und womöglich überhaupt ein Kamerateam fehlte, wenn die beiden besudelten Kandidaten nicht gemeinsam zurückgingen. Aber das hätte sich durch geschickte Schnitte sicher überbrücken lassen – es sind ja generell doch genügend Kameras in diesem nicht mehr ganz unberührten Stück Urwald verteilt.
Aber RTL hat sich entschieden, diese eskalierende Situation offensiv als Bruch mit der Konvention zu zeigen, was ihre Dramatik noch unterstrich. Plötzlich Wackelkameras, Kameraleute, die irgendwas filmen und nicht hinter ihrer Protagonistin hinterher kommen, Mitarbeiter, die die Kandidaten anflehen – dadurch, dass man das sah, was man sonst nie sah, war die Szene viel interessanter.
Normalerweise würde man solche Einblicke in einer solchen Fernsehproduktion um jeden Preis vermeiden, weil damit natürlich auch eine Entzauberung verbunden ist. Natürlich weiß man als Zuschauer theoretisch, dass die Leute da im Dschungel nicht fernab von allem, sondern dauernd umgeben von irgendwelchen Produktionsteams sind, aber es praktisch zu sehen, macht trotzdem einen Unterschied.
„Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ ist inzwischen so etabliert als Format, die Zuschauer sind so vertraut mit seinen Regeln und Ritualen, dass es sich eine solche vermeintliche Entzauberung leisten kann – und die ganze Sendung nur noch zauberhafter macht. (Man kann das natürlich auch genau umgekehrt interpretieren: Nach 18 Jahren und 15 Staffeln ist soviel an dem Format Routine, dass es solche kleinen Brüche – und besonders große Mengen Scheiße – braucht, um überhaupt noch die Reizschwelle des Publikums zu überschreiten.)
Die RTL-Show hatte immer schon ein besonderes Verhältnis zu sich selbst, hat sich regelmäßig ironisiert und die eigene Wirkung reflektiert. Deshalb ist es für sie nicht so riskant, wenn sie einen solchen Blick in ihre eigene Arbeitsweise erlaubt.
Tessa: Ich will sofort los, geb jetzt keine Interviews mehr, das geht gar nicht. Ist auch unhygienisch as fuck.
Mitarbeiter: Warte mal, bitte.
Mitarbeiter: Das ist nicht der Weg ins Camp!
Mitarbeiter: Tessa, eine Sekunde. Tessa!
Mitarbeiter: Warte bitte einmal ganz kurz, warte bitte. Tessa!
Mitarbeiter: Tessa!
Mitarbeiter: TESSA!
Wir sehen, wie der Interviewer unter fadenscheinigen Ausreden versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Tessa: Ich bin nass! Ich bin fucking wet. Ich will einfach nur trocken. Du willst einfach nur deine Interviews haben, dass ich irgendwas sage, wo man mich schlecht mit dastehen lassen kann. Da hab ich keine Lust zu.
Mitarbeiter: Damit hat das nichts zu tun. Ich will mit dir über das Spiel reden.
Haha, ja, genau.
Dass sie vor oder neben ihm ausspuckt, liegt bestimmt nur an dem Dreck, den sie im Mund hat, aber es verstärkt natürlich die Dynamik der Situation.
Mitarbeiter: Was ist das denn, was da alles auf dir drauf ist?
Tessa: Das ist mir egal. Was darauf ist ist drauf, kann ich eh nicht ändern.
Sie marschiert davon, verfolgt von mindestens einem Kamerateam und zunehmend verzweifelten Rufen: „Warte, ich sag dir gleich, wie’s weitergeht. Warte bitte! Tessa warte mal bitte einmal ganz kurz. Bleib bitte hier stehen. Tessa. TESSA!“
Irgendwann ist sie wieder im Camp, und obwohl Tessa sich im sogenannten Dschungeltelefon über die Gesamtsituation beklagt und anscheinend deutlich macht, dass hier Grenzen für sie überschritten wurden, sind wir nun wieder im ganz normalen Rahmen des Spiels: Sie spricht mit jemandem, den wir weder sehen noch hören – alles unter Kontrolle. Big Brother hat die Scheiße im Griff.
Die Szenen davor wirkten tatsächlich für einen Moment, als hätte das Team die Kontrolle über eine Kandidatin verloren, und sei es nur, dass sie nicht ihr Interview geben wollte, wozu sie womöglich nach irgendwelchen Regeln verpflichtet ist; oder sei es nur, dass die Kamera gerade nicht auf die richtige Seite kommen konnte. Aber RTL nutzt diesen Kontrollverlust und spielt ihn nicht runter, sondern dramatisiert ihn – mit entsprechend aufregender Musik und wilden Kameraperspektiven. Es macht die Szene, die außerhalb des Spiels spielt, zum Teil des Spiels.
Auch der Kontrollverlust, der kurze Ausbruch, wird zum Teil der Inszenierung. Jedenfalls für die Dauer der Show selbst hat RTL die volle Kontrolle über das, was von dem Geschehen im Camp gezeigt wird. Die Szenen mit Tessa, die sich weigert, voller Exkremente, nass, frierend, auch noch Dinge in eine Kamera aufsagen zu müssen, lassen aber interessante Überlegungen zu, welche Macht die Teilnehmer an dieser Show haben, die immer auch ein Experiment am lebenden „Star“ ist. Die Mitarbeiter, die man hier erstmals sieht oder hört, sind in der aktuellen Situation erstaunlich machtlos. Sie sind darauf angewiesen, dass die Kandidaten mitspielen – auch jenseits dessen, was Teil des eigentlichen Spiels ist, wenn sie auf irgendein Kamerateam warten sollen, auf Anweisungen warten, idiotische Fragen beantworten, die im Zweifel nur dazu dienen, sie schlecht aussehen zu lassen.
Gleichzeitig zeigt es auch die Machtlosigkeit der Kandidaten: Sie haben keine Chance, der Inszenierung von RTL zu entkommen. Sie sind in jedem Fall das Material, aus dem der Sender Content macht.
Aber Tessa hat sich und uns für ein paar Minuten ihre Autonomie, ihre Handlungsfähigkeit gezeigt. Trotz der ganzen Scheiße.
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
Tippfehler im Text?: „ Die RTL-Show hatte immer schon ein besonderes Verhältnis zu sich selbst, hat sich regelmäßig ironisiert und die eigene Wirkung relektiert. “ relektiert = reflektiert (?)
@Jens: Ja, stimmt. Danke!
Lieber Stefan,
nur ne kleine Anmerkung, die ich an der Stelle seit Jahren immer wieder an möglichen Stellen im Netz mache: Hürth ist kein Stadtteil von Köln. Hürth ist Hürth, hat das Auto-Kennzeichen BM und nicht K.
Aber sonst ein sehr lesenswerter, bedenkenswerter Text.
@Christian Beisenherz: Oha. Sorry, ist korrigiert!
Oder aber das ganze ist von vorne bis hinten durchgeplant. Also es hat jemand auf die Quoten geschaut und gedacht „Wir brauchen mehr“, ist aber nicht bei mehr Exkrementartigem stehen geblieben sondern hat sich gedacht, „Wenn wir einen solchen „Skandal“ inszenieren bringt uns das Aufmerksamkeit und Quote. Wenn wir die Leute nur mit Dreck bewerfen (wortwörtlich) fällt das doch schon keinem mehr auf!“
@Daarin: Joa. Ich kann das nicht ausschließen. Aber ich halte das für extrem extrem unwahrscheinlich. Warum sollte man sowas faken? Es ist doch plausibel, dass das genau so passiert ist.
Die Menge an Dreck, die über die Kandidaten gekübelt wurde, war un-fucking-fassbar groß. Ich bin nicht sicher, ob sie größer war, als in den vorherigen Staffel, oder ob sie uns nur mehr davon gezeigt haben. Ich fand bemerkenswert, wie abgeklärt die beiden das über sich ergehen ließen. Selbst Cosimo, der anfangs ja super-rumgezickt hat (zurecht), war eins mit der Scheiße, die spritzte, sprotzte und in unendlichen Mengen und dickem Strahl über sie lief.
Die Protagonisten haben m.E. definitiv nicht so reagiert, wie man dass sich beim RTL vorgestellt hat. Wenn man bei (auf dem Sofa sitzend als vermeintlich einfache) Aufgaben so verknackt wie die zwei, mit jeder denkbaren Scheiße getränkt wurde, dann macht einem wohl noch mehr Dreck einfach nichts mehr aus.
Ich fand das Durchbrechen der vierten Wand extrem professionell unprofessionell und hat meine Meinung über IBES bestärkt: wenn alle Fernsehsendungen mit so viel Liebe und Können gemacht würden, würde ich mehr TV gucken. Und die Musik…!
Besonders schön im Kontrast auch der Schweig-Streik von Tag 6, der die Machtlosigkeit dann doch wieder ganz gut unterstreicht.
Ich hab das Dschungel-Camp ja noch nie gesehen, hörte nur davon, dass die Bewohner Aufgaben mit viel Ungeziefer ect. erledigen müssen. Aber dieser Artikel hat mich wahrhaftig kräftig würgen lassen und mich in meinem Sehverhalten bestärkt.
#7
„…. wenn alle Fernsehsendungen mit so viel Liebe und Können gemacht würden, würde ich mehr TV gucken. Und die Musik…!…“
Kann doch wohl nur Ironie sein oder ???